Im Juni 2020 sagte die saudi-arabische Regierung die jährliche »große Pilgerfahrt« (»Hajj«) nach Mekka für alle aus dem Ausland anreisenden Gläubigen ab. Schon Ende Februar hatte sie die »Umra« genannte »kleine Pilgerfahrt« ausgesetzt. Damit hat die Corona-Krise bewirkt, dass neben den Einkünften aus dem Ölexport auch die zweitwichtigste Einnahmequelle der saudi-arabischen Regierung schwer getroffen ist, auf die sie selbst in Krisenzeiten meist bauen konnte. Das Jahr 2020 dürfte zum Epochenjahr der Geschichte Saudi-Arabiens werden, denn der zeitweilige dramatische Verfall der für seine Wirtschaft so wichtigen Erdölpreise seit Frühjahr reduzierte die Staatseinnahmen so drastisch, dass das Königreich zu Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen griff, um die Krise abzufedern. Trotzdem setzt Kronprinz Muhammad Bin Salman auf Kontinuität, indem er sein immens teures wirtschaftliches Reformprogramm »Vision 2030« fortführt, seine aggressive antiiranische Regionalpolitik weiterverfolgt – bisher einschließlich des Krieges im Jemen – und unvermindert moderne Waffensysteme für die saudischen Streitkräfte kaufen lässt. Diese Politik wird das Königreich rasch an die Grenzen seiner finanziellen Belastbarkeit bringen und dazu zwingen, Prioritäten zu setzen.
Auf die ersten Anzeichen, dass die Covid-19-Pandemie auch den Nahen Osten erreicht hatte, reagierte die saudi-arabische Regierung mit raschen und weitreichenden Maßnahmen, um das Virus auf aggressive Weise einzudämmen. Sie profitierte davon, dass es sich im Februar zunächst in Iran und erst von dort auf weitere nahöstliche Länder verbreitete, so dass sie mehr Zeit hatte als der große und mit der Seuche heillos überforderte Rivale.
Schon früh wurde deutlich, dass der wichtigste Ansteckungsherd in Iran das religiöse Zentrum in Qom war, mit seinem Schrein der schiitischen Heiligen Fatima al‑Ma‘suma (der Schwester des achten zwölferschiitischen Imam Reza) und seinen zahlreichen religiösen Bildungsstätten. Da Saudi-Arabien mit Mekka und Medina zwei ungleich größere und wichtigere Pilgerstätten beherbergt, kamen die ersten saudi-arabischen Maßnahmen schon mehrere Tage bevor am 2. März der erste Ansteckungsfall im Land bekannt wurde. Die »kleine Pilgerfahrt« (»Umra«), bei der Muslime außerhalb der Pilgersaison anreisen, wurde ausgesetzt, die Heiligtümer in Mekka und Medina wurden geschlossen. Vor allem die Absage der »Umra« war wichtig, weil im Fastenmonat Ramadan, der dieses Jahr vom 24. April bis zum 23. Mai dauerte, traditionell besonders viele Gläubige nach Mekka und Medina pilgern. Zu den Maßnahmen der ersten Tage gehörte außerdem Anfang März die vollständige Abriegelung der schiitisch bewohnten Stadt Qatif in der saudi-arabischen Ostprovinz. Dort waren die ersten Covid-19-Fälle aufgetreten. Die Betreffenden hatten sich bei Besuchen in Iran und im Irak angesteckt.
Trotz der stark religiösen Prägung Saudi-Arabiens scheinen sich die mit der Krise befassten Fachleute in der Regierung ohne Probleme durchgesetzt zu haben. Dies ist unter anderem eine Folge der Machtübernahme durch den Kronprinzen Muhammad Bin Salman, der den Einfluss der immer noch mächtigen Religionsgelehrten weiter zurückgedrängt hat als seine Vorgänger. Obwohl davon auszugehen ist, dass viele von ihnen die Maßnahmen in Mekka und Medina ablehnten, wurde kein Widerspruch laut. Überdies hat die Regierung und dort in erster Linie das Pilgerfahrtsministerium – das seit langem als für saudi-arabische Verhältnisse besonders leistungsstarke Behörde gilt – viel Erfahrung mit dem Management von Seuchen und ist sich der Gefahren bewusst, die der Ausbruch einer Epidemie unter Pilgern birgt. In den letzten Jahren gelang es ihr, die Ausbreitung von MERS, Ebola und des auch in Saudi-Arabien auftretenden Rifttalfiebers zu verhindern. Maßnahmen, die Riad schon 2012 und 2013 gegen die Atemwegserkrankung MERS ergriffen hatte, halfen auch bei der Vorbereitung auf Covid-19.
