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Eine Wahl, zwei Sieger

Südkoreas Parlamentswahlen im Zeichen von Erfolgen im Kampf gegen die Corona‑Pandemie

SWP-Aktuell 2020/A 31, 06.05.2020, 4 Pages

doi:10.18449/2020A31

Research Areas

Die Parlamentswahlen in Südkorea am 15. April waren die weltweit erste landesweite demokratische Abstimmung seit dem Ausbruch der Corona-Krise. Dass sie überhaupt durchgeführt werden konnten, steht in direktem Zusammenhang mit der Strategie, die Südkoreas Regierung bei der Eindämmung der Corona-Pandemie verfolgt. Klarer Sieger war denn auch der amtierende Präsident Moon Jae-in, der insbesondere für sein erfolgreiches Krisenmanagement belohnt wurde. Doch ist die Wahl auch ein Sieg für die noch immer vergleichsweise junge Demokratie in Südkorea. Da Regierung und Bevölkerung aus den Erfahrungen früherer Epidemien gelernt haben, mussten sich die Bürger nicht zwischen der Ausübung ihrer demokratischen Rechte und dem Schutz ihrer Gesundheit entscheiden.

Bei den Parlamentswahlen am 15. April gaben mehr als 29 Millionen Menschen (66 Prozent der Wählerschaft) ihre Stimme ab, um die 300 Mitglieder der in Seoul an­sässigen Nationalversammlung zu bestimmen. Dies war die höchste Beteiligung an einer Parlamentswahl in Südkorea seit fast drei Jahrzehnten. Erstmals wurde auch das im Jahr 2019 reformierte Wahlsystem an­gewandt. Bei der Reform wurde die Ver­teilung von 47 zuvor proportional vergebenen Sitzen neu geregelt und das Wahlalter von 19 Jahren auf 18 Jahre herabgesetzt.

Die Demokratische Partei (Tŏburŏminjudang) und ihr Satellit (Tŏburŏsimindang) errangen mit 180 Parlamentssitzen einen deutlichen Sieg. Das garantiert dem regie­renden liberalen Bündnis eine absolute Mehrheit im Parlament und eine Super-Mehrheit von drei Fünfteln der Abgeord­neten, die für eine Beschleunigung von Gesetzgebungsverfahren erforderlich ist. Die konservative Allianz zwischen der Ver­einigten Zukunftspartei (Miraet’onghap­tang) und deren Schwesterpartei (Mirae­han’guktang) gewann nur 103 Sitze – das schlechteste Ergebnis für die Konservativen seit 1960.

Die Demokratische Partei, die zuvor schon die Parlamentsmehrheit, aber keine absolute Mehrheit hatte, führt nun eine Koalition mit einer Dreifünftel-Mehrheit und kann Gesetze verabschieden, ohne auf Oppositionsstimmen angewiesen zu sein.

Wenn es Präsident Moon Jae-in gelingt, potentielle Nachfolger, wie insbesondere Lee Nak-yon, bei ihren Bemühungen um etwaige innerparteiliche Profilierung in Schach zu halten, gibt ihm der Wahlsieg für seine verbleibenden beiden Amtsjahre einen bis dato nicht gekannten Spielraum. Diesen Spielraum kann er nutzen, um die von ihm avisierten politischen Ziele zu erreichen. Dabei ist zu erwarten, dass sich die Moon-Administration vor allem innen­politischen Themen zuwenden wird. Hierzu zählen etwa eine größere Kontrolle über die Unter­nehmenskonglomerate (chaebol), welche die südkoreanische Wirtschaft do­minieren, aber auch die Verringerung von Einkommensunterschieden, eine Erhöhung der Sozialausgaben sowie zusätzliche Beschäftigungsregulierungen.

