Russland hat bisher knapp 200 000 russische Pässe an Ukrainerinnen und Ukrainer aus den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk vergeben. Damit untergräbt es den Minsker Friedensprozess. Die Passportisierung des Donbas ist Teil eines erprobten außenpolitischen Instrumentariums. Mit ihm erschwert Russland gezielt die Beilegung ungelöster Territorialkonflikte im postsowjetischen Raum mittels kontrollierter Instabilität. Durch diesen demonstrativen Eingriff in die staatliche Souveränität übt Russland Druck auf die ukrainische Zentralregierung in Kyjiw aus. Innenpolitisch verfolgt Russland das Ziel, durch Zuwanderung dem natürlichen Bevölkerungsschwund im eigenen Land entgegenzuwirken. Wegen des Krieges in der Ostukraine migrierten immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer nach Russland; dies war einer der Gründe für die Neufassung der russischen Migrationsstrategie im Jahr 2018. Die Liberalisierung der Gesetzgebung über Staatsangehörigkeit zielt insbesondere auf die Ukraine ab. Indem Russland die Lösung des Konflikts verschleppt, erreicht es zwei Ziele auf einmal: Erstens behält Moskau über den Donbas dauerhaft Einfluss auf die Ukraine, zweitens wird Russland für viele Ukrainerinnen und Ukrainer als Einwanderungsland attraktiver.
Gut fünf Jahre nach der Ausrufung der separatistischen »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk im Frühjahr 2014 entschloss sich Russland, die militärische, politische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung der beiden Sezessionsgebiete im Osten der Ukraine um ein zusätzliches, in russischer Lesart »humanitäres« Element zu erweitern. Seit April 2019 können Einwohner der von Separatisten kontrollierten Teile der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk durch ein vereinfachtes Prozedere russische Staatsbürger werden. Ermöglicht hat dieses Schnellverfahren ein Präsidialerlass Wladimir Putins, der die Einbürgerung beschleunigt; vorher dauerte sie mindestens acht Jahre, jetzt weniger als drei Monate.
Russland betont, die Pass-Initiative habe humanitäre Gründe. Sie solle Leben und Mobilität jener erleichtern, die keinen ukrainischen Pass haben oder ihn nicht verlängern können. Gleichzeitig handle es sich um eine rein »praktische Maßnahme«, die in keinerlei Widerspruch zum Minsker Abkommen über die Befriedung der Ostukraine stehe. Der damalige ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin stuft die Passportisierung indes als Verletzung der staatlichen Souveränität und als weitere Etappe der »Okkupation« seines Landes ein. Der Europäische Rat stellt in seinen Schlussfolgerungen vom 20. Juni 2019 fest, dass die Passportisierung sowohl dem »Geist als auch den Zielen« des Minsker Abkommens widerspreche. Im Oktober 2019 hat die EU-Kommission mit einem Leitfaden die Grundlage geschaffen für eine Nichtanerkennung der Pässe durch die Mitgliedstaaten.
Zwei Umstände lassen darauf schließen, dass sich Russland dauerhaft Einfluss über die beiden separatistischen Gebiete sichern will, ohne unmittelbar eine Annexion anzustreben: erstens frühere Fälle von Passportisierung – verstanden als massenweise, extraterritoriale Einbürgerung – von Sezessionsgebieten in Abchasien und Südossetien (Georgien) sowie Transnistrien (Republik Moldau), zweitens die extraterritoriale Ausführung durch die Migrationsbehörde des russischen Innenministeriums, die eine grenzübergreifende Infrastruktur zur Passportisierung des Donbas aufgebaut hat. Ziel Russlands ist vielmehr, die Beilegung des Konflikts zu torpedieren.
Der Passportisierungs-Erlass erschien im Paket mit einem zweiten Präsidialerlass, der denjenigen Ukrainerinnen und Ukrainern aus dem Donbas eine beschleunigte Einbürgerung ermöglicht, die in Russland eine Aufenthaltserlaubnis haben. Russland hat in den Jahren 2019 und 2020 seine Migrationspolitik nachjustiert: Das Konfliktgebiet Donbas dient als Migrationsquelle, um dem eigenen Bevölkerungsschwund und Engpässen auf dem Arbeitsmarkt langfristig zu begegnen.
Terminierung zu den ukrainischen Präsidentschaftswahlen
Die Passportisierung mitten im ukrainischen Präsidentschaftswahlkampf zu lancieren, war eine bewusste Entscheidung: Schon zu Beginn der Amtszeit sollte der neu gewählte ukrainische Präsident unter Druck gesetzt werden. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 31. März 2019 lag der Politneuling Wolodymyr Selenskyj (30,24 %) deutlich vor dem Amtsinhaber Petro Poroschenko (15,95 %). Bei der Stichwahl am 21. April erzielte Herausforderer Selenskyj mit 73 Prozent der Stimmen einen Erdrutschsieg.
