Der Präsident der UN-Generalversammlung hat Deutschlands Botschafterin und Namibias Botschafter zu Verhandlungsführern für den »Summit of the Future« ernannt. Dieser für September 2024 geplante Reformgipfel soll die UN und mithin Strukturen des Weltregierens besser für alte und neue Herausforderungen aufstellen. Dazu zählt, die Umsetzung der internationalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) bis 2030 voranzubringen. Wegen der angespannten Weltlage ist dies kein leichtes Unterfangen. Wichtig ist jetzt, den Prozess gut aufzugleisen, um Unterstützung zu gewinnen sowie öffentliche Aufmerksamkeit für und Vertrauen in ihn zu schaffen.
Anlässlich des 75. Jubiläums der Vereinten Nationen im September 2020 hatten die Mitgliedstaaten UN-Generalsekretär António Guterres aufgefordert, einen Bericht zu verfassen, wie die in ihrer Politischen Erklärung dargestellte »gemeinsame Agenda« vorangebracht werden kann. Im September 2021 legte Guterres seinen Bericht vor, dessen Titel »Our Common Agenda« diesen Auftrag aufgreift.
Das Ziel ist, den Multilateralismus für aktuelle und künftige Probleme zu stärken, um globale Schocks und Krisen besser bewältigen und globale öffentliche Güter wirksamer schützen zu können. Dafür sollen die UN in die Lage versetzt werden, vernetzter und inklusiver zu agieren und eine zentrale Rolle in den Global-Governance-Strukturen zu spielen. Der Bericht enthält rund 90 Vorschläge. Einige setzt das UN-System bereits um, doch für die meisten bedarf es politischer und finanzieller Unterstützung der Mitgliedstaaten. Diese diskutierten seit Anfang 2022 in der UN-Generalversammlung über die Empfehlungen. Bis 2024 soll ein »Pakt für die Zukunft« geschlossen werden. Zwar dürfte er die UN kaum mit einem Schlag zum handlungsfähigen Manager multipler Krisen machen. Doch mit Hilfe kurz- und mittelfristig umsetzbarer Maßnahmen und längerfristiger Reformprozesse kann es gelingen, die multilaterale Institution weit besser als zuvor für die Krisenbearbeitung zu positionieren.
Heterogene Interessenlage
Die Blockade des UN-Sicherheitsrates bei der Reaktion auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine nährte Zweifel an der Wirkmächtigkeit der Weltorganisation. Dank den Abstimmungen in der Generalversammlung, den Evakuierungen aus Mariupol und vor allem der Schwarzmeerinitiative zu Getreideexporten haben die UN aber wieder mehr politische Bedeutung gewonnen. Es gelang dem UN-Generalsekretär, Expertise aus UN-System, Privatsektor und Zivilgesellschaft zu humanitären, entwicklungspolitischen und logistischen Fragen zu bündeln. Das ermöglichte die Übereinkunft zum Export von Getreide und Düngemitteln.
Genau diese Art vernetzte Reaktionsfähigkeit möchte Guterres gestärkt sehen. Aber nicht alle Mitgliedstaaten wollen den UN-Apparat und seine Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren ausbauen. Sowohl China als auch die Gruppe der 77 (G77) kritisierten derartige Vorstöße des Generalsekretärs als übereilt. Sie verweisen darauf, dass die UN eine zwischenstaatliche Organisation seien und daher Mitgliedstaaten das Sagen haben sollten. Gleichzeitig bekunden nicht wenige Entwicklungsländer Interesse an Reformen, allen voran die afrikanischen Staaten. Viele Mitgliedstaaten der G77 dringen auf Lösungen bei Entschuldung, Finanzgovernance und Entwicklungsfinanzierung. Der Veränderungswille reicht von der lang geforderten Aufwertung der UN in Wirtschafts- und Finanzfragen über konkrete Maßnahmen für besseren Zugang einkommensschwacher Länder zu dringend benötigten Finanzmitteln bis hin zu einer umfangreicheren Reform der internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen. Teils überschneidet sich dies mit der G7-Initiative, die Weltbank besser für globale Herausforderungen zu wappnen. Etliche Industrieländer hegen indes große Vorbehalte gegen mehr Kompetenzen der UN bei Wirtschaft und Finanzen.
