Jump directly to page content

Stadt, Land, Frust

Die Debatte über eine Landreform in Südafrika

SWP-Aktuell 2019/A 16, 15.03.2019, 8 Pages

doi:10.18449/2019A16

Research Areas

Im Dezember 2018 beschloss das südafrikanische Parlament mit den Stimmen des regierenden African National Congress (ANC) und der Oppositionspartei Economic Freedom Fighters (EFF) einen Zusatz zur Verfassung. Er soll die bestehende Möglichkeit konkretisieren, Land entschädigungslos zu enteignen. In der Diskussion über eine Landreform in Südafrika wird vielfach der Eindruck erweckt, als könnten ent­schädigungslose Enteignungen weißer Farmer das Problem der ungleichen Einkommensverteilung im Land lösen. Dabei ist ein ganzes Set an politischen Reformen nötig, um mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Sichtbare Erfolge könnten dazu beitragen, jene Gruppen zu besänftigen, die 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid von der süd­afrikanischen Demokratie enttäuscht sind. Ein Scheitern der Reformen dürfte hin­gegen die ohnehin große Frustration in Südafrikas Bevölkerung noch verstärken.

Die gerechte Verteilung von Land ist ein Thema, das die politische Diskussion in Süd­afrika vor den Wahlen im Mai 2019 domi­niert. Gegen Ende der Apartheid waren über 87 Prozent des Landes im Besitz von Weißen, die aber nur knapp 11 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Der ANC hatte nach Übernahme der Regierung 1994 auf eine breit angelegte Landreform verzichtet, jedoch angekündigt, innerhalb von fünf Jahren 30 Prozent des Landes nach dem Prinzip des »Willing Buyer, Willing Seller« umzuverteilen – die Regierung kauft dem­nach verkaufswilligen weißen Farmern ihr Land ab. Schwarze Südafrikanerinnen und Südafrikaner können dieses Land dann kaufen, teilweise gefördert durch Subven­tionsprogramme. Doch 25 Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen ist die Bilanz dürftig: Bis 2018 wurden nur 9,7 Pro­zent statt der versprochenen 30 Prozent des Landes umverteilt. Die südafrikanische Regierung hatte den Zeitpunkt immer wei­ter verschoben, zu dem sie das gesetzte Ziel erreichen wollte. Später gab sie die Ziel­vorgabe auf.

Die von großen Teilen der Bevölkerung als ungerecht empfundene Landverteilung ist im letzten Jahr zum Kernthema der poli­tischen Auseinandersetzung um soziale Gerechtigkeit in Südafrika geworden. Im Wahlkampf steht die Landreform dabei ganz oben auf der politischen Agenda der drei bedeutsamsten Parteien – ANC, EFF und die Democratic Alliance (DA). Die DA bietet eher marktwirtschaftliche Instrumente zur Problemlösung an, die EFF setzen auf die Verstaatlichung von Land und der ANC vertritt Elemente beider Lösungs­ansätze.

Für den regierenden ANC steht viel auf dem Spiel: Er war nach dem Ende der Apartheid mit dem Versprechen angetreten, die soziale Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen zu überwinden. Doch trotz mancher Fortschritte, etwa bei der Energieversorgung, gehört Südafrika heute zu den Ländern mit dem höchsten Grad an sozialer Ungleichheit weltweit. Laut der nationalen Statistikbehörde leben der­zeit 55 Prozent der rund 58 Millionen Südafrikanerinnen und Südafrikaner in Armut. Die Arbeitslosenquote liegt nach offiziellen Angaben bei etwa 27 Prozent. Nach wie vor betrifft die Armut in erster Linie jene Gruppen, die unter der Apartheid als »Black« oder »Coloured« bezeichnet wur­den. Dabei hat sich inzwischen eine kleine schwarze Mittelschicht entwickelt.

Lange Zeit war die ehemalige Befreiungs­bewegung ANC nahezu die einzige politische Alternative für die nichtweiße Wählerschaft, weil die Partei die aus der Apartheid resul­tie­rende ungleiche Verteilung der Einkom­men zwischen Schwarzen und Weißen bekämpfen wollte. Die DA hat sich zwar als zweitstärkste Kraft etabliert, doch nur allmäh­lich findet sie Zuspruch auch bei der schwar­zen Bevölkerungsschicht; bislang bekam sie ihre Stimmen vorrangig aus den Reihen der weißen Südafrikaner und der »Coloureds«.

