Yaşar Aydın
Syrien steht nach dem Sturz des Assad-Regimes vor einem Neuanfang. Die Bundesregierung sollte die Transformation Syriens in enger Zusammenarbeit mit der Türkei unterstützen, um die Stabilisierung des Landes zu gewährleisten und die Gefahr geopolitischer Rivalitäten zu minimieren, meint Yaşar Aydin.
Die Türkei spielt eine zentrale Rolle bei der Neuordnung Syriens nach dem Sturz des Assad-Regimes. Während andere externe Akteure wie Russland und Iran an Einfluss verlieren, bleibt die Position Ankaras von Unsicherheit geprägt. Einerseits verfolgt die türkische Regierung das Ziel, Stabilität in der Region zu schaffen, andererseits sieht sie sich mit potenziellen Konflikten mit anderen Mächten wie Israel oder den kurdischen Milizen konfrontiert. In diesem komplexen geopolitischen Umfeld stellt sich die Frage, ob sich ein neues Gleichgewicht herausbilden wird oder Syrien in einem anhaltenden Chaos versinkt.
Syrien steht vor einer gewaltigen Aufgabe: Die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Neuordnung des Landes ist unerlässlich, doch die Ausgangslage ist prekär. Die Wirtschaft liegt am Boden, weite Teile Syriens sind zerstört, und ein Großteil der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Hinzu kommen die US- und EU-Sanktionen, die eine wirtschaftliche Erholung erschweren.
Vor diesem Hintergrund gewinnen diplomatische Kooperationen an Bedeutung. Deutschland und die Türkei haben ein gemeinsames Interesse an der Stabilisierung Syriens und der Region, sowohl aus geopolitischen als auch aus humanitären Gründen. Unmittelbar nach der Machtergreifung der Miliz Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) ist Außenministerin Annalena Baerbock zunächst nach Ankara gereist, bevor sie Damaskus besuchte. Sie forderte die Entwaffnung der kurdischen YPG-Milizen und sprach sich für den Erhalt der territorialen Integrität Syriens aus, während das Auswärtige Amt einen 8-Punkte-Plan für Frieden in Syrien herausgab. Die Verlautbarungen aus Berlin und Ankara weisen eine erstaunliche inhaltliche Synchronität auf.
Ankara und Berlin streben einen friedlichen und geordneten Machtübergang an und wollen sich an der Neuordnung sowie dem Wiederaufbau Syriens beteiligen. Sie wollen Abwanderungsbewegungen eindämmen und syrische Bürgerkriegsflüchtlinge zur sicheren Rückkehr ermutigen. Gemeinsame humanitäre Hilfs- und Wiederaufbauprojekte zur Wiedereingliederung von Rückkehrern wären ein erstes Kooperationsfeld. Ein weiteres wären Wiederaufbauhilfe für die syrischen Streitkräfte, die Entwaffnung von Milizen sowie die Sicherung und Vernichtung von Chemiewaffen. Deutschland hat sich beim EU-Außenministertreffen für eine Lockerung der EU-Sanktionen eingesetzt und könnte auf eine vollständige Aufhebung der Sanktionen hinwirken, um die Übergangsregierung zu stärken und sie zur Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge zu bewegen.
Auch geopolitisch sollten Berlin und Ankara in der Region an einem Strang ziehen. Beide Staaten haben ein Interesse daran, iranische Hegemonialbestrebungen, insbesondere in Syrien, zurückzudrängen und auf eine ausgewogene Position gegenüber China zu achten, das zuletzt mit seinen Vermittlungsbemühungen zwischen Iran und Saudi-Arabien seinen Einfluss geltend gemacht hat.
Für die Stabilisierung der Region ist auch eine Deeskalation der israelischen Militäroperationen unerlässlich. Hier könnten Ankara und Berlin gemeinsam mit der EU Einfluss nehmen. Denn trotz bestehender Differenzen, etwa im Umgang mit der Hamas, gibt es auch hier diplomatische Schnittmengen. So liegen Deutschland und die Türkei etwa in der Frage einer Zwei-Staaten-Lösung für Israel und die Palästinenser auf einer Linie. Eine längere israelische Besatzung in Syrien würde die Bevölkerung verprellen und HTS zu einer antiisraelischen Agenda drängen. Das Auswärtige Amt hat Israel bereits aufgefordert, keine Siedlungen auf syrischem Gebiet zu errichten und seine Position bekräftigt, dass die Golanhöhen völkerrechtlich zu Syrien gehören.
Die Türkei verfolgt in Syrien ein doppeltes Interesse: Neben der Stabilisierung des Landes will sie die kurdischen Autonomiebestrebungen bekämpfen. Letzteres könnte zu einem Dissens mit Deutschland führen, der jedoch durch die Vermittlung Berlins zwischen Ankara und den von der YPG geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) überbrückt werden könnte. Berlin führt bereits Gespräche mit der YPG – in Abstimmung mit Ankara. Bei einem Besuch des syrischen Machthabers Al-Scharaa in Ankara hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine engere Zusammenarbeit im Kampf gegen die Terrormiliz IS und kurdische Milizen im Nordosten Syriens angeboten.
Eine politische Stabilisierung Syriens durch einen Interessenausgleich zwischen Ankara und der YPG in Syrien eröffnet auch Chancen für eine Beilegung des bewaffneten Konflikts der Türkei mit der PKK. Die Vorteile für die Türkei lägen auf der Hand: eine erneute wirtschaftliche Verflechtung mit Syrien, Wachstumsdynamik in beiden Ländern und die Aussicht auf eine tiefere regionale wirtschaftliche Integration. Für Deutschland ergäben sich Chancen für eine entwicklungsorientierte Rückkehrpolitik und einen Imagegewinn in der arabisch-muslimischen Welt.
Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS).