Im Arabischen Frühling wurden soziale Medien vor allem als Instrument der Demokratisierung wahrgenommen, in jüngerer Zeit überwiegt ihre Einstufung als Gefahr für die liberale Demokratie. Keines der Urteile ist falsch, meinen Mareike Transfeld und Isabelle Werenfels.
Kurz gesagt, 30.11.2016 Research AreasIm Arabischen Frühling wurden soziale Medien vor allem als Instrument der Demokratisierung wahrgenommen, in jüngerer Zeit überwiegt ihre Einstufung als Gefahr für die liberale Demokratie. Keines der Urteile ist falsch, meinen Mareike Transfeld und Isabelle Werenfels.
Nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ist die potenziell destruktive Rolle sozialer Medien für die liberale Demokratie in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die sozialen Medien, so der Tenor, haben einen Raum der Entfesselung geschaffen, in dem illiberale Werte einschließlich Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie ungezügelt propagiert werden. Russlands augenscheinliche Verwendung sozialer Medien zur Beeinflussung der US-Wahlen hat Internetplattformen wie Twitter den Ruf als neues, potentes und »aggressives Werkzeug der Außenpolitik« eingebracht.
Nicht zuletzt der Einsatz automatischer Twitter-Accounts, sogenannter Bots, hat negative Sichtweisen auf politische und gesellschaftliche Einflüsse sozialer Medien zusätzlich befördert – sie überfluteten den virtuellen Raum während des US-Wahlkampfs mit Propaganda sowohl des republikanischen als auch des demokratischen Lagers. Vor diesem Hintergrund rückte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel die sogenannten Fake-News und die Gefahr, die deren Verbreitung durch die sozialen Netzwerke für die demokratische Meinungsbildung darstellt, in den Mittelpunkt ihrer Rede im Bundestag in der vorigen Woche.
Diese Wahrnehmung sozialer Medien als Instrumente für sogenannte »identity politics« und als Multiplikatoren von Fake-News steht im krassen Gegensatz zum Hype um soziale Netzwerke, der 2011 im Kontext des sogenannten Arabischen Frühlings im Nahen Osten und in Nordafrika entstand. Damals sprachen Sozialwissenschaftler noch von Befreiungstechnologien und schrieben Facebook und Twitter einen demokratisierenden Effekt zu: Sie galten als Vehikel von Zivilgesellschaften für die Mobilisierung gegen autoritäre Herrscher und als Plattform, die politische Partizipation in bislang unerreichten Dimensionen ermöglichte.
Überhöht und verteufelt – beides richtig und falsch
Neuere Studien zum Nahen Osten und zu Nordafrika indes zeichnen ein differenziertes und problematischeres Bild der Funktion sozialer Medien für Gesellschaft und Politik, etwa wenn es um deren propagandistische Nutzung durch die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) geht. Keine der Sichtweisen auf soziale Medien, weder die überhöhende noch die verteufelnde, liegt falsch.
Unsere eigene Forschung zu Twitter-Debatten im arabischen Raum hat gezeigt, wie vielfältig und oft auch paradox soziale Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse einwirken. Der jeweils spezifische Effekt hängt stark vom lokalen Kontext einer Debatte und den Nutzernetzwerken ab, die sich in einer bestimmten Debatte engagieren. Die Analyse von Twitter-Debatten um Vergewaltigungen auf Kairos Tahrir-Platz im Sommer 2014, um Anti-Fracking-Proteste in Südalgerien und um Saudi-Arabiens Militärintervention im Jemen im Frühjahr 2015 hat uns die ambivalente Wirkkraft von Twitter auf Politik und Gesellschaft gezeigt.