Schon bei der Parlamentswahl 2014 verlor der ANC seine Zweidrittelmehrheit und fiel auf 62 Prozent. Erstmals zog die EFF mit 6 Prozent der Stimmen ins Parla­ment ein. Sie richtete sich mit ihrem Wahl­programm an jene Teile der Bevölkerung, die ökonomisch ausgeschlossen waren und das Vertrauen in den ANC verloren hatten. Die wichtigste Forderung der EFF war und ist die Verstaatlichung von Bergbau und Land. Damit trieb sie den ANC in der letz­ten Legislaturperiode im Parlament vor sich her. Die Abgeordneten der EFF brachten mehrere Anträge ein, um die Möglichkeit der entschädigungslosen Enteignung prü­fen zu lassen. Der ANC hatte die Behand­lung des Themas immer wieder abgelehnt. Anfang 2018 stimmten die Abgeordneten des ANC jedoch für eine erneute Resolution der EFF, nach der die Ergänzung der süd­afrikanischen Verfassung um die Möglichkeit einer entschädigungslosen Enteignung geprüft werden sollte.

Verschiedene Aspekte der Landreform

Dem ANC ist es mittlerweile gelungen, das Thema der Landreform für sich zu verein­nahmen. Seitdem Cyril Ramaphosa im Februar 2018 das Amt des unter Korrup­tionsverdacht stehenden Ex-Präsidenten Jacob Zuma übernommen hat, kämpft die Partei darum, verlorenes Vertrauen zurück­zugewinnen. Zuma wird »State Capture« vorgeworfen: die Besetzung von Stellen in Ministerien und Ämtern mit politisch Ver­bündeten zum eigenen finanziellen Vorteil. Eine Kommission untersucht derzeit die Vorwürfe. Bei vielen Südafrikanerinnen und Südafrikanern ist der Eindruck ent­standen, dass die ehemalige Befreiungs­bewegung ihre Ideale verraten hat und sich in erster Linie selbst ökonomisch bereichert.

Ihre Frustration spiegelt sich auch in einer zunehmenden Zahl von Nichtwählern wider. Die Wahlbeteiligung ist seit 1994 kontinuierlich gesunken: 43 Prozent der Wahlberechtigten registrierten sich 2014 entweder erst gar nicht oder waren regis­triert, gingen aber nicht zur Wahl. In der Folge erhielt der ANC nur 35 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten in Süd­afrika, 1994 waren es noch 54 Prozent.

Die Ankündigung einer Landreform wird im In- und Ausland mit der Sorge betrachtet, dass sie mit gewaltsamen Enteignungen einhergehen könnte. Doch die bisherigen Schritte Pretorias weisen auf einen demo­kratischen und geordneten Prozess hin. Im Dezember 2018 legte ein Komitee das Ergebnis eines zehn Monate dauernden Konsultationsprozesses vor, bei dem Grup­pen im ganzen Land nach ihrer Meinung zur Landreform befragt wurden. Noch im selben Monat bestätigte das südafrikanische Parlament, dass es die zentralen Empfehlungen des Komitees umsetzen werde.

Hierzu gehört eine Ergänzung von Para­graph 25 der südafrikanischen Verfassung. Damit soll die Möglichkeit, Land ohne Kom­pensation zu enteignen, explizit formuliert werden. Faktisch ist diese Möglichkeit in der südafrikanischen Verfassung – wie in vielen anderen Verfassungen – bereits angelegt. In der Praxis wurde davon bislang aber kaum Gebrauch gemacht. Die Sorge, dass durch Konkretisierung von Paragraph 25 entschädigungslose Enteignungen in großem Umfang stattfinden könnten, gilt als unbegründet. Dazu müsste laut der Politikwissenschaftlerin Ruth Hall – einer von zehn Expertinnen und Experten in Cyril Ramaphosas Beratungsgremium für die Landreform – auch Paragraph 36 der Verfassung geändert werden. Dieser lässt zwar unter bestimmten Bedingungen Ein­schränkungen von Rechten zu – etwa dem Recht auf Eigentum –, jedoch schreibt er vor, dass solche Einschränkungen verhält­nismäßig sein müssen. Für eine Änderung von Paragraph 36 wäre eine 75‑Prozent-Mehrheit im Parlament nötig – und die gilt auch nach den Parlamentswahlen 2019 als unwahrscheinlich.

