Vor der Covid‑19-Pandemie galt die Europäische Union (EU) weder als Motor für globale Gesundheit noch als bedeutende Unterstützerin der Weltgesundheitsorganisation (WHO). 2010 verabschiedete der Rat der EU Schlussfolgerungen zur Rolle der Union im Bereich globaler Gesundheit; sie gerieten in Vergessenheit und wurden nie umfassend umgesetzt. Da einige EU-Mitgliedstaaten zu den besonders von der Pandemie betroffenen Ländern gehören, ist die EU verstärkt an multilateraler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der globalen Gesundheit interessiert. Drei Dinge könnten dafür hilfreich sein: eine Aufwertung ihres Status in der WHO, die Einrichtung eines Referats für globale Gesundheit im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) sowie eine Überarbeitung der formellen Beziehungen zwischen EU und WHO.
In der Pandemie zeigt sich eine Diskrepanz zwischen dem Narrativ der EU, für weltweiten Zugang zu Covid‑19-Impfstoffen einzutreten, und ihren Taten. Obwohl der Impfstoff als globales öffentliches Gut gepriesen wird, sicherten sich EU-Staaten frühzeitig Impfstoffdosen – entgegen der Empfehlung der WHO. Die Weigerung der EU, Patentgesetze zum Schutz kommerzieller Interessen von Pharmaunternehmen zu ändern, bedeutet eine Hürde für globale Solidarität. Eine neue globale Gesundheitsstrategie ist nötig, um diese und weitere Herausforderungen zu überwinden und die EU zu einer verlässlichen Partnerin für die WHO zu machen.
Globale Gesundheitspolitik als unterschätztes Politikfeld
Gemäß der europäischen Gesetzgebung entscheiden die EU-Mitgliedstaaten selbst über ihre jeweilige Politik zur öffentlichen Gesundheit. Die EU koordiniert und ergänzt die nationalen Gesundheitspolitiken. In den letzten Jahrzehnten fehlte es der auswärtsgerichteten Gesundheitspolitik der EU an Sichtbarkeit, obgleich die Union traditionell Multilateralismus befürwortet. Mit ihren im Jahr 2010 angenommenen Ratsschlussfolgerungen zur globalen Gesundheit verpflichtete sie sich zu einer umfassenden globalen Gesundheitspolitik – einschließlich der Unterstützung von WHO und Vereinten Nationen (VN) –, wobei der Fokus auf universelle Gesundheitsversorgung, Stärkung von Gesundheitssystemen sowie den »Health in all Policies«-Ansatz in allen EU-Außenpolitiken gelegt wurde. Die Ratsschlussfolgerungen erhielten jedoch nie ausreichende Unterstützung vonseiten der Gesundheits-, Entwicklungs- und Außenministerien der Mitgliedstaaten, da die EU im Bereich globaler Gesundheit in erster Linie als Entwicklungs- und nicht als strategische bzw. diplomatische Akteurin gesehen wurde. Vor Covid‑19 zählte das Thema globale Gesundheit nicht zu den Prioritäten auf der politischen Agenda Europas; Ausnahmen waren Antibiotikaresistenzen und digitale Gesundheit.
Covid-19: Weckruf für die EU im Bereich globaler Gesundheit?
Während sich zu Beginn der Covid‑19-Pandemie die Mitgliedstaaten auf ihre nationale Reaktion konzentrierten, hatte die EU Schwierigkeiten, eine gemeinsame Antwort zu finden. Als Exportbeschränkungen für Schutzausrüstung wie Masken eingeführt wurden, geriet die europäische und internationale Zusammenarbeit ins Hintertreffen. Neben der fehlenden Kooperation verhinderten der Ressourcenmangel und die geringe Autorität des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) einen harmonisierten, evidenzbasierten Ansatz innerhalb Europas. Dies hielt das ECDC bereits vor der Pandemie davon ab, sich proaktiv im Bereich globaler Gesundheit zu engagieren.