Um diese diffuse Wirkkraft zu verstehen, ist es wichtig zu begreifen, dass Twitter trotz seines transnationalen Charakters durch die Herausbildung von Netzwerken entlang unterschiedlicher Linien in viele kleinere Kommunikationsräume geteilt ist, und zwar nicht nur aufgrund von Sprach- und Dialektbarrieren. In den drei Debatten, die wir analysiert haben, waren Nationalstaaten mit der wichtigste Referenzpunkt. Immer wenn Themen aus anderen nationalen Kontexten aufgenommen wurden, haben Twitter-Nutzer diese im eigenen nationalen Kontext reinterpretiert. Beispielsweise haben libanesische Twitter-Nutzer die saudische Militäroperation im Jemen genutzt, um ihre eigenen konfessionellen Loyalitäten im eigenen nationalen Kontext auszudrücken. Dies löste eine separate, aber lokale Twitter-Debatte aus. Globale Umweltaktivisten nutzten die Frackingdebatte in Algerien als Sprungbrett für Anti-Fracking-Mobilisierung im eigenen nationalen Kontext. Gleichzeitig zeigten unsere Fallstudien, dass Themen nur vom einen zum anderen Kontext überspringen, wenn sie lokal auf einen Resonanzboden stoßen. Die Versuche ägyptischer und tunesischer Nutzer, Anti-Fracking-Debatten in den eigenen Ländern auszulösen, scheiterten.
Wenn Twitter transnationale Brücken baut, dann zwischen Gleichgesinnten. In Algerien schaffte Twitter Solidaritätsnetzwerke zwischen unterschiedlichen marginalisierten Gruppen in der Peripherie und Aktivisten in der Hauptstadt. Es bildete sich über Twitter auch ein Netzwerk gegen sexuelle Belästigung, das Aktivisten in unterschiedlichen arabischen und westlichen Ländern verband. Der dominante Trend war, dass sich via Twitter konfessionelle, ethnische, religiöse, ideologie- oder wertebasierte »virtuelle Stämme« bildeten – und gegenseitig aufstachelten.
Marginale Stimmen werden verstärkt – oder verdrängt
Konflikte in der physischen Welt spiegeln sich nicht nur in den Onlinediskursen, sondern werden hier oft verstärkt. Das stark eingeschränkte Format von Twitter zwingt Nutzer, zugespitzte Aussagen zu machen. Folglich wird in Twitter-Nachrichten weniger Zurückhaltung geübt als in traditionellen Medien. Und Debatten, die sich scheinbar nur um ein Thema drehen, entwickeln sich schnell zu politisierten, ideologisch hoch aufgeladenen Diskussionen, die Geschichtstraumata, gegenwärtige gesellschaftliche Konfliktlinien und Verhandlungen von (nationaler) Identität offenlegen. In unseren Fallbeispielen hat Twitter oft vereinfachte Vorstellungen des »Anderen« oder des »Feinds« verstärkt.
In Algerien beispielsweise hat die Twitter-Debatte den Spalt zwischen dem »Regime« und der »Bevölkerung« akzentuiert. In der Debatte um sexuelle Belästigung in Ägypten trieben die ideologisch aufgeladene Sprache und die offenen Konflikte auf Twitter zwischen Unterstützern des Präsidenten Abdel Fattah al-Sissi und der Muslimbruderschaft den gesellschaftlichen Spalt tiefer. Genauso hat die Debatte über die saudische Intervention im Jemen die konfessionellen Konflikte im Golf zementiert. Es wurden nicht moderate und marginale Stimmen durch Twitter verstärkt, sondern saudische Regierungspositionen. Dies untermauerte die Hegemonie Saudi-Arabiens auf der diskursiven Ebene auch auf Twitter.
Umso kleiner und weniger entwickelt eine Twitter-Gemeinschaft in der Region ist, desto dominanter sind die zivilgesellschaftlichen Aktivisten und gegenwartskritische Stimmen. Solche kleinen Gemeinschaften existieren noch immer in Algerien, Marokko, Tunesien oder Jordanien. In Staaten wie Saudi-Arabien, wo die Twitter-Community gemessen an der Bevölkerung in der arabischen Welt am größten ist, oder Ägypten sieht es anders aus. Mit dem rapiden Wachstum von Twitter und dessen steigender Sichtbarkeit haben auch die Regierungsbemühungen stark zugenommen, digitale Freiheiten zu beschneiden und aktiv – nicht zuletzt mittels Bots – Propaganda zu betreiben. Dadurch wurden moderate Stimmen oder Menschenrechtsaktivisten marginalisiert. Letzteres aber auch, weil sich mit der zunehmenden Beliebtheit Twitters seit 2011 immer mehr Nutzer bei dem Medium anmeldeten.