Parallel zum Auftreten der ersten Fälle verhängte die Regierung in den meisten Städten eine vollständige Ausgangssperre. Reisen zwischen den Provinzen wurden untersagt. Schulen, Universitäten, Einkaufszentren, Restaurants, Moscheen und weitere öffentliche Gebäude wurden geschlossen. Der internationale und nationale Flugverkehr wurde fast komplett eingestellt. Bis kurz vor Beginn des Ramadan blieben die Ansteckungen mit etwa 1 200 pro Tag in einem Rahmen, welcher der Regierung als tolerabel erschienen sein muss, denn König Salman kündigte für den Fastenmonat Lockerungen an. Die Folgen waren rasch zu beobachten: Innerhalb von knapp einem Monat verdoppelte sich die Zahl der täglichen Neuansteckungen, und die Zahl der Fälle insgesamt vervierfachte sich auf 60 000.
Zwar entschied sich die Regierung kurz vor Ende des Ramadan, die Ausgangsbeschränkungen zu verschärfen, doch zwischen Ende Mai und Ende Juni folgten mehrere weitere Lockerungsschritte. Unter anderem wurden die Moscheen nach drei Monaten wieder geöffnet. Anfang Juli 2020 waren bereits über 200 000 Menschen infiziert, mehr als 2 000 gestorben, und die Fallzahlen stiegen täglich um 3 000–4 000 an. Das im nahöstlichen Vergleich gute Gesundheitssystem näherte sich offenbar den Grenzen seiner Kapazitäten, denn trotz gefährlicher Symptome wurden die ersten Patienten abgewiesen. Ein Grund für den erneuten Ausbruch war, dass Saudi-Arabien weniger testete als Länder, die eine zweite Welle (zunächst) verhindern konnten. Dass die Todeszahlen niedrig lagen, ist auf die verhältnismäßig gute Ausstattung vieler Krankenhäuser zurückzuführen, die wegen MERS auf Atemwegserkrankungen vorbereitet waren. Zudem waren in den ersten Monaten häufig ausländische Arbeitskräfte betroffen, die relativ jung und gesund waren, so dass sie nicht an der Krankheit starben.
Einbruch der Öleinnahmen
Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind in Saudi-Arabien bisher weitaus gravierender als die gesundheitlichen. Dies gilt zwar fast weltweit, aber das Königreich wurde aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur besonders hart getroffen. Fast 90 Prozent seiner Einkünfte stammen aus dem Erdölexport, und die Ölpreise fielen seit März auf das niedrigste Niveau seit Jahrzehnten.
Saudi-Arabien benötigt ein Preisniveau von 75 bis 90 US-Dollar pro Barrel, um seinen Haushalt bestreiten zu können. Zwischen 2005 und 2014 lagen die Preise meist darüber, so dass das Königreich sogar Reserven anlegen konnte. Doch das Ende der Hochpreisphase, als der Preis zunächst auf um die 50 Dollar abstürzte und sich von da an nicht mehr erholte, führte zu finanziellen Engpässen. Die ambitionierte Regionalpolitik des neuen Königs Salman und seines Kronprinzen Muhammad, groß angelegte Wirtschaftsreformen, Waffenkäufe und der Krieg im Jemen waren so teuer, dass sie die Reserven von 2015 bis Anfang 2020 von rund 750 auf 500 Milliarden Dollar schrumpfen ließen. Die saudi-arabische Führung reagierte, indem sie Subventionen für Benzin, Wasser und Strom kürzte und Anfang 2018 erstmals eine Mehrwertsteuer einführte, und zwar in Höhe von 5 Prozent.
Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie bewirkte, dass die Nachfrage nach Öl beträchtlich sank. Die Folge war ein beispielloser Preisverfall im Frühjahr 2020. Im März und April lag der Ölpreis mehrmals bei deutlich unter 20 Dollar pro Barrel. Hatte der durchschnittliche Preis im Jahr 2019 noch etwa 64 Dollar betragen, ist in den meisten Prognosen für 2020 von 30–40 Dollar die Rede. Dass die Preise so tief sanken, lag auch an der saudi-arabischen Politik, die kurz nach Beginn der Krise die Ölproduktion ausweitete. Grund für diese scheinbar absurde Maßnahme war ein Konflikt mit Russland, der Anfang März ausgebrochen war. Bei Gesprächen der OPEC+ – einem 2016 entstandenen Format, bei dem die OPEC Russland in ihre Beratungen einbezog – forderte Saudi-Arabien, dass Russland sich an Produktionskürzungen beteilige. Die Führung in Riad war davon überzeugt, dass sie in den letzten Jahren zu häufig ihre Förderung reduziert und deshalb Marktanteile an andere Ölexporteure verloren hatte, die sich weigerten nachzuziehen. Auch diesmal lehnte die russische Regierung ab, so dass ein kurzer, aber in seinen Folgen dramatischer Preiskrieg begann.
Die Auseinandersetzung schadete nicht nur den unmittelbaren Kontrahenten, sondern auch den USA, wo fast nur unkonventionelles Öl gefördert wird, dessen Produktion deutlich teurer ist. Der Preiskrieg zwischen Saudi-Arabien und Russland beeinträchtigte die US-Ölindustrie so sehr, dass die Trump-Administration Druck auf Riad ausübte, seine Position zu überdenken. Im April einigten sich Saudi-Arabien und Russland auf eine von beiden getragene Drosselung der Produktion um 9,7 Millionen Barrel pro Tag. Das entsprach fast einem Zehntel der weltweiten Produktion vor der Covid-19-Krise. Diese Übereinkunft galt zunächst für Mai und Juni und wurde später bis Ende Juli 2020 verlängert. Die neue Einigkeit zwischen den beiden wichtigsten Produzenten in der OPEC+ beruhigte die Märkte und stabilisierte die Preise, doch eine Erholung zeichnet sich nicht ab. Vielmehr rechnet die OPEC selbst damit, dass die Nachfrage sich im Jahresdurchschnitt um neun Millionen Barrel pro Tag verringern wird. Da die für Juni erhoffte wirtschaftliche Besserung in vielen Ländern stockte, blieb der Ölpreis unter Druck. Ob und wann er wieder das von Saudi-Arabien angestrebte Niveau von über 80 Dollar erreichen wird, ist völlig ungewiss. Viele Analysten gehen auch für die Jahre nach Abklingen der Pandemie und einer Erholung der Weltwirtschaft eher von Preisen zwischen 50 und maximal 60 Dollar aus. Einige Beobachter sind heute schon der Meinung, dass die Nachfrage nie wieder so hoch sein wird wie 2019.
Die niedrigen Ölpreise bedeuteten eine schwere Krise für Saudi-Arabien, das mit einer Doppelstrategie reagierte. Zum einen versuchte das Königreich, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen durch ein Stimuluspaket abzumildern. Es garantierte den im Privatsektor angestellten und für die Zeit der Krise freigestellten Bürgern 60 Prozent ihres Einkommens und stundete Unternehmern die Zahlung von Mehrwert-, Gewerbe- und Einkommensteuer für drei Monate. Die Regierung sagte auch direkte Hilfszahlungen in Milliardenhöhe zu. Um diese Ausgaben zu ermöglichen, erhöhte Riad das selbst gesetzte Schuldenlimit von 30 auf 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Außerdem nutzte es seine Reserven, die weiter rasant schrumpften – seit Februar um 20 bis 25 Milliarden pro Monat.
Um die dramatischen finanziellen Folgen abzufedern, entschied sich die saudi-arabische Regierung für ein parallel zum Stimuluspaket laufendes Austeritätsprogramm. Sie kündigte an, ab dem 1. Juli 2020 die Mehrwertsteuer auf 15 Prozent zu verdreifachen und schon im Juni die Sonderzahlung von monatlich 260 Dollar einzustellen, die sie Beschäftigten im öffentlichen Sektor bis dato gewährt hatte. Außerdem wurden bereits geplante oder auch laufende Bauprojekte aller Art gestoppt oder aufgeschoben. Finanzminister Muhammad al-Jadaan erklärte dazu, es handle sich um eine »Umwidmung« der Ausgaben, denn mit diesen Maßnahmen sollten 26 Milliarden Dollar eingespart und für das Stimuluspaket und das Reformprogramm »Vision 2030« des Kronprinzen freigemacht werden. Dennoch konnte der Minister nicht verhindern, dass Saudi-Arabien in die Kritik geriet, weil es die Steuern drastisch erhöhte, während andere Regierungen alles in ihrer Macht Stehende taten, um ihre Volkswirtschaften mit Milliardensummen in Gang zu bringen.