Wie sehr die Parlamentswahl als Abstim­mung über die Strategie gesehen wurde, die Moon ausgewählt hatte, um die Corona-Pandemie einzudämmen, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Zustimmungsraten für ihn und seine Partei wenige Wochen zuvor noch bei nur etwa 30 Prozent gelegen hatten. Ursächlich für dieses Umfragetief waren mehrere Faktoren: ein schleppendes Wirt­schaftswachstum, der gescheiterte Versuch, eine äußerst unpopuläre Strukturreform durchzusetzen, der diplomatische Stillstand in den Beziehungen zu Nordkorea sowie ein politischer Skandal, in den auch Moons Justizminister verwickelt war. Der sprunghafte Anstieg der Coronavirus-Fälle Ende Februar verstärkte insbesondere die Kritik aus dem konservativen Lager und ließ die Umfragewerte der Moon-Regierung absinken. Moons Reaktion auf den Aus­bruch der Corona-Pandemie hat dann je­doch dazu geführt, dass seine Zustimmungs­werte von 41 Prozent Ende Januar auf 57 Prozent Anfang April 2020 anstiegen.

Sowohl die in Südkorea direkt umgesetzten Maßnahmen als auch Moons internatio­nale »Corona-Diplomatie« haben seiner Regierung einen Zuwachs an öffentlicher Unterstützung beschert.

Moons erfolgreiche Corona-»Response«-Strategie

Die Unterstützung für die Moon-Adminis­tration und das daraus resultierende Wahl­verhalten der südkoreanischen Bürger lässt sich besser verstehen, wenn man einen genaueren Blick auf Südkoreas »Response Strategy« zur Eindämmung der Corona-Pandemie wirft. Sie besteht im Wesent­lichen aus drei Komponenten: umfassende Tests, Kontaktverfolgung, Behandlung (testing, tracing, treating). Dabei spiegelt Seouls Covid-19-Politik die zentralen, zum Teil auch schmerzlichen Lektionen wider, die Südkorea im Umgang mit der früheren SARS- und der MERS-Epidemie gelernt hat. Südkorea reformierte seinerzeit die Infra­struktur, die der Bekämpfung möglicher Epidemien dient, etablierte ein Notfall­zentrum für Infektionskrankheiten und errich­tete auf mehreren Ebenen ein System, das in der gegenwärtigen Krise positive Wirkung entfaltet und sich als erfolgreich erweist.

Dabei stehen die umfassende und transparente Kommunikation und Information der Bevölkerung an oberster Stelle. Das Ge­sicht dieser Strategie ist Jung Eun-kyeong, die Leiterin der Korea Centers for Disease Control and Prevention (KCDC). In täglichen Pressebriefings berichtet sie ausführlich über die Entwicklungen in Korea und erläu­tert erfor­derliche Maßnahmen.

Im Zentrum der gesundheitspolitischen »Response Strategy« Südkoreas steht die Maxime, dass umfassende Tests notwendig sind. Unmittelbar nachdem chinesische Wissenschaftler die genetische Sequenz des Covid‑19-Virus am 12. Januar 2020 ver­öffentlicht hatten, began­nen mindestens vier südkoreanische Fir­men damit, Testkits zu entwickeln und zu lagern. Als sich die Lage zuspitzte, war das Land in der Lage, mehr als 10 000 Menschen pro Tag zu testen, unter anderem in eigens konzipierten »drive through«-Stationen, die sichere und schnelle Tests gewährleisten sollten.

Nach Angaben der Universität Oxford hatte Südkorea am 8. März bereits 188 518 Tests durchgeführt. Zur gleichen Zeit lag deren Zahl in Deutschland bei 124 716, in Italien bei 49 937 und in den USA bei lediglich 3 069.

Ein zweiter zentraler Bestandteil von Süd­koreas Strategie zur Eindämmung der Corona-Pandemie ist das sogenannte »con­tact tracing«, die Rückverfolgung der Kon­takte Infizierter und die Auswertung von Bewegungs­protokollen. Von Lockdowns, die mit einer generellen Einschränkung der Bewegungsfreiheit verbunden sind, wurde abgesehen. Diese Methode sehen Experten in Südkorea als ungeeignet zur Eindämmung einer Pandemie an. Bestimmte Ge­biete abzuriegeln und die Bewegungs­freiheit aufzuheben, so drückte es etwa Roh Kyoung-ho aus, ein Arzt des Nationalen Krankenversicherungsdienstes, sei eine Methode aus Zeiten, in denen man den Kampf gegen die Pest geführt habe. Damals habe man nicht gewusst, wie und wohin sich die Krankheit ausbreitete.

