Die Nominierung des neuen Premierministers dürfte die angespannte innenpolitische Lage in Georgien im Vorfeld der für 2020 angesetzten Parlamentswahlen weiter anheizen, meinen Sonja Schiffers und Franziska Smolnik.
Am 2. September reichte der georgische Premierminister Mamuka Bachtadse seinen Rücktritt ein. Einen Tag später nominierte die Regierungspartei »Georgischer Traum« den umstrittenen Innenminister Giorgi Gacharia als seinen Nachfolger. Damit kommt es nach nur 14 Monaten erneut zu einem Wechsel an der Spitze der georgischen Regierung; Gacharia wird der fünfte Premierminister seit der Regierungsübernahme durch den »Georgischen Traum« 2012. Georgische Medien hatten einen möglichen Kabinettsumbau bereits seit längerem diskutiert und Gacharia als potenziellen Nachfolger gehandelt; dabei wurden, wie bei früheren Wechseln auch, unterschiedliche Spekulationen über die Gründe für die Demission angestellt. Weitgehend einig war man sich hingegen darin, dass Bidsina Iwanischwili, Gründer und Vorsitzender des »Georgischen Traums« sowie reichster Mann des Landes, sowohl beim Rücktritt als auch bei der Nachbesetzung eine entscheidende Rolle gespielt haben muss. Giorgi Gacharia gilt als enger Vertrauter des Parteivorsitzenden und war von ihm in die Politik gebracht worden. Diese enge Verbindung teilt Gacharia mit seinen Vorgängern: Bachtadse galt als »von Iwanischwili eingesetzt«; von Beginn an wurde ihm mangelnde Autorität attestiert. Die ehemaligen Premiers Irakli Gharibaschwili und Giorgi Kwirikaschwili waren zudem zuvor für Unternehmen der Familie Iwanischwili tätig.
Dass Gacharia vor seinem Eintritt in die georgische Politik knapp 20 Jahre in Moskau lebte und arbeitete, wird insbesondere für die politische Opposition in Georgien ein gefundenes Fressen sein. Iwanischwili selbst war 2012 mit dem Versprechen angetreten, die Beziehungen mit Russland zu normalisieren, und sprach sich, in deutlicher Abkehr zur Politik seines Vorgängers Micheil Saakaschwili, für Pragmatismus gegenüber Russland aus. Das brachte ihm und seiner Partei von weiten Teilen der politischen Opposition sowie der Zivilgesellschaft immer wieder den Vorwurf ein, zu nachgiebig gegenüber Moskau zu agieren. Dass Gacharia von eben dort Gratulationen zur Nominierung erhielt, dürfte weiter Öl ins Feuer gießen.
Es gibt allerdings auch handfestere Gründe dafür, warum die Besetzung des Premierministeramtes mit Giorgi Gacharia vermutlich eher zu weiterer innenpolitischer Konfrontation anstatt zu Befriedung führen wird: Ende Juni 2019 war es vor allem in der Hauptstadt Tbilisi zu Massenprotesten gekommen. Deren unmittelbarer Auslöser war ein Auftritt des russischen Abgeordneten Sergei Gawrilow im georgischen Parlament. Die Proteste richteten sich aber auch gegen die Regierung. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstrierenden wurden über 240 Personen verletzt. Die Protestierenden machten Innenminister Gacharia für die Polizeigewalt verantwortlich. Dass sich nun auch der »Georgische Traum« für Gewalt gegen Demonstranten und Demonstrantinnen zu verantworten hatte – ähnlich wie zuvor Saakaschwili und seine »Vereinte Nationale Bewegung« – werteten Beobachterinnen und Beobachter als bedeutenden Legitimitätsverlust. Der Rücktritt Gacharias ist seitdem eine der zentralen Forderungen der parlamentarischen Opposition und junger Aktivistinnen und Aktivisten. Der »Georgische Traum« und sein Vorsitzender allerdings hielten trotz wochenlangem Protest an dem umstrittenen Minister fest. Dass dieser nun nicht nur im Amt gehalten, sondern nach nur gut zwei Monaten auf das formal wichtigste Amt des Landes befördert werden soll, dürfte die innenpolitische Stimmung wieder und weiter aufheizen.
Georgien ist nicht erst seit der »Causa Gawrilow« stark innenpolitisch polarisiert. Da ist zum einen die Fehde zwischen der Regierungspartei »Georgischer Traum« und der vormaligen Saakaschwili-Partei »Vereinte Nationale Bewegung« bzw. deren Absplitterung »Europäisches Georgien«. Bis heute haben die Parteien keinen produktiven Modus parteipolitischen Wettbewerbs im parlamentarischen System Georgiens gefunden. Stattdessen werfen sie sich gegenseitig vor, ihre jeweilige Rolle für partikulare Machtinteressen zu missbrauchen. Zum anderen gibt es eine junge Generation von Aktivistinnen und Aktivisten, die immer wieder gegen die Politik der Regierung auf die Straße geht. Sie ist bemüht, sich und ihre Protestaktionen von keiner politischen Partei vereinnahmen zu lassen, was angesichts des äußerst umkämpften politischen Felds Georgiens mit einem oft eher schematischen »Freund-Feind«-Denken keine einfache Aufgabe ist. Der größte Teil der georgischen Gesellschaft allerdings hat sich von der Politik und ihren Querelen abgewandt. Vor den Wahlen der letzten Jahre war der Anteil derjenigen, die auch kurz vor dem Urnengang noch keine politische Präferenz äußern konnten, beständig hoch. Laut Daten einer Umfrage des National Democratic Institute vom April 2019 waren 81 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Politiker die Polarisierung im Land beförderten. Gefragt, welche Partei sie wählen würden, sollten für den nächsten Tag Parlamentswahlen angesetzt sein, entschieden sich nur magere 17 Prozent für den »Georgischen Traum«, 14 Prozent für die »Vereinte Nationale Bewegung«.
Die Sommerferien bedeuteten eine Atempause für die politischen Auseinandersetzungen in Georgien. Das dürfte sich nun ändern. Die erste Sitzung des georgischen Parlaments nach der Sommerpause, bei der Gacharias Nominierung bekannt gegeben wurde, ist von lautstarken Protesten inner- und außerhalb des Parlamentsgebäudes begleitet worden.
Der Auftritt eines russischen Abgeordneten im georgischen Parlament treibt viele Bürgerinnen und Bürger auf die Straßen von Tbilissi. Franziska Smolnik ordnet die Proteste innen- und außenpolitisch ein.