Allmählich zeichnet sich ein »europäisierter« Ansatz ab, um die Reaktionsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitswesens in Europa sowie das multilaterale Engagement für globale Gesundheit zu erhöhen. In ihrer Rede zur Lage der Union forderte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im September eine europäische Gesundheitsunion und kündigte Pläne zur Stärkung des ECDC und der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) an. Ob die EU‑Kompetenzen im Gesundheitssektor erweitert werden, soll auf der Konferenz zur Zukunft Europas 2021 diskutiert werden. Ferner stellte von der Leyen die Gründung einer Europäischen Behörde für fortgeschrittene biomedizinische Forschung und Entwicklung (EU BARDA) in Aussicht, um die Reaktion Europas auf grenzüberschreitende Bedrohungen zu verbessern.
Allerdings ist nicht klar, inwieweit die Mitgliedstaaten diese Bestrebungen mittragen. Den Vorschlag, den EU-Gesundheitshaushalt 2021–2027 auf 9,4 Milliarden Euro anzuheben, lehnten sie zunächst mehrheitlich ab, bevor sie sich auf ein Volumen von 5,1 Milliarden Euro geeinigt haben. Europäische Investitionen in Gesundheitssysteme und Monitoring können globale Ansprüche der EU glaubwürdiger machen, resiliente Gesundheitssysteme zu fördern und Krisen vorzusorgen. Haushaltslinien für globale Gesundheitspolitik als Teil der internationalen Politik wurden bisher weder eingeführt noch gestärkt, was die zukünftige Finanzierung der ambitionierten globalen Gesundheitspolitik der EU erschwert.
Im Februar 2020 näherten sich die Kommission und die EU-Mitgliedstaaten an, als sie beschlossen, die internationale Gesundheitsordnung durch finanzielle Mittel für die WHO zu stützen. Die WHO ist während der Pandemie der Knotenpunkt, was Informationen zur Ausbreitung sowie Gesundheitsschutzmaßnahmen angeht. Weil die US-Administration unter Donald Trump den Austritt ihres Landes aus der WHO angekündigt und Letztere beschuldigt hat, zu chinafreundlich zu sein, steigen die Erwartungen an die EU, die Lücken langfristig finanziell und politisch zu füllen. EU-Mitglieder wie Deutschland und Frankreich sind bereits eingesprungen: Deutschland sagte der WHO 500 Millionen Euro für 2020 zu, Frankreich verpflichtete sich zu weiteren 50 Millionen Euro für die WHO und zu 90 Millionen für eine zu gründende WHO Academy.
Die formale Kooperation zwischen der EU und der WHO
Die Beziehung zwischen der WHO und der EU basiert auf einem Briefwechsel aus dem Jahr 1972. WHO und EU kooperieren auf globaler, regionaler und nationaler Ebene. Für die Koordination unter den EU-Mitgliedstaaten, was WHO-Angelegenheiten betrifft, ist seit 2010 die EU-Delegation in Genf zuständig. Trotz anfänglicher Unsicherheiten in puncto Legitimität und Vertrauen ist die Delegation nun in der Lage, gemeinsame EU-Positionen zu Schlüsselthemen zu erarbeiten. Als Teil des EAD wird sie vom Generalsekretariat für Gesundheit und Ernährungssicherheit (GD SANTE) unterstützt. Die EU verfügt allerdings nur über einen Beobachterstatus innerhalb der WHO, da dieser alleinig Nationalstaaten beitreten können. Deshalb kann sich die Union an Sitzungen der Leitungsgremien nicht vollständig beteiligen. Bis dato hat die EU keine Versuche unternommen, daran etwas zu ändern. Doch angesichts der derzeitigen globalen Tendenz zum Rückzug vom Multilateralismus könnte sich ein Gelegenheitsfenster für die EU öffnen, ihren Status wie auch denjenigen anderer Regionalorganisationen zu verbessern.