Heute stünden dank fortschrittlicher Technologie moderne Hilfsmittel zur Ver­fügung, die imstande seien, exakt dies zu leisten. Im Falle eines positiven Tests auf Corona müssen sich die Infizierten in Qua­rantäne begeben, die Einhaltung der Quarantänebestimmungen wird strikt kon­trolliert. Betroffene werden von Mitarbeitern der Gesundheitsämter befragt und müssen lückenlos aufklären, wohin überall sie sich bewegt und welche Kontakte sie hatten, und dies vom vermuteten Zeitpunkt der Übertragung an. Hierzu werden die Tele­fon- und wenn nötig auch die Kreditkartendaten sowie Aufnahmen von Über­wachungskameras verwendet, um Bewegungen nachzuvollziehen und Kontakte aufzuspüren. Die Bewegungsdaten werden anschließend, ohne den Namen der betrof­fenen Person zu nennen, öffentlich be­kannt gegeben. Auf diese Weise kann jeder selbst einschätzen, ob er möglicherweise gefährdet ist oder nicht. All jene, von denen bekannt ist, dass sie sich in der Nähe der infizierten Person aufgehalten haben, wer­den telefonisch benachrichtigt. Auf einer Smartphone-App lassen sich GPS-Karten abrufen, die es ermöglichen, die Ausbreitung der Infektion zu verfolgen. Rechtliche Grundlage für diese Maßnahmen ist das Gesetz zur Kontrolle und Prävention von Infektionskrankheiten, das nach dem MERS-Ausbruch im Jahr 2015 verabschiedet wurde. Die damalige Regierung unter Park Geun-hye hatte seinerzeit kritische Infor­mationen zurückgehalten, was zu weiteren Übertragungen und Todesfällen beitrug.

Das Gesetz von 2015 verpflichtet die Regierung dazu, bestimmte Informationen zu veröffentlichen. Das können unter ande­rem die Bewegungsprofile der Infizierten sein, die öffentlichen Verkehrsmittel, die sie benutzt haben, und die medizinischen Einrichtungen, in denen sie behandelt wer­den. Dabei darf die Identität der positiv getesteten Patienten jedoch nicht preis­gegeben werden.

Die Unterstützung der Bevölkerung

So wichtig die genannten staatlichen Maß­nahmen für den Erfolg des Krisenmanagements in Südkorea auch sind: Ohne die Unterstützung der Öffentlichkeit wären sie nicht umsetzbar und wirksam. Dabei war es sicherlich nicht der in westlichen Medien häufig bemühte Konfuzianismus, der erklä­ren könnte, warum die südkoreanische Bevölkerung die zum Teil weitreichenden Maßnahmen der Regierung unterstützt. In Südkorea existiert zwar durchaus ein aus­geprägter Sinn für das Gemeinwohl, doch lässt sich das Handeln der Bevölkerung weder auf eine Art Lehnstreue zum Kon­fuzianismus noch auf eine kollektive Ideo­logie zurückführen. Wäre der Konfuzia­nismus maßgebend und handlungsleitend, bei dem der Respekt vor nationalen Füh­rern eine zentrale Rolle spielt, hätte es 2017 nicht zur demokratischen Revolution kom­men können. Führte sie doch dazu, dass die damalige Präsidentin Park Geun-hye ihres Amtes enthoben wurde.

Ausschlaggebend ist vielmehr die Einsicht, die insbesondere auf den Erfahrun­gen mit der Bewältigung der MERS-Epi­demie beruht, dass sich die Ausbreitung einer Epidemie nicht verhindern lässt, wenn nicht für Transparenz gesorgt und kollektiv gehandelt wird. Auch weitreichen­de Kontrollen werden als essenziell erach­tet. Bedenken mit Blick auf Datenschutz und Privatsphäre existieren quasi nicht. Die ent­sprechenden Maßnahmen müssen aller­dings konsequent sein und transparent kommuniziert werden, sollen sie Unterstützung erfahren. Die Wahrnehmung, dass die Regierung Transparenz wahrt, wurde mit einem stetig wachsenden Vertrauen in deren Strategie belohnt. Anders gesagt: Die erwähnten Maßnahmen werden nicht gegen den Willen der Bevölkerung durch­geführt, sondern eher auf deren Druck hin. Eingriffe in die Privatsphäre werden als notwendig für die eigene Sicherheit be­trachtet – auch um letztlich noch weiter­gehende Maß­nahmen zu vermeiden.