Bemerkenswert ist, dass Selenskyj all jene Wahlkreise in der Ostukraine für sich entschied, in denen in der ersten Runde der als prorussisch geltende Kandidat Jurij Bojko die Oberhand hatte (siehe Grafik 1). Selenskyj hatte im Wahlkampf gegenüber den »Volksrepubliken« einen versöhnlicheren Ton angeschlagen als der amtierende Präsident. Frieden und Reintegration waren erklärte Ziele in Selenskyjs Wahlprogramm. Der Kreml musste deswegen davon ausgehen, dass der Ex-Fernsehkomiker mehr Legitimität in der Ostukraine genießen würde als der Hardliner Poroschenko. Zwar wurde in den Sezessionsgebieten nicht gewählt, dennoch war zu erwarten, dass Selenskyjs Wahlerfolg zumindest teilweise auch auf die »Volksrepubliken« ausstrahlen und Russlands Autorität untergraben könnte.
Vereinfachte Einbürgerung hat auch demografische Ursachen
Am 24. April 2019, also nur drei Tage nach der ukrainischen Stichwahl, veröffentlichte der Kreml den Erlass Nr. 183. Er erlaubt jenen Personen die vereinfachte Einbürgerung, die ihren ständigen Wohnsitz in den Gebieten des Donbas haben, die nicht unter Kontrolle der ukrainischen Zentralregierung stehen (NRKG; siehe Grafik 2, Seite 5). Nachgewiesen werden muss der Wohnsitz mit Ausweispapieren, die von den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk ausgestellt worden sind; Russland erkennt sie seit Februar 2017 an. Am 29. April erweiterte Putin in einem zweiten Erlass (Nr. 187) den Kreis der zu dem vereinfachten Verfahren berechtigten Personen. Seitdem gilt es auch für jene, die ihren Wohnsitz auf dem heutigen Gebiet der beiden »Volksrepubliken« hatten, bevor sie im April 2014 ausgerufen wurden, und die im Besitz von Dokumenten sind, die ihnen einen Aufenthalt in der Russischen Föderation gestatten. Mitte Juli schließlich folgte der Erlass Nr. 343, der die Regelungen zum Herkunftswohnsitz aus dem Erlass Nr. 187 ausdehnt. Als Herkunftswohnsitz gelten fortan die gesamten Gebiete Donezk und Luhansk, also auch solche Territorien, die unter Kontrolle der ukrainischen Zentralregierung standen oder stehen (RKG).
Laut russischer Migrationsbehörde haben 2019 mehr als 136 000 Einwohner der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk sowie weitere 60 000 Personen aus den RKG des Donbas die russische Staatsbürgerschaft über das neue Schnellverfahren erhalten. Mitte Juni 2020 verzeichnete Russland schon mehr als 180 000 neue Bürger aus den »Volksrepubliken«. Obwohl der bürokratische Prozess in beiden Fällen einheitlich ist, ist nur der Sachverhalt des ersten Erlasses, der eine massenweise, extraterritoriale Einbürgerung ermöglicht, als Passportisierung zu verstehen. Der zweite Erlass zielt auf Personen aus dem Donbas ab, die schon einmal nach Russland migriert sind und durch die Formalisierung ihres Aufenthaltsstatus Interesse bekundet haben, sich dauerhaft dort niederzulassen, bisher aber wegen bürokratischer Hürden keine Aussicht auf zügige Einbürgerung hatten.
Hintergrund für die Liberalisierung der Staatsbürgerschaftspolitik ist Russlands demografischer Wandel. Anfang 2020 betrug die Bevölkerung Russlands 146,7 Millionen Menschen. Seit 2016 nimmt der natürliche Bevölkerungsschwund stetig zu. Im Jahr 2019 stieg die Differenz zwischen Geburten und Sterbefällen auf 316 000. Pessimistische Szenarien der Vereinten Nationen gehen davon aus, dass bis 2050 die Bevölkerung auf zwischen 135,8 und 124,6 Millionen schrumpfen könnte. Sowohl der Aktionsplan für Demografiepolitik als auch der 2018 neu aufgelegte Maßnahmenkatalog für Migrationspolitik sehen vor, dass der natürliche Bevölkerungsschwund durch Migrationszuwachs und forcierte Einbürgerung ausgeglichen werden soll, und zwar mit einem Zielwert von 300 000 neuen Staatsbürgern pro Jahr.