Die Ausgangssituation für eine groß angelegte UN-Reform ist also alles andere als erfolgversprechend. Zwar wünschen sich viele Mitgliedstaaten Reformen. Aber es besteht wenig Einigkeit darüber, wie diese aussehen sollen.
Hohe Komplexität des Prozesses
Im Frühjahr 2022 fanden in der UN-Generalversammlung fünf Konsultationsrunden zu den Reformvorschlägen statt. Viele Mitgliedstaaten hatten noch Klärungsbedarf. Nur bei wenigen Themen signalisierte eine Mehrheit eindeutige Unterstützung – auch wenn das in der offiziellen Zusammenfassung positiver klingt. Und so konnten bislang nur die Verhandlungen zur Einrichtung eines UN-Jugendbüros (Youth Office) zum Abschluss gebracht werden.
Für das weitere Vorgehen wurde eine Modalitäten-Resolution verabschiedet, die den »Summit of the Future« als Zielpunkt für den Gesamtprozess setzt. Als Termin für den Gipfel wurde der 22./23. September 2024 festgesetzt. Auf Wunsch zahlreicher Entwicklungsländer wurde er um ein Jahr nach hinten verschoben.
Die deutsche UN-Botschafterin Antje Leendertse und Namibias Botschafter Neville Gertze führen nun die weiteren Verhandlungen zur Vorbereitung des Gipfels. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben wird sein, bis September 2023 jene Reformthemen zu identifizieren, die Teil des Zukunftspakts sein sollen. Anfang August 2022 teilte der UN-Generalsekretär mit, welche der sogenannten Verhandlungs-Tracks er für besonders wichtig hält. Er kündigte an, im ersten Halbjahr 2023 dazu jeweils ein Policy Brief vorzulegen.
Die bisherigen Tracks
Das Thema Meaningful Youth Engagement hat mit dem Beschluss zur Einrichtung des Jugendbüros bereits ein erstes Ergebnis. Hinsichtlich der geplanten Erklärung zu Future Generations gibt es ebenfalls schon einen zwischenstaatlichen Verhandlungsprozess. Zurzeit versuchen sich die Mitgliedstaaten auf erste Eckpunkte zu verständigen. Die Botschafterin der Niederlande und der Botschafter Fidschis haben dafür ein Elements Paper vorgelegt.
Weitere Zukunftsthemen stehen auf der Agenda. Der Track zum Global Digital Compact kann auf vorangehende Konsultationen zurückgreifen. Mit Hilfe der Ko-Fazilitatoren Ruanda und Schweden und unter der Ägide des neuen Technologiebeauftragten des Generalsekretärs könnten die Beratungen nun Fahrt aufnehmen. Geplant ist auch, in Zeiten von Fake News einen Verhaltenskodex für mehr Integrität öffentlicher Informationen zu verabschieden. Als weiteres Zukunftsthema sollen globale Regeln für eine friedliche, sichere und nachhaltige Nutzung von Outer Space auf den Weg gebracht werden.
Wie die vom UN-Generalsekretär vorgeschlagene New Agenda for Peace umgesetzt werden soll, scheint derzeit noch offen. Die Expertendebatte konzentriert sich darauf, dass sich klassische und neue Sicherheitsrisiken effektiver bearbeiten lassen und Prävention verbessert wird, auch unter Einbezug regionaler Partner. Das wird von der Afrikanischen Union begrüßt, die aber die Reform des Sicherheitsrates für mindestens ebenso wichtig hält.