Das Parlament beschloss im Dezember 2018, eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe einzurichten, besetzt mit Vertretern der unterschiedlichen Parteien und zusätzlichen Personen. Diese soll dem Parlament bis Ende März 2019 Bericht erstatten und einen Vorschlag zur Ergänzung von Paragraph 25 erarbeiten. In dem Zusatz soll die Möglichkeit von Enteignungen explizit formuliert werden und sie somit legitimieren. Expertinnen und Experten rechnen damit, dass der Zusatz die Kriterien für Entschädigungen konkreter fassen wird. Ihrer Einschätzung nach wird es nur in wenigen Fällen zu Ent­eignungen kommen, beispielsweise wenn Land als Spekulationsobjekt genutzt wird. Sie monieren aber, dass die Probleme der hochgradigen sozialen Ungleichheit nicht gelöst werden können, indem man sich auf eine reine Umverteilung von Land beschränkt.

Letztendlich geht es nicht nur um die Bereitstellung von Land, sondern auch um dessen Nutzung – Südafrika muss Lösungen für ein vielschichtiges Problem finden –, und zwar über das Thema ent­schädigungsloser Enteignungen hinaus. Derzeit stehen mindestens drei Aspekte des Problems im Zentrum der politischen Debatte: erstens geht es um die Frage, welcher Mix an Politikinstrumenten nötig ist, um eine gerechtere Verteilung von Land und Ressourcen zu bewirken, ohne die Landwirtschaft zu schädigen. Zweitens geht es um die Rechtssicherheit von Menschen, die auf Gemeinschaftsland leben – Land, das traditionelle Eliten verwalten und das sich vorwiegend in den ländlichen Pro­vinzen befindet. Drittens spielt die gerech­tere Verteilung von Wohnraum in der Stadt eine wichtige Rolle.

Historisch bedingte Ungleich­verteilung und die Landfrage

Die ungleiche Landverteilung in Südafrika wurde durch eine Reihe politischer Maß­nahmen und Gesetze vor und während der Apartheid zementiert. Der »Natives Land Act« aus dem Jahr 1913, der eine Neuverteilung der Besitzverhältnisse in Südafrika vorsah, wies Gebiete exklusiv für die weiße Bevölkerung aus. In der Folge wurden schwarze Menschen von ihrem Land ver­trieben. Diese strukturelle Ungleichheit wurde unter der Apartheid seit 1948 geför­dert. Das Apartheidregime teilte die Bevöl­kerung nicht nur in verschiedene rassistisch bestimmte Gruppen ein, es trennte diese Gruppen auch räumlich.

Zwischen 1960 und 1980 wurden etwa 3,5 Millionen schwarze Menschen (zu gro­ßen Teilen gewaltsam) in die »Homelands« umgesiedelt. Diese Gebiete im ländlichen Raum standen unter der Verwaltung tradi­tioneller Eliten, also von Repräsentanten tribaler Herrschaftsstrukturen und ‑dynas­tien, wie beispielsweise Chiefs. Diese ver­fügten über Verwaltungsstrukturen, die »tra­ditional authorities« – am ehesten als »tradi­tionelle Behörde« zu übersetzen. Diejenigen, die in der Apartheid den traditionellen Be­hörden zugehörten, hatten aufgrund ihrer Verwaltungsbefugnisse eine Sonderstellung, somit konnten sie sich von den übrigen Teilen der schwarzen Bevölkerung abgrenzen.

Anderen schwarzen – als »Africans« deklarierten – Südafrikanerinnen und Süd­afrikanern war die Aufnahme eigener Wirtschaftstätigkeit ebenso untersagt wie der Landerwerb. Schwarze Menschen soll­ten im Rahmen der sogenannten »Bantu Education« dazu erzogen werden, Befehle auszuführen; sie wurden nicht dazu aus­gebildet, selbständige Tätigkeiten zu erler­nen. Die Angehörigen der schwarzen Bevöl­kerung waren größtenteils in der Landwirtschaft und im Bergbau als Arbeitskräfte für weiße Besitzer tätig oder als Dienstleister in weißen Haushalten.