Weder auf nationaler noch auf regio­naler Ebene wurden Maßnahmen ergriffen, die sich mit jenen in Europa vergleichen lassen, wie etwa generelle Kontaktsperren, inländische Reisebeschränkungen oder flächendeckende Lockdowns – nicht ein­mal in der im Südwesten des Landes gele­genen Stadt Daegu, dem Epizentrum des Corona-Aus­bruchs in Südkorea. Vielmehr verließ sich die Regierung auf freiwillige Eindämmungsmaßnahmen. Soziale Dis­tanzierung und das ohnehin verbreitete Tragen von Schutzmasken werden in Süd­korea eher als Teil einer kollektiven Gesundheits­kampagne betrachtet denn als staatlich verordnete Pflicht. So praktizierten bereits viele Südkoreaner »social distancing«, noch bevor die Regierung entsprechende Maßnahmen landesweit koordinierte. In Daegu schlossen viele Restaurants, Geschäfte und Kinos nicht deshalb, weil der Staat dies per direkter Intervention ver­anlasst hatte, sondern weil das selbstauferlegte »social distancing« der Bürger einen spürbaren Einbruch der Geschäfte zur Folge hatte, die insofern nicht mehr rentabel erschienen.

Lehren des »Modells Südkorea«

Die Art, wie Südkorea mit der Corona-Pan­demie umgeht, ist nicht einfach auf andere Länder bzw. Regionen zu übertragen. Zu spezifisch sind die Faktoren, die über den Erfolg in Südkorea bestimmen. So ist das gegenwärtige Handeln sowohl der Regierung als auch der Bevölkerung von den kollektiven Erfahrungen angeleitet, die Südkorea mit den früheren SARS- und MERS-Epidemien gemacht hat.

Diese kollektive Lernerfahrung hat Europa nicht. Deshalb wird es von essen­zieller Bedeutung sein, jetzt die richtigen Lehren für zukünftige Pandemien zu zie­hen. Nicht zuletzt gilt es eine grundlegende Debatte zu führen über die zu findende Balance zwischen der Sicherstellung demo­kratischer Grundrechte und der Notwendigkeit, diese Rechte im Falle einer Gefähr­dung der öffentlichen Gesundheit einzuschränken.

Im Unterschied zu den Europäern haben die Südkoreaner kollektiv die Entscheidung getroffen, Eingriffe in ihre Privatsphäre als notwendig für die eigene und die gesell­schaft­liche Sicherheit zu akzeptieren. Letzt­lich wollen sie auf diese Weise auch verhin­dern, dass andere Grundrechte eingeschränkt werden, etwa die Versammlungs- oder die Bewegungsfreiheit.

Welche kollektive Entscheidung in Deutschland und anderen europäischen Ländern getroffen wird, ist eine zentrale Frage.

Die Parlamentswahlen in Südkorea, die als erste landesweite demokratische Wahl nach Ausbruch der Corona-Pandemie statt­fand und international sehr aufmerksam beobachtet wurde, brachte so gesehen zwei Sieger hervor. Der eine ist die Regierungs­partei von Moon Jae‑in, die mit ihrer Politik die Corona-Pandemie einzudämmen ver­mochte und letztlich die absolute Mehr­heit im Parlament gewann. Der zweite Wahlsieger ist die Demokratie in Südkorea, haben die Bürger des Landes doch bewiesen, dass sie in der Lage sind, ihre demokratischen Rechte auch in Zeiten der Corona-Pandemie auszuüben.

Dr. Eric J. Ballbach ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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