Mit einigen Reformvorhaben befassen sich bislang vor allem Sekretariat und andere Einheiten der UN. Es gibt erste Vorarbeiten auf dem Weg hin zu einem neuen Standard für die Wohlstandsmessung (Beyond GDP). Der Generalsekretär führt Gespräche mit den internationalen Finanzinstitutionen (Reform IFIs) und plant einen ersten gemeinsamen Gipfel (Biennial Summit) zwischen der G20, dem Wirtschafts- und Sozialrat der UN (ECOSOC) und den IFIs. Zudem hat Guterres mit dem Vorgehen beim Getreide-Deal zwischen der Ukraine und Russland verdeutlicht, was er mit seiner Idee einer Notfallplattform anstrebt: keine neue Bürokratie, sondern wirksames und vernetztes Handeln unter Mitarbeit relevanter Stakeholder. Für weitere Vorschläge in diese Richtung hat er ein hochrangiges Beratergremium berufen (High-level Advisory Board on Effective Multilateralism). Es wird im Frühjahr 2023 seine Empfehlungen vorlegen, die konkret, ambitioniert und umsetzbar sein sollen.
In New York stehen Deutschland und Namibia vor der Herausforderung, für diese recht disparaten Reformvorhaben eine ehrgeizige und zugleich realistische Vision zu entwickeln. Möglichst viele Stimmen müssen gehört und Mehrheiten aufgebaut werden. Um über die typischen New Yorker Grabenkämpfe hinauszukommen, könnten Gespräche auch mit den Hauptstädten und mit plurilateralen Allianzen wie den G20 gesucht werden.
Narrativ mit den SDGs verbinden
Erste Ergebnisse der Bemühungen sollen am 18. September 2023 in New York bei einem Vorbereitungsgipfel auf Ministerebene präsentiert werden. Diese Zusammenkunft soll unmittelbar vor dem SDG-Gipfel stattfinden. Sowohl der Generalsekretär als auch viele Mitgliedstaaten wollen, dass beide Treffen inhaltlich eng miteinander verflochten werden und sich gegenseitig befördern.
Der SDG-Gipfel 2023
Beim SDG-Gipfel werden die Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, um erstens zu diskutieren, inwieweit die 2030-Agenda und die Ziele nachhaltiger Entwicklung bisher umgesetzt wurden (mid-term review). Schon 2022 zeichnete sich ab, dass ohne mehr Nachdruck und Tempo viele Ziele bis 2030 nicht zu erreichen sein werden. Hier voranzukommen ist die zweite Aufgabe des Gipfels. Der für April 2023 erwartete wissenschaftliche Weltnachhaltigkeitsbericht (Global Sustainable Development Report) wird Vorschläge dafür enthalten.
Der UN-Generalsekretär bezeichnet »Our Common Agenda« als Booster für die SDGs. Beim SDG-Gipfel könnten die Mitgliedstaaten festlegen, in welchen Bereichen sie vorangehen wollen (das Was), während sie beim Zukunftsgipfel die multilateralen Kapazitäten dafür stärken sollten (das Wie). Jenseits dessen ist das Verständnis, wie SDGs und UN-Reformen zusammenhängen, noch nicht sehr ausgeprägt. Die Verantwortlichen für beide Gipfel sollten gemeinsam ein überzeugendes Narrativ samt einer »theory of change« entwickeln. Nur dann kann man den Konsens zu den SDGs nutzen, um auch bei UN-Reformen Fortschritte zu erzielen. Ein Ort dafür kann unter anderem das Generalkomitee sein. Der Präsident der Generalversammlung, Csaba Kőrösi, hat es für sämtliche Mitgliedstaaten geöffnet, um die Prozesse zu allen existierenden Verhandlungsmandaten zu koordinieren.