Auch in den Städten trieb das Regime die Segregation voran. 1950 erließ es den Group Areas Act, der die Unterteilung der Städte anhand rassistischer Kriterien vor­sah. Große Teile der städtischen Bevölkerung siedelte es unter massivem Gewalt­einsatz in für sie deklarierte Stadtgebiete um. Die unterschiedlichen Stadtbezirke wurden auf Basis der rassistischen Hier­archie ausgestattet, etwa beim Straßenbau oder beim Zugang zu Dienstleistungen wie Strom oder Wasser. Dabei wurden Gebiete mit weißer Bevölkerung privilegiert, wäh­rend in denen mit schwarzer Bevölkerung miserable Bedingungen herrschten. Ab­stufungen bestanden zudem zwischen »Indians«, »Coloureds« und »Africans«; alle diese Gruppen wurden ebenfalls physisch voneinander getrennt.

Bis heute ist die ungleiche Ressourcenverteilung in der Infrastruktur erkennbar, eine Folge der Segregation ist die Dysfunktionalität mancher Gebiete.

Es sind genau diese von dem Apartheidregime geförderten Unterschiede in den Strukturen für Schwarze und Weiße, die der ANC nach dem Ende der Apartheid zu überwinden versprach. Nach den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 1994 begann er damit, Programme zur Umverteilung von Land umzusetzen. Dabei beschloss der ANC aber, auf eine umfassende und tiefgreifende Landreform und damit ver­bundene Enteignungen von Weißen zu verzichten.

Drei Programme sollten die Situation der schwarzen Südafrikanerinnen und Süd­afrikaner verbessern:

  • Unter dem Redistributionsprogramm sollte Land an sie umverteilt werden, um so ihre strukturelle Ungleichheit im Ver­hältnis zur weißen Bevölkerung zu besei­tigen. Die Umverteilung basiert auf dem bereits beschriebenen Prinzip des »Willing Buyer, Willing Seller«.

  • Das Restitutionsprogramm sah entweder die Rückgabe von Land oder auch eine finanzielle Kompensation für jene vor, die im Zuge der rassistischen Gesetz­gebung gewaltsam von ihrem Land ver­trieben wurden. Hierbei haben die Berechtigten nicht unbedingt Anspruch auf das Territorium, das sie verloren haben, sondern auf Ersatzflächen oder alternativ auf finanzielle Kompensation. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass produktiv wirtschaftende Farmen oder auch andere Betriebe nicht durch die Rückgabe von Land beeinträchtigt werden.

  • Das »Tenure«-Programm sollte Rechts­sicherheit für jene schaffen, die nach wie vor auf Gemeinschaftsland (in den ehe­maligen Homelands) oder als Pächter auf dem Land von (in der Regel) weißen Besitzern leben oder wirtschaften. Verschiedene Gesetze sollten sicherstellen, dass diese Personen nicht einfach von Land vertrieben werden können, selbst wenn sie nicht dessen rechtmäßige Eigentümer waren.

Angesichts der mageren Umverteilungs­bilanz der ANC-Regierungen wird die Effek­tivität dieser Programme nun in Frage gestellt. Mit ihrer Forderung nach flächendeckenden Enteignungen ohne Entschädigung machen die EFF deutlich, dass nach ihrer Ansicht die Umverteilung nur durch Enteignungen zu erreichen ist. Eine Evalua­tion der südafrikanischen Land­politik seit dem Ende der Apartheid lässt indes erken­nen, dass Enteignungen dafür nicht zwin­gend notwendig sind. Auch der Report sprach sich dafür aus, stärker von dieser Mög­lichkeit Gebrauch zu machen, etwa wenn Land nicht produktiv genutzt wird.

Zu diesem Ergebnis kam 2016 eine Kom­mission unter Leitung des ehemaligen Prä­sidenten Kgalema Motlanthe, die vom Par­lament eingesetzt worden war. Bis Oktober 2017 hatte sie sich umfassend mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit in Südafrika befasst. Die Gründe für die schleppende Umverteilung von Land sind laut Kommission nicht unbedingt in einer fehlerhaften Konstruktion der bisherigen Programme zu suchen, sie lägen vielmehr vor allem in deren mangelhafter Umsetzung. Insbesondere die Bearbeitung der Anträge auf Redis­tribution dauere zu lange. Ein zentrales Problem sei die grassierende Korruption und die damit verbundene Ineffizienz der südafrikanischen Verwaltungen. Dadurch würde die Bearbeitung der Anträge ver­schleppt.