Obwohl sie in verschiedenen Bereichen kooperieren und die EU in den WHO-Leitungsgremien Beobachterstatus hat, steht die Partnerschaft zwischen diesen beiden auf wackeligem Fundament und ist weniger klar als Partnerschaften der EU mit anderen VN-Institutionen. So hat die EU in der VN-Generalversammlung (UNGA) auf einen aufgewerteten Beobachterstatus gedrängt, der der Union das Recht gibt, sich frühzeitig in Debatten der UNGA zu äußern und zu Generaldebatten eingeladen zu werden. Darüber hinaus wird die WHO oft als Entwicklungsorganisation wahrgenommen, die Standards für die öffentliche Gesundheit außerhalb der EU setzt. Die Pandemie könnte dieses Verständnis aufbrechen. Von der WHO erarbeitete Empfehlungen gelten für alle Staaten weltweit und sind aktuell für von Covid‑19 heftig betroffene EU-Staaten besonders relevant.
Politische Unterstützung und mehr gemeinsame Aktivitäten könnten die Kooperation zwischen der EU und der WHO auf allen Ebenen stärken, mit existierenden Partnerschaftsmodellen als Grundlage (siehe Abbildung 1). Drei Aspekte sind in diesem Beziehungsgeflecht entscheidend: Erstens unterhält die Europäische Kommission abgesehen von WHO EURO keine formellen Partnerschaften mit anderen WHO-Regionalbüros. Neue Kooperationen können der EU ermöglichen, sich in der globalen Gesundheitsdiplomatie innerhalb und außerhalb der Region Europa zu engagieren. Zweitens scheint sich die Zusammenarbeit mit der WHO EURO in erster Linie auf europäische Fragen zu konzentrieren, was verständlich ist. Allerdings könnte sich die nächste programmatische Partnerschaft zwischen der WHO EURO und der Europäischen Kommission ebenso gut auf globale Prioritäten fokussieren, die für beide Parteien wichtig sind, wie zum Beispiel Projekte zu Umwelt und Gesundheit oder Geschlechtergerechtigkeit. Drittens könnten gemeinsame Lern- und Trainingseinheiten die von EU-Delegationen und WHO-Länderbüros geteilten Ziele sichtbarer machen; überdies könnten diese besser koordiniert und harmonisiert werden.
Die EU als geopolitische Akteurin in globaler Gesundheit
Laut ihrer Präsidentin von der Leyen möchte die EU-Kommission geopolitischer werden. Daraus könnte ein proaktiver und zunehmend instrumentaler Ansatz gegenüber multilateralen Organisationen folgen. Jedoch birgt eine solche Positionierung das Risiko, dass europäische Interessen in den Vordergrund gestellt werden. Bislang hat sich die EU in drei internationalen Foren zu einem gleichberechtigten Zugang zu Covid‑19-Impfstoffen, ‑Therapeutika und ‑Diagnostika bekannt.
Erstens organisierte die EU Anfang Mai 2020 eine internationale Geberkonferenz für die Entwicklung von Covid‑19-Impfstoffen, ‑Medikamenten und ‑Tests, der sich eine zweite anschloss. Diese Konferenzen können als zweischneidiges Schwert betrachtet werden: Einerseits unterstützten sie das Ziel der WHO, Impfstoffe, Therapeutika und Diagnostika als globale öffentliche Güter zu entwickeln – also als Güter, die allen gleichermaßen zugutekommen sollen. Von der Leyen zufolge sei es nicht beabsichtigt, sie ausschließlich unter den EU-Mitgliedstaaten zu verteilen, sondern sie weltweit für alle Menschen und zu erschwinglichen Preisen bereitzustellen. Andererseits positionierten die Konferenzen die Europäische Kommission und die EU als führende solidarische Kraft bei der Eindämmung von Covid‑19, wodurch die WHO als Koordinatorin internationaler Gesundheitsprioritäten in den Hintergrund trat.