Ukrainerinnen und Ukrainer spielen in dieser Strategie eine hervorgehobene Rolle. Aus Sicht des russischen Staates stellen sie nahezu ideale Migranten dar: Als Ostslawen gelten sie als leicht zu integrieren, bringen die nötigen Qualifikationen für den russischen Arbeitsmarkt mit und zeigen eine hohe Bereitschaft zur Emigration, weil in ihrem Herkunftsland der Territorialkonflikt anhält und das Einkommensniveau niedrig ist. Nach Kriegsbeginn 2014 erwies es sich als bürokratisch schwierig, die ukrainischen Geflüchteten und Zwangsmigranten vom temporären Asyl in Russland in einen dauerhaften Aufenthaltsstatus oder gar in die Staatsbürgerschaft zu überführen. Aufgrund eines regionalen Quotensystems wurden vor allem diejenigen bevorzugt, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragte Qualifikationen vorweisen konnten. Auch das russische Staatsprogramm, das die Übersiedelung von Landsleuten fördern soll, stellte sich für Ukrainer als nur bedingt geeignet heraus, da es mit vielen Auflagen in Bezug auf Alter, fachliche Qualifikation und Region der Niederlassung verbunden ist.
Putins Pass-Dekrete entfalteten unmittelbar Wirkung: Die Einbürgerungszahlen stiegen von 269 362 im Jahr 2018 auf 497 817 im Jahr 2019. Der Anteil der Ukrainer verdoppelte sich von 30 auf 60 Prozent. Am 17. April 2020 unterzeichnete Präsident Putin ein weiteres Gesetz, das den Antrag auf Staatsbürgerschaft insbesondere für Antragsteller aus Belarus, der Republik Moldau, Kasachstan und der Ukraine wesentlich erleichtert. Treiber der russischen Staatsbürgerschaftspolitik sind demnach nicht nur geopolitische und nationalistische Motive, sondern auch kurz- und mittelfristige Bedürfnisse des Arbeitsmarktes sowie langfristige demografische Überlegungen.
Passportisierung von Sezessionsgebieten im Vergleich
Passportisierung ist ein Mittel russischer Außenpolitik im Umgang mit Territorialkonflikten im postsowjetischen Raum. Frühere Anwendungen lassen aber keine eindeutigen Schlüsse darüber zu, welches Ziel Russland im Donbas verfolgt. Anfangs wurde befürchtet, Russland wolle mit dem Verteilen der Pässe einen militärischen Eingriff vorbereiten, um die eigenen Bürger zu beschützen – ähnlich wie in Südossetien, wo Russland die »Responsibility to protect«-Doktrin bemühte. Weder diese Befürchtung noch die einer Annexion der »Volksrepubliken« haben sich bisher bewahrheitet. Möglich sind diese Szenarien trotzdem, wenn der Minsker Prozess scheitert oder der Konflikt wieder militärisch eskaliert.
Russland verfolgt bei der Passportisierung keine einheitliche Strategie. Vielmehr passt der Kreml sein außenpolitisches Instrumentarium an die konkreten Umstände des jeweiligen Sezessionsgebiets an, außerdem an seine eigenen, sich teilweise ändernden Ziele. In Transnistrien etwa begann die Passportisierung 2002 lange nach der heißen Phase des Territorialkonflikts; derzeit besitzen dort circa 220 000 Einwohner (das sind 44 %) einen russischen Pass.
Zwei Gemeinsamkeiten lassen sich dennoch feststellen: Erstens wird Passportisierung in vielen Fällen als völkerrechtswidrig eingestuft. Zu diesem Schluss kam die Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia in ihrem detaillierten Bericht. Die Direktorin des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, Anne Peters, sieht in der Passportisierung des Donbas einen Rechtsmissbrauch durch Russland.
Zweitens manifestiert sich in der extraterritorialen Einbürgerungspraxis Russlands doppeltes Verständnis von staatlicher Souveränität. Während es für das internationale Staatensystem und insbesondere für sich selbst Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität einfordert, verfügen postsowjetische Staaten für Russland bestenfalls über begrenzte Souveränität. Mehr als deutlich wird diese Haltung an der grenzübergreifenden Infrastruktur zur Passportisierung des Donbas (siehe Grafik 2). Eigens für die Bearbeitung der Schnellanträge hat das russische Innenministerium Sondermigrationsämter im Gebiet Rostow aufgebaut. Um sie auszustatten und für Sonderzahlungen für die Sachbearbeiter beantragte das Innenministerium zusätzliche Gelder im Haushalt 2020–2022. Während die Antragstellung in den »Volksrepubliken« selbst erfolgt, werden die Pässe für Personen, die nicht dem Militär oder den Sicherheitsorganen angehören, ausschließlich im Gebiet Rostow ausgehändigt. Die »Volksrepubliken« haben Fernbuslinien eingerichtet, damit die Menschen die Pässe bequemer abholen können. Laut offizieller Statistik vergab allein die Region Rostow im Jahr 2019 über 160 000 Pässe.