Außerdem werde die Rechtssicherheit schwarzer Südafrikanerinnen und Südafri­kaner unterminiert, die in den ehemaligen Homelands und in der Provinz KwaZulu-Natal leben. Dazu trügen eine klientelis­tische Gesetzgebung und illegale Praktiken der nach wie vor bedeutsamen traditio­nellen Behörden bei.

Soll für mehr Gerechtigkeit bei der Ver­teilung von Land gesorgt werden, ist dem­nach ein Umsteuern in verschiedenen Bereichen erforderlich. Cyril Ramaphosa setzte im September 2018 das bereits er­wähnte (siehe S. 3) Gremium aus zehn erfahrenen Expertinnen und Experten ein, das ihn bei weiteren Schritten beraten soll. Die südafrikanische Regierung ist allerdings in erster Linie mit der politischen Frage konfrontiert, ob sie sich eine Entmachtung der einflussreichen traditionellen Behörden zutraut.

Gemeinschaftsland und Klientelpolitik

Ursprünglich wollte der ANC die bereits beschriebene Verwaltungsstruktur, die in den Gebieten der damaligen Homelands von traditionellen Behörden bestimmt war, nach dem Ende der Apartheid abschaffen. Doch dazu kam es nicht. Denn in den 1990er Jahren brachen gewaltsame Kon­flikte zwischen dem ANC und der Inkatha Freedom Party (IFP) auf, die sich für die Repräsentanz der ethnischen Gruppe der Zulu einsetzte. Um diese Konflikte zu be­enden, ging der ANC Kompromisse ein. Aus ihnen resultierte auch die heutige Sonderstellung traditioneller Behörden.

Die Bevölkerung, die in den ehemaligen Homelands lebt, besitzt das Land in diesem Gebiet gemeinschaftlich – es befindet sich weder im Besitz des Staates noch in dem von Privatpersonen. In Südafrika betrifft das 17 Millionen der insgesamt 58 Millionen Menschen. Die traditionellen Behörden sollen nach südafrikanischem Recht das Land im Sinne der Ge­meinden verwalten, die auf diesem Gebiet leben. Entscheidungen über die Nut­zung des Landes sollen nach intensiver Konsultation gemeinschaftlich getroffen werden.

Ein Entgegenkommen speziell an die Gruppe der Zulus in der Provinz KwaZulu Natal war die Einsetzung des Ingonyama Trust (IT), der rund drei Millionen Hektar Land in KwaZulu Natal verwaltet. Der Zulu-König Goodwill Zwelithini ist der alleinige Treuhänder des Fonds, insgesamt neun weitere Mitglieder traditioneller Gemeinschaften sitzen im Verwaltungsrat.

Verschiedene Studien haben aufgezeigt, wie illegale Praktiken des Fonds die Rechte von Menschen verletzen, die auf dem Ge­meinschaftsland leben. Sie besitzen Zer­tifikate (sogenannte Permission to Occupy Certificates [PTO]), die ihnen das Recht garantieren, auf Gemeinschaftsland zu wohnen. Menschen, die auf Gemeinschaftsland leben, benötigen von den traditio­nellen Behörden eine Wohnbestätigung. Diese Bestätigung ermöglicht es ihnen, Verträge zu schließen und beispielsweise ein Bank­konto zu eröffnen.

Der Trust nutzte die damit gegebene Abhängigkeit aus. Im Oktober 2017 schal­tete er eine Anzeige, die Personen die Bestä­tigung einer Adresse versprach, wenn sie ihre PTOs in ein Pachtverhältnis umwandeln würden. Die Organisation verschwieg jedoch, dass dies mit Kosten verbunden war. Wenige Wochen später wurde vielen Personen neben den Pachtverträgen eine Rechnung über die Zahlung von Pacht zugesandt. Darüber hinaus schloss der IT Verträge mit Dritten ab, beispielsweise mit Bergbau-, Agrar- oder anderen Wirtschafts­unternehmen, die von ihm verwaltete Gebiete nutzen wollten. Indem er Pacht­verträge einging, versuchte der IT die Kon­sul­tation mit den Gemeinden zu umgehen.

Im Motlanthe-Report wird festgestellt, dass die den traditionellen Behörden an­zulastende Unterminierung der Rechte von Menschen, die auf Gemeinschaftsland leben, mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme sei. Diese Praxis sei in KwaZulu-Natal besonders stark ausgeprägt; dies gelte aber auch für andere Regionen in Südafrika.

Aninka Claassens, Wissenschaftlerin an der University of Cape Town und in der Motlanthe-Kommission zuständig für das Thema Landverteilung, macht für die Miss­achtung der Rechte der ländlichen Bevölke­rung allerdings nicht nur die Praxis der tra­ditionellen Behörden verantwortlich. Die südafrikanische Regierung habe in den 2000er Jahren diverse Erlasse verabschiedet, die den Spielraum der traditionellen Behör­den ausgeweitet hätten, Geschäfte ab­zuschließen. Für sie sei es nun einfacher, Konsultationsprozesse zu umgehen. Von dieser Praxis habe auch die Regierung pro­fitiert, wenn sie Verträge, beispielsweise mit Bergbaufirmen, an der Bevölkerung vorbei abschloss. Unter Jacob Zuma sei dies zwar zusehends häufiger praktiziert wor­den, allerdings habe es so etwas auch schon in der Regierungszeit seines Vorgängers Thabo Mbeki gegeben.

Hier spielt ein weiterer Aspekt mit hin­ein: Südafrika verfolgt seit 2001 eine Politik des Black Economic Empowerment (BEE). Danach muss ein bestimmter Anteil schwarzer Personen in den Verwaltungs­strukturen von Firmen und Unternehmen vertreten sein. Jede ökonomische Koopera­tion bringt somit Vorteile für eine aufstrebende schwarze Elite mit sich – ein In­strument, um die Ungerechtigkeiten aus der Apartheid auszugleichen. In der Praxis ist diese Elite häufig eng mit dem ANC ver­woben. Beamte aus dem südafrikanischen Bergbauministerium (Department of Mine­ral Resources, DMR) sollen Firmen geraten haben, direkt mit den traditionellen Behör­den über den Abschluss von Verträgen zu verhandeln. Denn so ließe sich die Konsul­tation mit ihren Gemeinden vermeiden – und das würde die Deals erleichtern.

Cyril Ramaphosa hat nach seiner Amtsübernahme bereits auf diese Missstände reagiert. Seit Februar 2018 hat es Umstrukturierungen im Bergbauministerium gege­ben. Eine der zentralen Versprechungen Ramaphosas ist es, die Korruption in den südafrikanischen Verwaltungen einzudämmen.

Politisch aufgeheizt ist der Diskurs über die Frage, wie auf die Praktiken der tra­ditionellen Behörden reagiert werden soll. Die EFF forderten eine komplette Verstaatlichung des Ingonyama Trust, um das Land anschließend der Bevölkerung zur Verfü­gung zu stellen. Der Zulu-König erklärte daraufhin öffentlich, er sei notfalls bereit, in den Krieg zu ziehen, sollte der Fonds ent­eignet werden. Bei einem Besuch des Königs fiel Cyril Ramaphosa in einem symbolischen Akt vor ihm auf die Knie. Der Präsident versicherte, dass er die Rechte der traditionellen Behörden weiterhin ernst nehmen würde.

Ramaphosas Geste wurde teilweise mit großem Unverständnis aufgenommen. Gerade jene Teile der Bevölkerung, die sich seit langem eine Abkehr von den traditionellen Verwaltungsstrukturen wünschen, haben seinen Kniefall scharf kritisiert. Der ANC wiederum will erneute Konflikte mit den traditionellen Behörden tunlichst ver­meiden, auch weil diese machtvolle poli­tische Vertretungen besitzen.

Gerade für Ramaphosa ist ein Konflikt mit den traditionellen Eliten in KwaZulu-Natal vor den Wahlen heikel. Wegen der Präsenz der Inkatha Freedom Party ist diese bedeutsame Provinz ohnehin das Sorgenkind des ANC. Jacob Zuma erhielt seinerzeit politische Unterstützung in der Provinz, weil er selbst ein Zulu ist und über mäch­tige Netzwerke verfügte. Als er 2018 vom ANC zum Rücktritt gezwungen wurde, kam es zu Protesten von ANC-Anhängern aus der Provinz. Seitdem Ramaphosa das Amt des ANC-Parteichefs übernommen hat, kämpft er um die volle Unterstützung seiner Partei. Ein gutes Wahlergebnis könnte ihm den Rückenwind geben, den er braucht, um die nötigen Reformen bei der Verwaltung durch traditionelle Behörden anzugehen. Eine wirksame Entmachtung der traditio­nellen Eliten gilt jedoch als unwahrscheinlich, zu stark ist deren politische Lobby. Doch muss sich der Trust wegen seiner Praktiken gerade vor einem südafrika­nischen Gericht verantworten.

Wohnen und Arbeiten in städtischen Zentren

Mindestens genauso wichtig wie die Land­reform ist mittlerweile das Anliegen, städti­schen Wohnraum in Südafrika zu schaffen und zu verteilen. Lebten 1980 rund 43 Pro­zent der Bevölkerung im urbanen Raum, waren es 2015 schon 60 Prozent. Und Pro­gnosen der UN deuten auf steten Zuwachs hin – bis zu 80 Prozent der südafrika­nischen Bevölkerung könnten 2050 Städter sein. Angesichts des Zuwachses in den Städten ist es notwendig, mehr Wohnraum für die Bevölkerung bereitzustellen.

Auch hier spielt die Frage der Gerechtig­keit eine Rolle. Nicht nur mit der Vertei­lung von Grundbesitz, sondern auch mit ihrer Wohnungsbaupolitik hat das Apart­heidregime die strukturelle Kluft zwischen Schwarzen und Weißen zementiert. Die Segregation zwischen dem weißen Zentrum und der nichtweißen Peripherie wirkt bis heute nach.

Seit 1994 wurden im Zuge eines sehr ambitionierten Programms für den sozia­len Wohnungsbau ungefähr drei Millionen Wohneinheiten neu geschaffen. Ungeachtet dessen befinden sich heute noch bis zu 20 Prozent der südafrikanischen Haushalte in traditionellen oder informellen Siedlungen; Letztere sind in der Regel ohne Genehmigung gebaut worden sind. In Kapstadt, der reichsten Stadt Südafrikas, hatten 2016 81,6 Prozent aller Haushalte Zugang zu legalem Wohnraum. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass knapp ein Fünftel der Bevölkerung dort weder in rechtlich gesicherten Mietverhältnissen lebt noch legalen Zugang zu Gütern wie Strom oder Wasser hat.

Im sozialen Wohnungsbau (»Reconstruction and Development Programme«) werden Einheiten größtenteils in jenen Vierteln an der Peripherie errichtet, die der schwarzen Bevölkerung unter dem Apartheidregime zugewiesen wurden. Zwar sind viele Süd­afrikanerinnen und Südafrikaner tief in ihren Gemeinden verwurzelt; das »Town­ship« ist heute nicht mehr unbedingt ein Ort sozialer Benachteiligung. Kritiker be­män­geln gleichwohl, dass der soziale Woh­nungsbau in den Townships fernab der öko­nomischen Zentren die Segregation fördere.

Diese Form der Segregation ist mit einer Reihe weiterer Probleme verbunden. Um in die urbanen Zentren zu gelangen, müssen viele Personen weite Strecken zurücklegen. Dies verursacht sehr hohe Kosten und be­einträchtigt ihre Chancen auf dem südafri­kanischen Arbeitsmarkt. Weil die Kosten hoch und die Wegstrecken sehr lang sind, schlafen viele wochentags in den Innen­städten auf der Straße oder in besetzten Häu­sern, damit sie ihre Arbeit ausüben können.

Laut einer Erhebung der südafrika­nischen Statistikbehörde aus dem Jahr 2015 wenden über die Hälfte der ärmsten 20 Pro­zent der Bevölkerung mehr als ein Fünftel des Haushaltseinkommens für Transportkosten auf; bei den reichsten 20 Prozent der Haushalte entfallen nur rund 3 Prozent ihrer Einkommen auf Transporte.

