Nach der belarussischen Präsidentschaftswahl mit umstrittenem Ausgang hält Moskau zu Lukaschenka. Wie bewerten russische Akteure die Situation in Belarus? Und wie wird die russische Führung reagieren? Antworten von Sabine Fischer.
In Moskau blickt man in diesen Tagen gebannt auf Belarus. Für alle Seiten stehen die Entwicklungen dort in unmittelbarem Zusammenhang mit der politischen Situation im eigenen Land. Denn die russische und die belarussische Politik sind aufs engste miteinander verquickt.
Formal bilden die beiden Länder einen Unionsstaat sowie eine Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft. Belarus gilt als engster Verbündeter Moskaus und als wichtige Stütze der Politik Russlands in seiner Nachbarschaft. Faktisch subventioniert und finanziert Russland seit über zwei Jahrzehnten Belarus‘ Wirtschaft und Staat. Das ist mittlerweile ein hoher Preis für eine komplizierte Beziehung: Lukaschenka widersetzte sich immer wieder erfolgreich russischen Versuchen, die Integration mit Belarus zu vertiefen. In den vergangenen Jahren wurde die Führung eines gemeinsamen Staates in Moskau als Option gehandelt, Wladimir Putin auch nach den russischen Präsidentschaftswahlen 2024 die Macht zu sichern. Lukaschenka zeigte sich unwillig und suchte, wie immer in Momenten der Spannung mit Moskau, die Annäherung an die EU. Die Reform der russischen Verfassung, die Putin zwei weitere Amtszeiten einräumt, ließ diese Variante wieder in den Hintergrund rücken.
Trotz der wachsenden politischen Distanz entzieht Moskau Lukaschenka auch angesichts der jüngsten innenpolitischen Turbulenzen in Belarus nicht die Unterstützung. Laut offiziellen Hochrechnungen erhielt der Amtsinhaber am vergangenen Sonntag 80 Prozent der Stimmen. Swjatlana Zichanouskaja, Kandidatin der vereinigten Opposition, sprach die Zentrale Wahlkommission zehn Prozent zu. Oppositionelle Nachwahlbefragungen sprechen eine andere Sprache: einige ergaben genau umgekehrte Stimmenverhältnisse. Seit der Veröffentlichung der Wahlergebnisse wird das Land von Massendemonstrationen und dem gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte erschüttert. Präsident Putin gratulierte Lukaschenka erwartungsgemäß dennoch am Montagvormittag zur angeblich gewonnenen Wahl.
Dass im russischen politischen Diskurs so intensiv an den Entwicklungen in Belarus Anteil genommen wird, zeigt den nach wie vor herrschenden post-imperialen Mangel an Distanz zu den souveränen Nachbarstaaten. Die russische Debatte vermittelt häufig den Eindruck, als gäbe es keine Grenze zwischen Russland und Belarus, ganz ähnlich wie nach den ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2019. Die Anteilnahme liegt auch in der Artverwandtschaft der politischen Systeme begründet. In beiden Fällen handelt es sich um alternde Autokratien, die immer weniger Kontakt mit den von ihnen beherrschten Gesellschaften haben und deren Legitimationsressourcen rapide schwinden. Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise beschleunigt diese Prozesse in beiden Staaten spürbar.
Die russischen Staatsmedien versuchen, die Bedeutung der Ereignisse herunterzuspielen und verbreiten eine rein geopolitische Interpretation: Die Protestierenden sind demnach eine von feindlichen westlichen Akteuren gesteuerte Minderheit. Ohne die westliche Unterstützung gäbe es sie nicht. Diese westliche Politik ziele darauf, russischen Einfluss in der Region zurückzudrängen und, in letzter Konsequenz, einen Regimewechsel in Russland herbeizuführen. Es gehe also nicht um Freiheit, sondern um geopolitische Rivalität. Damit wird das Geschehen in Minsk nach dem Euromaidan in der Ukraine 2014 und den Farbrevolutionen der frühen 2000er zu einem weiteren Element einer langen Kette westlicher Verschwörungen gegen Russland. Die belarussische Gesellschaft gerät dabei völlig aus dem Blick.
Die unabhängigen Medien hingegen konzentrieren sich auf das innenpolitische Geschehen und auf den Legimitationsverlust des belarussischen Machthabers in der Gesellschaft. Man bemüht sich darum, ein realistisches Bild der Situation zu zeichnen. Belarus wird außerdem als eine Art Labor für die politische Zukunft Russlands betrachtet. So wird dieser Tage häufig der Vergleich mit den andauernden Protesten im russischen Chabarowsk gezogen und die Frage gestellt, ob Minsk 2020 Moskau 2024 sei.
Außenpolitikexperten in Moskau gehen davon aus, dass Zichanouskaja nicht auf westliche Unterstützung zählen kann: Die EU sei gespalten, durch Corona geschwächt und auf sich selbst zurückgeworfen, die USA sowieso unfähig zu gezieltem außenpolitischem Handeln. Das Regime werde deshalb den Sturm überstehen, aber schwächer aus ihm hervorgehen – was wiederum die Abhängigkeit Lukaschenkas von Moskau verstärken werde. Viele staatsnahe und regimekritischere Außenpolitikexperten treffen sich in der Überzeugung, dass Russland am Ende von den Entwicklungen in Minsk profitieren werde, ohne selbst politische oder militärische Maßnahmen ergreifen zu müssen.
Ob diese Annahme richtig ist, werden die kommenden Tage zeigen. Zwar entspricht das belarussische Regime nicht mehr den Lebensrealitäten der belarussischen Gesellschaft. Es hat jedoch so lange gute Überlebenschancen, wie der Staatsapparat zu Lukaschenka steht und Russland seine Unterstützung aufrechterhält. Sollten sich die Unruhen ausweiten und das Land tatsächlich lahmlegen, kann ein Eingreifen Moskaus nicht ausgeschlossen werden. Die Kosten wären angesichts von Pandemie und Wirtschaftskrise enorm. Darüber hinaus könnte eine Intervention dem Kreml angesichts eigener Legitimationsprobleme auch innenpolitisch schaden. Moskau würde andererseits nicht zum ersten Mal Geopolitik und Großmachtprestige über wirtschaftliche und politische Rationalität stellen. Und nach wie vor fehlt den Herrschenden der Blick für die Gesellschaft – im eigenen Land wie in Belarus.
Die EU kann an den massiven Wahlfälschungen und dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen unbewaffnete Demonstrierende nicht vorbeisehen. Sie sollte die Forderung nach Neuwahlen unterstützen, Vermittlungsangebote machen und zu weiteren Sanktionen greifen, wenn das Regime bei seiner jetzigen Haltung bleibt – dabei aber alles tun, um den Kontakt zur belarussischen Gesellschaft nicht zu verlieren. Mit Moskau sollte klar kommuniziert werden, über mögliche Lösungen ebenso wie über die Kosten einer Intervention. Die Furcht vor der Auseinandersetzung ist gegenstandslos: Die EU befindet sich längst in einem Konflikt mit Russland.