Diese Geberkonferenzen der EU sind ein Beispiel für »schnellen Multilateralismus«. Offen bleibt jedoch, wie strukturell in die WHO investiert werden kann, um Multilateralismus in der globalen Gesundheitspolitik sowie die Gesundheit aller Menschen nachhaltig zu fördern.
Zweitens initiierte die EU auf der ersten virtuellen Weltgesundheitsversammlung (WHA) – dem höchsten Entscheidungsgremium der WHO-Mitgliedstaaten – eine Resolution zur Reaktion auf den Covid‑19-Ausbruch. Multilaterale Unterstützung für diese Resolution kam aus China, von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, aber nicht aus Russland, den Vereinigten Staaten oder Indien – obwohl in letztgenanntem Land ein großer pharmazeutischer Sektor angesiedelt ist. Die Resolution umfasst im Wesentlichen vier Punkte: die Forderung nach einer breiten Reaktion der VN; einen Aufruf an die WHO-Mitgliedstaaten, die Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations, IHR) zu respektieren als das international bindende Regelwerk zur Prävention und Erkennung von bzw. Reaktion auf Infektionskrankheiten; einen Aufruf an internationale Organisationen, einen freiwilligen Patentpool für die Entwicklung eines Covid‑19-Impfstoffes aufzubauen, um einen kostengünstigen Zugang für alle zu garantieren; schließlich die Forderung an die WHO, eine unparteiische, unabhängige und umfassende Bewertung der koordinierten internationalen gesundheitspolitischen Reaktionen auf Covid‑19 vorzunehmen.
Drittens richteten die WHO und die Europäische Kommission gemeinsam den Rat für den Access to Covid‑19 Tools Accelerator (ACT‑A) aus. Dieses Instrument soll durch globale Zusammenarbeit Entwicklung, Produktion und gleichberechtigten Zugang zu Covid‑19-Tests, ‑Medikamenten und ‑Impfstoffen beschleunigen. Zum ACT‑A gehört auch die Covid‑19 Vaccines Global Access (COVAX) Facility. Als Multi-Akteurs-Plattform soll sie zentrale strategische, politische und finanzielle Fragen bei der Entwicklung neuer Covid‑19 Impfstoffe koordinieren. Bisher haben über 180 WHO-Mitgliedstaaten ihre Beteiligung zugesagt. Allerdings können parallele bilaterale Initiativen den Bemühungen von COVAX zuwiderlaufen: Zum Beispiel hat die EU mit einigen Pharma- und Biotechnologieunternehmen Vorkaufsrechte und Abnahmegarantien (Advanced Market Commitments, AMCs) verhandelt, um sich genügend Impfstoffdosen für die eigene Bevölkerung zu sichern – dies verhindert, dass die Impfstoffe für alle Länder bezahlbar und in ausreichender Menge verfügbar sind. Nachdem die EU ihren Mitgliedern anfänglich dazu riet, keine Impfstoffe über COVAX zu kaufen, ist sie nun bereit, sich finanziell an COVAX zu beteiligen.
Die Welthandelsorganisation als Bühne für globale Gesundheit
Die Vergütung von Arzneimitteln wird durch das internationale Patentrecht geregelt. Die globale und zeitgleiche Nachfrage nach Covid‑19-Diagnostika, ‑Impfstoffen und ‑Therapeutika ist aber so hoch, dass konventionelle Patentlizenzen die schnelle Entwicklung und Massenproduktion erschweren könnten, wodurch sich der Zugang zu einem Impfstoff und dessen Verteilung möglicherweise verzögern. Laut der oben genannten WHO-Resolution soll diese Herausforderung mithilfe eines »Covid‑19 Technology Access Pool«, basierend auf Best Practices, gemeistert werden. Ein Beispiel hierfür wäre der von Unitaid eingerichtete und unterstützte Patentpool für Arzneimittel.