Die südafrikanische Regierung hat meh­rere Programme aufgelegt, um den Proble­men zu begegnen. Unter dem Slogan »Cor­ridors of Freedom« hat sie die Schaffung eines Nah- und Fernverkehrsnetzes ange­stoßen, das die Mobilität verbessern und auf diese Weise ökonomische und soziale Gleichheit herbeiführen soll. Doch die bisherigen Konzepte haben die soziale Segregation nicht beseitigen können, wie das Beispiel Johannesburg zeigt. Bislang nutzen vornehmlich Angehörige der Mittel- und Oberschicht den sogenannten »Gau­train«, einen modernen Schnellzug, der ökonomisch bedeutsame Stadtteile Johan­nesburgs und Pretorias miteinander ver­bindet. Für jemanden mit durchschnitt­lichem Verdienst ist der Zug zu teuer. Die Busse der Firma Rea Vaya sind erschwing­licher. Nach wie vor legt ein Großteil der Bevölkerung große Strecken aber immer noch zu Fuß zurück oder nutzt das infor­melle System der Minibusse, das auch die peri­pheren Stadtteile miteinander vernetzt.

Heute findet soziale Mischung der rassistisch segregierten Gruppen in erster Linie dann statt, wenn schwarze Südafrikanerinnen und Südafrikaner sozial aufsteigen und in der Folge in die ehemals weißen Wohn­viertel ziehen. Dabei gibt es in Südafrika diverse Bestrebungen, die Segregation zu überwinden. Das City Support Programme (CSP) zielt beispielsweise darauf ab, durch­mischte Wohn- und Arbeitsviertel zu schaf­fen, in denen eine bessere Mobilität herrscht und Dienstleistungen breiter zugänglich sind. Eine Herausforderung für die Stadt­planung ist es dabei, eine Balance zu finden zwischen der staatlichen Verantwortung, den Investitionen des privaten Sektors und der Einbeziehung der Bevölkerung. Dazu ist vor allem Zeit und Geduld nötig.

Allerdings besteht schon jetzt die Möglichkeit, Boden in den Städten kurzfristig bereitzustellen. So könnte etwa ungenutzter staatlicher Wohnraum in südafrika­nischen Städten erschlossen werden oder es ließen sich bereits bestehende informelle Siedlungen infrastrukturell entwickeln. Land in staatlichem Besitz könnte ohne große Anstrengungen freigegeben werden, um günstigen Wohnraum zu schaffen. Nicht zuletzt bedarf es aber vor allem lang­fristiger Konzepte für eine nachhaltig an­gelegte Entwicklung der urbanen Zentren.

Frustrationspotential

Die Analyse hat deutlich gemacht, dass die kontrovers diskutierten Enteignungen ohne Entschädigung nur ein Element der Land­reform in Südafrika sind. Dass sich die un­gleiche Einkommensverteilung in Südafrika mit der Enteignung von Weißen quasi im Handstreich aus der Welt schaffen ließe, ist lediglich ein leeres Versprechen vorrangig populistischer Kräfte. Immerhin haben sie damit aber den ANC zum Einlenken ge­zwun­gen.

Die neueste Erhebung des Afrobarometers unterstreicht die große Bedeutung, die eine gerechtere Verteilung von Ressourcen für die Südafrikanerinnen und Südafrikaner hat: 62 Prozent der Befragten gaben an, dass sie bereit wären, ihr Wahlrecht auf­zugeben, wenn sie dafür Zugang zu sozia­len Dienstleistungen und wichtigen Gütern erhielten (etwa zu Wasser oder zu Wohnraum). Die Unzufriedenheit kommt auch in den politischen Protesten zum Ausdruck, deren Zahl sich in den letzten Jahren erhöht hat.

Südafrika ist nach wie vor ein Staat mit demokratischen Prinzipien und gefestigten Institutionen, die durch Jacob Zumas »State Capture« zwar beschädigt, aber nicht zer­stört wurden. Ein großer Teil der Bevölkerung steht Enteignungen ohne Entschädigung kritisch gegenüber: 53 Prozent befür­worten das Prinzip des »Willing Buyer, Willing Seller«. Die Konsultationen der Regierung zeigen aber auch, dass sich vor allem die benachteiligten Gruppen für die radikalere entschädigungslose Enteignung aussprechen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die nächste südafrikanische Regierung wieder vom ANC geführt. Sie wird mit der Aufgabe konfrontiert sein, eine Landreform durch­zusetzen, die schnelle sichtbare Erfolge zeitigt, aber trotzdem nach den Regeln der Demokratie vollzogen wird. Ein erneutes Scheitern bei der Umverteilung von Land würde die ohnehin bestehende Frustration der Bevölkerung noch verstärken.

Dr. Melanie Müller ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
Laura Kotzur war Praktikantin in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN 1611-6364