»Vision 2030« unter Druck
Die Aussagen des Finanzministers und seine Begründungen für höhere Steuern, Subventionskürzungen und Sparmaßnahmen geben Aufschluss über die Strategie der Regierung. Sie sind ein klares Indiz dafür, dass der Kronprinz fest entschlossen ist, das Programm »Vision 2030« fortzuführen – obwohl ihm bewusst sein dürfte, dass die gewaltigen Folgekosten der Pandemie und die niedrigen Ölpreise dessen Erfolg stark gefährden.
Bin Salman übernahm schon kurz nach der Thronbesteigung seines Vaters im Januar 2015 die faktische Kontrolle über die Wirtschaftspolitik, nachdem er zum Vorsitzenden des neu gegründeten Wirtschafts- und Entwicklungsrats ernannt worden war. Dieser ersetzte den Obersten Wirtschaftsrat und wurde zum zentralen Entscheidungsgremium der saudi-arabischen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ihm untergeordnet sind die Fachministerien, die noch dazu sukzessive mit stark abhängigen Gefolgsleuten des Kronprinzen besetzt wurden. Im April 2016 kündigte dieser unter dem Titel »Vision 2030« groß angelegte Wirtschaftsreformen an. Anlass für diesen Schritt war der Ölpreisverfall von 2014, der sich 2015 bereits dramatisch auswirkte. Damals zeigten sich zum wiederholten Male die Folgen der enormen Abhängigkeit des Landes vom Öl, denn als der Preis für das Barrel Rohöl im Jahresmittel auf rund 50 Dollar fiel, stieg das saudi-arabische Haushaltsdefizit 2015 auf fast 100 Milliarden Dollar. Daher drohten die in der Hochpreisphase von 2005 bis 2014 angehäuften Reserven rasch zu schmelzen. Die Wirtschaftskrise von 2015 zwang die Regierung, viele öffentliche Aufträge zum Stillstand zu bringen, die Mehrwertsteuer einzuführen und Subventionen abzubauen.
Die tieferliegende Ursache für die Reformen war jedoch die Einsicht, dass die Abhängigkeit vom Öl vor dem Hintergrund des anhaltend hohen Bevölkerungswachstums immer mehr zum Problem wurde. Konnte das Königreich Niedrigpreisphasen in der Vergangenheit gut verkraften, weil seine Bevölkerungszahl niedrig war, gilt dies heute nicht mehr. Mittlerweile zählt Saudi-Arabien über 34 Millionen Einwohner, und bei einem Bevölkerungswachstum von jährlich zwei Prozent wird diese Zahl weiter rasch steigen. Rund 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt, und die jungen Leute drängen jedes Jahr mit hohen Erwartungen in einen stagnierenden Arbeitsmarkt. Schätzungen zufolge liegt die Arbeitslosigkeit in dieser Alterskohorte bei bis zu 30 Prozent. Hinzu kommt, dass das Öl seine Rolle als wichtigster Energieträger schon in wenigen Jahrzehnten verlieren dürfte, was die Einnahmen aus dem Ressourcenexport versiegen ließe. Ohne weitreichende Wirtschafts- und Sozialreformen stände Saudi-Arabien in dem Fall fast ohne Einkünfte da.
»Vision 2030« sollte die Abhängigkeit vom Öl reduzieren. Ausgangspunkt der Reform sollte die Teilprivatisierung des staatlichen Ölkonzerns Aramco werden, bis heute die bedeutendste Ölfirma der Welt. Der zunächst erwartete Erlös von mehr als 100 Milliarden Dollar sollte in den Public Investment Fund (PIF) fließen, der etwa die Hälfte der neuen Einnahmen im Ausland investieren würde, um Dividenden zu erwirtschaften. Die andere Hälfte sollte für den industriellen Umbau des Königreichs und die Förderung der Privatwirtschaft bereitgestellt werden. Auf diese Weise, so versprach Bin Salman, werde er über eine Million Arbeitsplätze für Saudis im Privatsektor schaffen. Die »Saudisierung« des Wirtschaftslebens war dem Kronprinzen besonders wichtig, weil die etwa 10 Millionen Arbeitskräfte in der Privatwirtschaft zu 80 Prozent Ausländer sind, die einen Großteil ihrer Löhne in ihre Heimatländer transferieren. Die meisten Staatsbürger bevorzugen den öffentlichen Sektor als Betätigungsfeld, denn er ist mit Abstand wichtigster Arbeitgeber im Land und lockte – zumindest vor der Ära des Kronprinzen – mit hohen Gehältern und geringem Arbeitsaufwand.
Der saudi-arabische Staatsfonds PIF wurde zum Motor der Entwicklung auserkoren. Folgerichtig übernahm der Kronprinz schon im Frühjahr 2015 die Kontrolle über die Institution und installierte loyale Gefolgsleute, angeführt von Yasir al-Rumayyan, der zum Direktor des PIF und 2019 auch zum Vorsitzenden von Aramco avancierte. Zuvor sehr konservativ geführt, soll der Fonds künftig die saudischen Projekte von »Vision 2030« leiten, neue Industrien gründen und Geld international investieren. Mit einem Anlagevermögen von 320 Milliarden Dollar wurde er sofort weltweit aktiv und gab als Ziel aus, das Vermögen bis zum Jahr 2030 auf zwei Billionen Dollar zu steigern. Zwar wurde der Ölkonzern Aramco bei seinem Börsengang im Dezember 2019 zum größten börsennotierten Unternehmen der Welt, doch wurde das Vorhaben aufgegeben, Aramco an die New Yorker Börse zu bringen, so dass man auf Riad ausweichen musste. Es fanden sich nur wenige ausländische Investoren, weil die Einnahmen von Aramco seit 2014 zurückgegangen waren. Viele befürchten, dass der Klimawandel die Nachfrage nach Öl und Gas bald drücken wird. Zudem hat ein iranischer Angriff auf die saudischen Ölanlagen von Abqaiq und Khurais im September 2019 Zweifel an der Sicherheit am Persischen Golf geweckt.
Unter Bin Salman investierte der Staatsfonds in bis dahin ungekanntem Ausmaß in Unterhaltung, Tourismus und Energie. Das Leuchtturmprojekt des neuen Saudi-Arabien sollte die futuristische Retortenstadt Neom werden, die auf der saudi-arabischen Seite am Südende des Golfs von Aqaba errichtet werden und den Planungen zufolge 500 Milliarden Dollar kosten soll. Die Stadt soll ihren Energiebedarf ausschließlich aus Sonnen- und Windenergie beziehen, Dienstleistungen von Robotern anbieten und in einem angeschlossenen Technologiepark die wirtschaftliche Diversifizierung des Landes vorantreiben. Bin Salman hofft in Neom das künftige wirtschaftliche Kraftzentrum Saudi-Arabiens aufzubauen. Die saudi-arabische Regierung folgt mit diesem Vorhaben und ihrem Reformprojekt dem Beispiel der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Dort hat sich Dubai innerhalb nur weniger Jahrzehnte als Handels- und Finanzzentrum des Nahen Ostens etabliert. Vielleicht noch wichtiger für Bin Salman ist das Vorbild Abu Dhabi, wo Kronprinz Muhammad Bin Zayid seit Mitte der 2000er Jahre auf eine Diversifizierung der Wirtschaft des ölreichen Emirats setzt und sich zu diesem Zweck mehrerer Staatsfonds bedient.
Als die Covid-19-Krise auch Saudi-Arabien erfasste, wurden Zweifel an diesem Entwicklungsmodell immer lauter. Doch das Königreich hält unbeirrt Kurs. Klares Anzeichen dafür ist vor allem, dass der PIF gerade in der Krise Milliarden in Beteiligungen an internationalen Unterhaltungs-, Tourismus- und Energieunternehmen und in die Digitalwirtschaft investierte. Dass auch die Megaprojekte von »Vision 2030« weiterverfolgt werden, lässt sich Äußerungen des Finanzministers entnehmen, der Bau von Neom werde sich aufgrund der Covid-19-Krise lediglich etwas verzögern. Die Ambitionen des Kronprinzen sind also ungebrochen, doch ist kaum zu sehen, wo das Geld für Projekte wie Neom künftig herkommen soll, wenn die Ölpreise nicht auf Dauer steigen. Setzt sich der gegenwärtige Trend über einige Jahre fort, werden die immer noch hohen Devisenreserven schnell aufgebraucht sein.
Ruinöser Krieg im Jemen
Die finanziellen Probleme Saudi-Arabiens gehen auch auf die aggressive Regionalpolitik des Kronprinzen zurück, die sich allerdings schon vor seinem Aufstieg abzeichnete. Seit 2011/12 hat sich der Konflikt zwischen dem Königreich und Iran dramatisch verschärft und Züge eines regionalen »Kalten Krieges« angenommen. Die Führung in Riad stellte sich der iranischen Expansion zunächst in Syrien und anschließend im Jemen entgegen, weil sie eine Einkreisung befürchtete und glaubte, einen iranischen Anspruch auf Hegemonie im Nahen Osten kontern zu müssen. Seit 2015 ist der Jemen zum wichtigsten Austragungsort des Konflikts zwischen den beiden Regionalmächten geworden. Die für Saudi-Arabien enorm hohen Kosten entpuppten sich seit Frühjahr 2020 erstmals als Problem.
Zu Beginn ihrer Jemen-Intervention im März 2015 schien die saudi-arabische Regierung keine genaue Vorstellung zu haben, wie lange der Krieg dauern würde. Erklärtes Ziel war es, die Huthi-Rebellen, die im September 2014 die Macht in Sanaa übernommen hatten und im Frühjahr 2015 auch in Aden standen, aus der Hauptstadt zu vertreiben und die international anerkannte Regierung von Präsident Abdrabbuh Mansur Hadi wieder einzusetzen. Da es der Koalition mit Saudi-Arabien an der Spitze von vornherein an Bodentruppen fehlte, entstand trotz ihrer waffentechnischen Überlegenheit ein Patt, das bis 2018 anhielt. Erst als Saudi-Arabien, die VAE sowie jemenitische Einheiten und Milizen eine gemeinsame Offensive auf die Hafenstadt Hudaida an der Westküste des Jemen starteten, schöpfte Riad Hoffnung auf ein siegreiches Ende des Krieges. Über Hudaida läuft die Versorgung des nordjemenitischen Hochlands. Deshalb glaubten die Verbündeten, nach Einnahme der Stadt die Huthis zu Verhandlungen und idealerweise zum Rückzug aus Sanaa zwingen zu können. Dass dies nicht gelang, lag in erster Linie am Druck des US-Kongresses, der nach dem Mord an dem saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 auf ein Ende des Krieges und eine Verhandlungslösung drängte. Ende des Jahres brachen Saudi-Arabien und die VAE den Angriff ab, nachdem sie schon Teile der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten.
Die Lage verschlechterte sich aus saudi-arabischer Sicht, weil die VAE im Juli 2019 einen raschen Rückzug aus dem Jemen ankündigten. Offenbar sah die Führung in Abu Dhabi keine Möglichkeit mehr, die Huthis zu schlagen. Außerdem setzte sie im Konflikt mit Iran auf Entspannung, nachdem die Situation seit Frühjahr 2019 dramatisch eskaliert war. Für die VAE besonders gefährlich waren Attacken mit Haftminen auf Öltanker im Golf von Oman nahe der emiratischen Küste im Mai und Juni. Nur Iran kam als Urheber in Frage, und die Angriffe sollten der Führung in Abu Dhabi offensichtlich demonstrieren, wie verwundbar die Ölexporte der VAE waren. Das Kalkül ging auf, und der Rückzug aus dem Jemen wurde zum ersten Signal in Richtung Teheran, dass die Emirate ihre Politik änderten und fortan um Entspannung bemüht waren.
Für Saudi-Arabien war die Kehrtwende der VAE besonders gefährlich, weil die Huthis schon seit 2017 saudi-arabisches Territorium bis hin nach Riad mit Raketen angriffen und den Beschuss ab Frühjahr 2019 intensivierten. Mit Drohnen und Marschflugkörpern, die der Iran geliefert hatte, attackierten die Huthis im Juni den Flughafen von Abha im Südwesten des Königreichs. Im August traf es ein Ölfeld nahe der emiratischen Grenze. Die Vorfälle führten allen vor Augen, dass die Huthis sich zu einer Bedrohung für die Sicherheit Saudi-Arabiens entwickelt hatten und Ziele weit jenseits der jemenitischen Grenze treffen konnten. Nun steckte die saudi-arabische Führung in einem Dilemma: Mit dem Rückzug der VAE schwand jede Hoffnung auf einen Sieg. Es wäre einer schweren Niederlage gleichgekommen, hätte Riad den Konflikt in der Situation von 2019 beendet. In den Vorjahren hatte die saudische Führung gebetsmühlenartig wiederholt, dass es ihr darum gehe, die Entstehung einer »jemenitischen Hisbollah« an ihrer Südgrenze zu verhindern. Gemeint war eine gegnerische Organisation unter iranischem Einfluss, die wie die libanesische Gruppierung gegenüber Israel in der Lage war, ihren mächtigen Nachbarn mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen zu bedrohen. Nach mehr als vier Jahren Krieg hatten sich die Huthis aber zu genau solch einer Organisation entwickelt. Für den Fall, dass Saudi-Arabien den Krieg nicht beendete, drohten die Angriffe auf Saudi-Arabien schwere Schäden an Ölanlagen und in den großen Bevölkerungszentren anzurichten, ohne dass das saudi-arabische Militär über wirksame Gegenmittel verfügte.
Deshalb begann die saudi-arabische Führung mit den Huthis im November 2019 in Oman indirekte Gespräche, die während der Corona-Krise fortgesetzt wurden. Ab Frühjahr 2020 wurden auch die hohen Kosten des Krieges zum Problem. In den Jahren zuvor hatte Saudi-Arabien kein Interesse an einer schnellen Beendigung des Konflikts gezeigt. Offenbar glaubte die Führung in Riad bis 2019, auch eine längere militärische Auseinandersetzung finanzieren zu können. Dabei waren die Aufwendungen des Königreichs für den Jemen-Krieg gewaltig: Schätzungen zufolge handelte es sich um jährlich 60 Milliarden Dollar und mehr. Dies musste das Kosten-Nutzen-Kalkül des Kronprinzen in der Krise beeinflussen. Die Zahl der saudi-arabischen Luftangriffe ging zwar schon 2019 deutlich zurück, doch eine Lösung des Konflikts zeichnete sich nicht ab. Bis Juni 2020 war unklar, ob die Krise den Kronprinzen zu einer neuen, zurückhaltenderen Sicherheitspolitik zwingen würde. Nachrichten über unvermindert fortgesetzte Waffenkäufe in den USA sprachen dagegen.
Kontinuität unmöglich
Die ersten Reaktionen der saudi-arabischen Führung auf die Covid-19-Krise weisen darauf hin, dass Riad, soweit irgend möglich, auf Kontinuität setzt. Der Kronprinz führt sein wirtschaftliches Reformprogramm ebenso fort wie die aggressive Regionalpolitik, die in erster Linie gegen Iran gerichtet ist, aber im Jemen-Krieg ihren sichtbarsten Ausdruck findet. Die ersten Maßnahmen, etwa die Verschiebung von Projekten im Kontext von »Vision 2030«, und etliche Berichte über stornierte Aufträge im Bausektor zeigen, dass die Regierung bereit ist, das Tempo der Veränderungen zu reduzieren. Auf der anderen Seite belegen die zahlreichen Investitionen, dass Riad die Diversifizierung weiter vorantreibt, auch wenn die Kosten angesichts wachsender Schulden und schwindender Reserven sehr hoch erscheinen. Ähnlich ambivalent ist das Bild in der Sicherheitspolitik. Einerseits sind die Jemen-Verhandlungen ein Indiz dafür, dass der Kronprinz Entspannungspolitik gegenüber den Huthis und Iran betreibt. Andererseits lassen die fortgesetzten Käufe von Waffen und Munition vermuten, dass Bin Salman die Sicherheit des Königreichs dauerhaft bedroht sieht.
Die Absage der Pilgerfahrt Ende Juli 2020 dürfte aber auch den optimistischsten Planern in Riad verdeutlichen, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise des Königreichs die Regierung zwingen wird, Prioritäten zu setzen. Der religiöse Tourismus ist nach dem Öl die wichtigste Einnahmequelle des Königreichs. Endet der Jemen-Krieg nicht bald, wird zu wenig Geld für »Vision 2030« verfügbar sein. Allerdings steht zu erwarten, dass Saudi-Arabien auch nach einem Ende der Kämpfe seine Aufrüstung der letzten Jahre fortsetzt. Dafür spricht schon die Tatsache, dass Iran mit seinen Angriffen auf die saudische Ölinfrastruktur im September 2019 öffentlich gemacht hat, wie verwundbar das Königreich ist. Aus diesen Gründen dürfte Saudi-Arabien in den nächsten Jahren hohe Haushaltsdefizite erzeugen, so dass auch seine Reserven schnell aufgebraucht sein könnten.
In der Krise erweist sich, dass die Reformen des Kronprinzen zu spät kommen und zu einseitig auf staatlicher Intervention beruhen. Schon seit den 1980er Jahren war bekannt, dass die Öleinnahmen allein nicht ausreichen würden, um genug Arbeitsplätze für die damals noch schneller als heute wachsende Bevölkerung Saudi-Arabiens zu schaffen. In der Hochpreisphase von 2005 bis 2014 waren die Anreize für Reformen zu gering, doch die strukturellen Probleme verschärften sich, da die Bevölkerungszahl sich weiter erhöhte. Erst Bin Salmans Aufstieg und der Verfall des Ölpreises 2015 ermöglichten zielgerichtete Veränderungen. Doch der Handlungsspielraum war wesentlich kleiner als zu früheren Zeiten, weil das Bevölkerungswachstum anhielt und die seit 2011 schwelenden Krisen in der Region viel Geld kosteten – zum Beispiel Unterstützungszahlungen für bedrängte Verbündete wie Ägypten, Marokko, Jordanien und Bahrain oder der Krieg im Jemen. Überdies konzentrierte sich Bin Salman zu sehr auf staatliche Interventionen. Wie in den VAE wollte er mit Milliardeninvestitionen einen Privatsektor schaffen, der unabhängig von Öleinnahmen ist. Das mag in den VAE ansatzweise gelungen sein, doch die Diversifizierung dort begann Jahrzehnte früher, und die Bevölkerungszahl ist weitaus geringer, nämlich knapp 10 Millionen, davon rund eine Million Staatsbürger. Die ökonomischen Folgen der Covid-19-Krise offenbaren, dass für den anvisierten wirtschaftlichen Umbau Saudi-Arabiens (mit seinen 34 Millionen Einwohnern, darunter etwa 26 Millionen Staatsbürger) das Geld wahrscheinlich nicht reichen wird.
Ob die wirtschaftlichen Probleme des Jahres 2020 die Stabilität des Landes beeinträchtigen, lässt sich hingegen noch nicht absehen. In Phasen niedriger Ölpreise während der 1980er und 1990er Jahre entwickelte sich in Saudi-Arabien eine starke islamistische Opposition. Auch jetzt ist damit zu rechnen, dass viele Saudis mit Unmut auf die hohe Arbeitslosigkeit und die Kürzung von Subventionen reagieren. Doch seit dem Aufstieg Bin Salmans ist der Spielraum für Opposition stark geschrumpft. Der Kronprinz forciert rücksichtslose Repression, so dass es kaum mehr möglich ist, abweichende Meinungen öffentlich zu äußern. Er hat auch die alleinige Kontrolle über alle Sicherheitskräfte, so dass ein Staatsstreich unwahrscheinlich ist – es gibt zumindest keine Anzeichen für Unzufriedenheit in deren Reihen. Gefahr für das Regime droht nur dann, wenn Bin Salman als zentraler Akteur ausfällt. Faktisch hat er sich zum Alleinherrscher aufgeschwungen und wird König werden, sobald sein Vater stirbt oder den Thron freiwillig aufgibt. Die Onkel und Cousins des Kronprinzen sind mit dieser Situation alles andere als einverstanden, spielen seit 2017 aber keine politische Rolle mehr – weil sie ihre Ämter verloren haben und teils sogar unter Hausarrest stehen.
Auch für Deutschland ist die Wirtschaftskrise in Saudi-Arabien ein Problem. Nicht nur ist das Land neben den Vereinigten Arabischen Emiraten der wichtigste Exportmarkt im Nahen Osten. Es ist außerdem die mit Abstand wichtigste Führungsmacht der arabischen Welt, ohne die eine Lösung vieler regionaler und globaler Probleme nicht möglich ist – man denke nur an die Energie- und Klimapolitik, die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus und den israelisch-palästinensischen Konflikt. Die aggressive Außenpolitik des Kronprinzen zwischen 2015 und 2019 mag eine Zusammenarbeit erschwert haben. Doch dies ändert nichts daran, dass das Land prowestlich orientiert und ein Partner Deutschlands ist.
Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika.
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doi: 10.18449/2020A64