Der Teufel steckt indes im Detail: Die Umsetzung eines Patentpools erfordert Flexibilitäten der international anerkannten handelsbezogenen Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) durch die EU und ihre Mitgliedstaaten. Diese Flexibilitäten werden nicht in der WHO diskutiert, sondern im TRIPS-Rat der Welthandelsorganisation (WTO). Dort drängen Südafrika und Indien auf eine Resolution mit dem Ziel vereinfachter Anforderungen für TRIPS‑Flexibilitäten, einschließlich verpflichtender Lizenzen für Covid‑19-Diagnostika, ‑Therapeutika und ‑Impfstoffe. Dadurch soll der Zugang zu diesen Arzneimitteln als globales öffentliches Gut ebenso Ländern mit niedrigem Einkommen rechtlich garantiert werden. Die Vergabe solcher Lizenzen für medizinische Produkte könnte den Zugang zu wichtigen Technologien sichern. Länder mit großer Pharmaproduktion, unter anderem EU-Mitglieder, bevorzugen jedoch die freiwillige Lizenzvergabe und betonen, das derzeitige marktbasierte System reiche aus, dass auch Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen versorgt würden.
Zu beobachten ist ein scheinbarer Widerspruch: Auf der einen Seite steht das Narrativ der EU, den Zugang zu Impfstoffen weltweit zu gewährleisten, auf der anderen Seite die kommerziellen Interessen ihrer Mitgliedstaaten sowie der politische Wille zum Patentschutz. Die EU-Staaten befürchten, eine Aufhebung der Patentbeschränkungen könnte einen Präzedenzfall für andere Impfstoffe und Medikamente schaffen. Daher ziehen sie es vor, die Kontrolle über die Lizenzierung neuer medizinischer Produkte zu behalten. In der Theorie könnte dies zwar einen globalen Zugang ermöglichen, aber bisherige internationale Erfahrungen zum Zugang zu Medikamenten für andere Erkrankungen wie HIV/AIDS und Hepatitis C deuten nicht darauf hin. Das heißt, die Covid‑19-Pandemie könnte ein Anstoß zur Reform der TRIPS-Flexibilitäten sein. Davon könnte die EU aus wirtschaftlicher und gesundheitspolitischer Sicht langfristig profitieren.
Auf dem Weg zur WHO-Reform
Die Pandemie hat allen vor Augen geführt, dass die WHO mehr denn je gebraucht wird. Deutschland, Frankreich, die USA und weitere Staaten haben Diskussionen zur Reformierung der WHO begonnen, um deren gegenwärtige Struktur zu modifizieren. Lange war freilich unklar, welchen Weg dorthin die Kommission und die EU-Mitgliedstaaten einschlagen würden. Indem die EU intensiver mit der WHO zusammenarbeitet, könnte sie nicht nur schneller ihre Position zur Reform finden, sondern auch der WHO-Reformprozess selbst könnte beschleunigt werden. Ein von Deutschland und Frankreich vorgelegtes Non-Paper mündete in Schlussfolgerungen des EU-Rats zur Stärkung der WHO; sie zeigen die Bereitschaft der Union, die internationale Debatte mitzuprägen. Obwohl Fragen zur Aufwertung der WHO-Regionalbüros und der normsetzenden Funktion der WHO in den Schlussfolgerungen angerissen werden, verfolgt die EU mit ihren Plänen für eine Europäische Gesundheitsunion teilweise gegenläufige Interessen. So schlug die Kommission vor, einen europäischen Mechanismus zur Ausrufung einer gesundheitlichen Notlage einzurichten. Auch wenn er mit der WHO abgestimmt werden soll, birgt er die Gefahr, die normsetzende Rolle der WHO zu unterwandern.
Jüngst hat der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, einen »Treaty on Pandemics« ins Gespräch gebracht, der die EU in der globalen Gesundheitspolitik als Agenda-Setter etablieren will, gleichzeitig jedoch die bindenden IHR der WHO-Mitgliedstaaten zum Teil doppeln würde. Regulatorische Bestrebungen zur Kontrolle von Infektionskrankheiten sollten innerhalb der WHO verbleiben. Jedes neue Instrument außerhalb der WHO schwächt diese, umso mehr als selbst bei Aushandlungen innerhalb der WHO-Institutionen Doppelstrukturen zu den IHR entstehen.
Zukünftige Optionen für die EU im Bereich globaler Gesundheit
Um eine zuverlässige Partnerin für die WHO zu werden, kann die EU ihre Kapazitäten in fünf Bereichen ausbauen.
Erstens kann die EU ihre Ratsschlussfolgerungen zur globalen Gesundheit aktualisieren. Eine neue, kohärente globale Gesundheitsstrategie sollte sich darauf konzentrieren, resiliente Gesundheitssysteme zu fördern, die auf externe Schocks wie Gesundheitsrisiken und die Folgen des Klimawandels vorbereitet sind. Sie sollte eine breite, stärker geopolitische und europäische Perspektive bieten. Elemente wie die Werte der Union (Zugang zu Gesundheit, Gleichheit, Demokratie, Rechenschaftspflicht), die Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDGs) der VN und der »Health in All Policies«-Ansatz sollten darin Eingang finden. Ferner kann sie an eine bessere Umsetzung der IHR sowie eine strategische Autonomie der EU in Bezug auf medizinische Produkte und Medikamente appellieren.
Neue Ratsschlussfolgerungen sollten durch einen konkreten Fahrplan und Überprüfungsmechanismen ergänzt werden, um Effektivität und Transparenz sicherzustellen. Unabdingbar ist, dass sie von Akteuren der Gesundheits-, Entwicklungs- und Außenpolitik der EU-Mitgliedstaaten und ‑Institutionen entwickelt werden. Ohne deren Beteiligung könnte die Neuauflage nach der Covid‑19-Pandemie in Vergessenheit geraten, genauso wie die Ratsschlussfolgerungen von 2010.
Zweitens muss die EU strategische Kapazitäten für globale Gesundheit innerhalb der EU-Institutionen und über verschiedene Sektoren hinweg aufbauen – einschließlich Handel, Energie und des Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik –, ausgestattet mit einem klaren Mandat und soliden finanziellen Mitteln für globale Gesundheit. Innerhalb des EAD wäre daher eine strategische Einheit mit finanziellen, personellen und thematischen Ressourcen angebracht – mit dem Mandat, mehrere Direktionen in Fragen globaler Gesundheit zu koordinieren. Ein Kommissar sollte gegenüber dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat und den einzelnen Mitgliedstaaten die Verantwortlichkeit für globale Gesundheit tragen. Dies könnte entweder der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik oder die Kommissarin für Gesundheit sein. Das Referat im EAD müsste mit Expertinnen und Experten der GD SANTE zusammenarbeiten und könnte strategischer mit der WHO und anderen multilateralen Partnern kooperieren. Des Weiteren könnte es die Funktion globaler Gesundheitsdiplomatie erfüllen, indem es sich regelmäßig mit EU-Delegationen austauscht.
Drittens könnte die EU ihre Gesundheitskompetenzen innereuropäisch erweitern, um sich außereuropäisch stärker zu präsentieren. Eine Union, die innereuropäisch kooperiert und in Krisenzeiten nicht primär mit der eigenen Koordinierung beschäftigt ist, kann auch international schneller und geschlossener handeln. Ergänzend zu Initiativen unter dem 5,1 Milliarden Euro umfassenden EU4Health-Programm könnte das ECDC gestärkt werden. Für eine prominentere globale Rolle benötigt es ein weitreichenderes Mandat in der globalen Gesundheitspolitik; Letzteres muss breiter angelegt sein, als der bisherige Kommissionsvorschlag vorsieht. Zudem muss die EU hinsichtlich medizinischer Versorgung strategisch autonomer werden, doch darf dies nicht zu Lasten der globalen Solidarität gehen.