Allerdings war in unseren Fällen nicht nur die Anzahl der Follower von Relevanz für den Einfluss eines Nutzers auf eine Debatte. Vielmehr erwies sich die Qualität der Follower als ausschlaggebend. Lokale und internationale Medien, Regierungsbeamte oder große Organisationen als Teil eines Netzwerks halfen, die Wirkung einer bestimmten Botschaft zu verstärken und diese auf die internationale Ebene zu tragen. Im algerischen Fall handelten die lokale Twitter-Gemeinschaft und internationale Medien nicht separat voneinander, sondern standen in ständiger Wechselwirkung. Hier verhalf ein Twitter-Netz von algerischen Aktivistinnen, Anti-Globalisierungsikonen bzw. Umweltaktivistinnen und internationalen Medien einem Ereignis fernab der Weltöffentlichkeit zu internationaler Sichtbarkeit.
Die Probleme sind offline
Die Kehrseite der Sichtbarkeit von Twitter-Debatten sind Manipulationsversuche. In der saudischen Interventionsdebatte begannen ab April 2015 zwei Nutzer – die angaben, im jemenitischen Sanaa zu sitzen, und mehr als 100,000 Follower haben –, die arabische Debatte zu dominieren. Sie setzten über Twitter prosaudische Nachrichten ab und diffamierten den Gegner der Saudis, die Huthis, in Sanaa. Durch die große Anzahl von Followern, die zum großen Teil in den Golfstaaten saßen, konnten diese Accounts die Debatte stark beeinflussen. Gegen die Überzahl von Twitter-Nutzern aus den Golfstaaten hatte ein Pro-Huthi-Diskurs kaum eine Chance. Hinzu kommt, dass sich hinter einem Teil der saudischen Twitter-Accounts keine Menschen, sondern Bots verbargen, die über die Masse die Stimmung in eine bestimmte Richtung lenkten.
Die Bandbreite an Themen und Informationen in den sozialen Medien ist in der gesamten arabischen Welt breiter als in den klassischen, meist staatlich kontrollierten Medien, denen in der Regel nicht allzu viel Faktentreue unterstellt werden kann. Obwohl Zensur sozialer Medien besonders in Saudi-Arabien und Ägypten ausgeprägt ist, bietet gerade Twitter Oppositionellen noch immer einen gewissen Raum, um sich zu äußern. Hier werden Stimmen und Forderungen von marginalisierten Gruppen oder Menschenrechtsaktivisten nach wie vor verstärkt, und selbst ein Abdel Fattah al-Sissi sah sich 2014 infolge der Debatten in den sozialen Medien gezwungen, sich zu den sexuellen Übergriffen zu verhalten.
In autoritären Staaten existieren in den sozialen Medien moderate und liberale Positionen neben radikalen und illiberalen, findet sich faktentreue Aufklärung über politische Entwicklungen neben politischer Desinformation und radikaler Propaganda. Es darf also nicht verwundern, wenn in liberalen Demokratien die Infrastruktur dieser Medien – im Bestreben, Diskurse zu beeinflussen und zu manipulieren – auch von jenen mit illiberalen Einstellungen genutzt wird.
Dieses durchaus gemischte Bild der politischen Stoßrichtungen und der Effekte von Twitter-Debatten zeigt, dass pauschale Verurteilungen sozialer Medien genauso wenig angebracht sind wie deren Überhöhung. Die negativen Auswirkungen von Twitter hängen nicht nur mit der Plattform, sondern auch mit den politischen und gesellschaftlichen Einstellungen ihrer Nutzer zusammen. Da beide in einer Wechselbeziehung stehen, sind destruktive Einflüsse des Mediums auch ein Symptom von Problemen, denen offline begegnet werden muss.
Isabelle Werenfels leitet die Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika der SWP. Sie forscht zur Politik und Gesellschaft Nordafrikas. Mareike Transfeld ist Doktorandin an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies an der Freien Universität Berlin. Sie promoviert zu Identitätskonstruktionen in jemenitischen Facebook-Diskursen.
Der Text ist zuerst bei Zeit.de erschienen.