Zivilgesellschaft einbeziehen
Kőrösi forderte die Ko-Fazilitatoren in seinem Ernennungsbrief auch dazu auf, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und weitere Stakeholder sinnvoll in den Vorbereitungsprozess einzubeziehen. Damit das gelingt, sollte frühzeitig eine Roadmap für das weitere Vorgehen auf dem Tisch liegen, in der dargelegt wird, wann welche Themen besprochen werden und wohin das führen soll. Die Diskussionen und Verhandlungen selbst sollten transparent sein und am besten über UN Web TV, dem Streaming-Portal der UN, übertragen werden. Dokumente und Stellungnahmen sollten auf der UN-Website zugänglich sein.
Teile der Zivilgesellschaft haben die Prozesse rund um das 75-jährige Bestehen der UN und »Our Common Agenda« intensiv begleitet. Manche ihrer Vorschläge wurden im Bericht aufgegriffen. Einige Gruppen vertreten weitreichendere Reformideen, etwa eine Überarbeitung der UN-Charta, die Einrichtung einer Parlamentarischen Versammlung der UN oder eines UN-Rates für nichtmilitärische Bedrohungen. Andere Teile der Zivilgesellschaft wiederum äußern heftige Kritik am sogenannten Multistakeholderismus des Berichts, denn er höhle den zwischenstaatlichen Multilateralismus aus und verschaffe privatwirtschaftlichen Akteuren zu viel Einfluss.
Alle Verantwortlichen sollten früh in Informationsarbeit investieren, um Befürchtungen zu entkräften, Enttäuschungen zu vermeiden und eine möglichst breite Koalition für UN-Reformen aufzubauen.
Chance für eine proaktivere und kohärentere deutsche UN-Politik
Deutschland rückt nun ins New Yorker Rampenlicht. Im 50. Jahr seiner UN-Mitgliedschaft übernimmt es gemeinsam mit Namibia Verantwortung für einen Reformprozess, der in New York hohe politische Aufmerksamkeit genießt und die verschiedensten Politikbereiche der Arbeit der UN berührt.
Die deutsche Bundesregierung könnte den Prozess als Testlauf nutzen, um künftig eine proaktivere UN-Politik aus einem Guss zu betreiben. Für Deutschland als zweitgrößtem Beitragszahler, der 2021 rund 6 Milliarden US-Dollar aus verschiedenen Budgetlinien in die UN investierte, wäre es sinnvoll, wenn es ein klares UN-Profil oder gar eine UN-Strategie entwickelte. Eine strategische ressortübergreifende Verständigung für diesen Prozess könnte helfen, hier weiterzukommen. In die inhaltlichen Debatten sollten auch der Haushaltsausschuss des Bundestages und das Finanzministerium einbezogen werden, denn in der Vergangenheit haben finanzielle Vorbehalte das deutsche Engagement für UN-Reformen ausgebremst. Es gilt Prioritäten zu setzen, wofür sich Deutschland mit Investitionen stark machen will. Wichtig ist ein glaubwürdiges Eintreten für die 2030-Agenda und die SDGs einschließlich konkreter Verbesserungen im Entwicklungsbereich und in der Entwicklungsfinanzierung, nicht zuletzt um das ramponierte Vertrauen vieler Entwicklungsländer in die internationale Zusammenarbeit zu stärken. Nur dann wird sich in den UN eine Mehrheit für Reformen mobilisieren lassen. Das kann Deutschland nicht allein schaffen, doch es kann eine Vorreiterrolle in der Gruppe der westlichen Staaten spielen. Darüber hinaus könnte ausgelotet werden, ob die »Allianz für den Multilateralismus« neu formiert und für den Prozess genutzt werden könnte.
Dr. Marianne Beisheim ist Wissenschaftlerin in der SWP-Forschungsgruppe Globale Fragen. Dr. Silke Weinlich ist Wissenschaftlerin im Forschungsprogramm inter- und transnationale Zusammenarbeit am German Institute of Development and Sustainability (IDOS).
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorinnen wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2022A74