Viertens hat die Covid‑19-Pandemie gezeigt, dass EU-Mitgliedstaaten kohärenter und in Abstimmung mit EU-Institutionen sowie im Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren agieren sollten, um Doppelungen und widersprüchliche nationale und globale Gesundheitspolitiken zu vermeiden. Deshalb braucht es Raum für Kommunikation, Koordination und Zusammenarbeit zwischen den EU-Institutionen, den Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament und Akteuren der Zivilgesellschaft. So können die EU und ihre Mitglieder innerhalb internationaler Partnerschaften geeinter auftreten, etwa der WHO. Das Forum für globale Gesundheitspolitik der EU könnte zu diesem Zweck wiederbelebt und aufgewertet werden, indem seine Funktionen ausgeweitet und die Mitgliedschaft auf Rat, Parlament, EAD und zivilgesellschaftliche Akteure ausgedehnt wird.
Schließlich muss die EU ein strategisches Budget für globale Gesundheit aufstellen, um die finanzielle Unterstützung für eine ehrgeizige Agenda zu sichern. Die verschiedenen Haushaltskanäle, die globale Gesundheitspolitik (mit-)finanzieren, sollten harmonisiert oder zumindest zusammengetragen werden. Dies würde einen Überblick über die europäischen Finanzmittel für globale Gesundheit bieten, für Transparenz sorgen und bei der strategischen Entscheidungsfindung helfen, welche Partnerschaften künftig gefördert werden könnten.
Empfehlungen
Für eine vertiefte Zusammenarbeit mit der WHO könnte die EU ihr Engagement auf folgenden Gebieten erweitern:
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Den EU-Status in der WHO aufwerten: Die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten sollten gemeinsam eine Aufwertung des EU-Status innerhalb der WHO anstreben, um die Sichtbarkeit der EU als einflussreiche und einheitlich auftretende Akteurin zu erhöhen. Dies könnte entweder durch eine Resolution, ein Sonderabkommen oder durch eine Stärkung der WHO-Vertretung bei der EU in Brüssel geschehen, die nicht nur an einem europäischen, sondern bereits an einem globalen Mandat arbeitet. Ein erster Schritt wäre, die Partnerschaft mit einem Memorandum of Understanding zu festigen. Mehr und gut koordinierter Austausch zwischen hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern der WHO, der Kommission und dem EAD wäre wichtig. Außerdem könnte die Teilnahme von Vertreterinnen und Vertretern aus EU-Mitgliedstaaten erwogen werden.
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Die Zusammenarbeit zwischen EU und WHO-Regionalbüros ausweiten: Ein Plan für die zukünftige Partnerschaft zwischen der WHO EURO und der Europäischen Kommission ist derzeit in Arbeit. Neue Prioritäten und Programme, sowohl für Europa als auch weltweite, sollten entlang der SDGs abgestimmt werden. Im Einklang mit den Zielen des Green Deal der EU könnten gemeinsame Projekte mit der WHO zur Förderung von Umwelt und Gesundheit gleichermaßen den Weg ebnen für bisher nicht genutzte Felder der Zusammenarbeit. Ein Überprüfungsmechanismus für den neuen Fünfjahresplan ist der Schlüssel für eine nachhaltige Umsetzung. Wenn die EU formelle Beziehungen zu Regionalbüros außerhalb Europas, wie zur WHO AFRO, aufnimmt, würden ihre Bemühungen auf Regional- und Länderebene in einen strategischen Ansatz eingeordnet.
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Das WHO-Budget erhöhen: Die Finanzierung der WHO wird hauptsächlich von den Interessen einzelner staatlicher Geber bestimmt, sodass die WHO von den 15 größten Spendern abhängig ist, die mehr als 80 Prozent aller freiwilligen Beiträge leisten. Eine Erhöhung der Pflichtbeiträge, wie viele Expertinnen und Experten sowie Regierungen sie fordern, ist notwendig, um die Handlungsfähigkeit der WHO in ihren Kernaufgaben zu gewährleisten. Die EU sollte sich einsetzen für eine nachhaltige Finanzierung und Reform der WHO, darüber hinaus für die Wahrung ihrer Autonomie und der Legitimität der Organisation.
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Die WHO-Empfehlungen und die Ergebnisse des Independent Panel for Pandemic Preparedness and Response (IPPPR) berücksichtigen: Dass WHO-Normen und ‑Standards sowohl im eigenen Land als auch im internationalen Gefüge angewandt werden, zeigt ein hohes Maß an politischer Unterstützung für die WHO. Damit Erstere erhalten bleibt, braucht es finanzielle Hilfen und Engagement der EU und ihrer Mitgliedstaaten, unter anderem für die COVAX Facility. Auf Grundlage der WHA-Resolution hat die WHO das IPPPR eingerichtet, das die globale Reaktion auf Covid‑19 begutachten soll. Die EU und ihre Mitglieder unterstützen diese Initiative nachdrücklich, die gegebenenfalls einige der geopolitischen Spannungen im Zusammenhang mit der globalen Kontrolle der Covid‑19-Pandemie indirekt entschärfen kann. Im November 2020 hat das IPPPR der WHA einen Zwischenbericht vorgelegt; der Abschlussbericht folgt im Mai 2021. Die europäischen Länder sollten die Ergebnisse der unabhängigen Evaluierung angemessen berücksichtigen.
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WHO-Reformdebatten mitprägen: Die EU sollte den Ehrgeiz haben, die multilateralen globalen Gesundheitsstrukturen umzugestalten und die WHO dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Sie sollte in einem institutionellen und rechtmäßigen WHO-Reformprozess, der vor der Covid‑19-Pandemie langsam und ineffektiv verlief, eine führende Stimme übernehmen.
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Eine neue globale Gesundheitsstrategie der EU entwickeln: Eine solche globale Gesundheitsstrategie muss sich mit der WHO-Reform befassen und von Akteuren aus den Sektoren Gesundheit, Forschung, Entwicklung und Außenpolitik der EU-Institutionen sowie von den einzelnen EU-Staaten mitgetragen werden. Sie sollte Fragen der Daseinsberechtigung der WHO klären, ihrer Organisationsstruktur und Schwerpunkte, ihrer Unabhängigkeit bei Ausbrüchen von Infektionskrankheiten. Ferner sollte sie ein Gleichgewicht herstellen zwischen dem Anliegen der EU, multilaterale Vereinbarungen aufrechtzuerhalten, und ihrem Anspruch, strategisch autonomer zu werden.
Eine erneuerte Partnerschaft zwischen der EU und der WHO ist – trotz nationalstaatlicher Tendenzen und geopolitischer Spannungen – ein Hoffnungsschimmer. Die EU sollte diese Chance ergreifen, jedoch die WHO dabei nicht in den Schatten stellen. Kollektive Anstrengungen sind gefragter denn je, um globale öffentliche Güter zu sichern und die internationale Gesundheitsordnung zu bewahren und weiterzuentwickeln.
Susan Bergner und Maike Voss sind Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Sie arbeiten im Projekt »Globale Gesundheit«, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert wird. Remco van de Pas ist Arzt für öffentliche Gesundheit und Forscher zu globaler Gesundheit. Er ist Research Fellow am Institut für Tropenmedizin in Antwerpen und Research Associate am Clingendael-Institut. Louise van Schaik ist Leiterin der Abteilung »EU & Global Affairs« am Clingendael-Institut.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A105
(Aktualisierte deutsche Übersetzung von SWP Comment 47/2020)