Sezessionskonflikt und Passportisierung als Gerrymandering: Folgen für den Minsker Prozess
Die Annexion der Krim und der Krieg im Osten des Landes haben die Wahlgeografie der Ukraine tiefgreifend verändert: Betroffen sind 3,75 Millionen oder 12 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2010. Durch den Krieg hat sich somit auch die relative Bedeutung der Regionen für Wahlen geändert: Zum einen verloren der Osten und Süden an Gewicht, das Zentrum und der Westen gewannen entsprechend hinzu. Zum anderen fallen regionale Unterschiede weniger ins Gewicht, da ein großer Teil der Wähler, die für prorussische, kommunistische oder stark regional verwurzelte Kandidaten oder Parteien votierten, derzeit nicht mehr stimmfähig ist.
Diese vom Konflikt beförderte Verschiebung der Wahlgeografie hat zwischenzeitlich dazu geführt, dass die Ukraine deutlich homogener ist als zuvor, etwa wenn es darum geht, sie als Heimatland anzusehen oder eine Zollunion mit Russland abzulehnen.
Die veränderte Wahlgeografie wirkt sich auch auf das Anreizsystem der Konfliktparteien aus. Russlands strategisches Ziel ist es, langfristig die Ukraine politisch zu beeinflussen und ihre vertiefte Integration mit der Europäischen Union (EU) und der Nato zu verhindern. Ein nicht eingefrorener Konflikt oder aber eine Reintegration der »Volksrepubliken« unter den Bedingungen des Minsker Abkommens sind dabei vorteilhafter als zwei unabhängige Ministaaten oder zwei weitere angegliederte Föderationssubjekte Russlands. Für die Ukraine besitzen die Herstellung der territorialen Unversehrtheit und die Souveränität über das eigene Staatsgebiet oberste Priorität. Allerdings ist sich jede Kyjiwer Zentralregierung bewusst, dass eine Reintegration des Donbas die Wiederaufnahme von Hunderttausenden Wählerinnen und Wählern mit sich bringen würde, die – anders als die Wähler in der Restukraine – Kyjiw kritischer und Russland wohlgesonnener gegenüberstehen.
Vor diesem Hintergrund ist auch die öffentliche Warnung zu interpretieren, einen »Plan B« umzusetzen, den Präsident Selenskyj seit Oktober 2019 immer wieder ins Spiel bringt. Obwohl die Details dieses »Plans B« nie ausbuchstabiert wurden, ist darunter wohl eine Abkehr vom Minsker Prozess und somit von der Reintegration zu verstehen, die das zeitweise oder endgültige Abstoßen der NRKG bedeuten würde. Trotz der Unterzeichnung der »Steinmeier-Formel« am 1. Oktober 2019 prallen gegensätzliche Interpretationen aufeinander: Russland besteht auf der wortwörtlichen Umsetzung des Minsker Abkommens, für die Ukraine sind Sicherheitsgarantien zentral.
Wahlen als wichtige Bestandteile von Friedensabkommen erhöhen generell die Wahrscheinlichkeit, dass Hostilitäten nach Beendigung des Konflikts nicht wieder aufflammen. Verfrühte Wahlen in Sezessionsgebieten bergen indes auch Gefahren: Ehemalige Rebellenparteien verschaffen sich oft einen massiven Vorteil, Wahlen können als Katalysatoren für destruktiven Wettbewerb und Hassreden dienen, was wiederum zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen und langfristig Befriedung und Demokratisierung verhindern kann. Die enge Verquickung von politischen und militärischen Strukturen in den NRKG stellt ohnehin eine immense Herausforderung für die Durchführung von Wahlen dar. Aus mehreren Gründen verschärft die Passportisierung diese Problematik, die insbesondere die im Minsker Abkommen festgelegten Lokalwahlen betrifft.
Erstens bringt das Verteilen von Pässen zusätzlichen Zündstoff in den Verhandlungsprozess. So präsentierte der ukrainische Vertreter bei der Sitzung des Ständigen Rates der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am 21. Mai 2020 die russischen Pässe des Oberhauptes der »Volksrepublik Donezk«, Denys Puschylin, und der »Außenminister« der beiden »Volksrepubliken«. Die Pässe seien ein Unterpfand dafür, dass Russland Vertreter nominiere, die Russland, nicht aber die lokale Bevölkerung repräsentieren.
Zweitens sorgt die Passportisierung für Spaltungspotential in der Ukraine. Zwar ist sich die ukrainische Führung einig, dass die von Russland verteilten Pässe nicht rechtens und damit ungültig sind. Jedoch besteht in der ukrainischen Elite kein Konsens, mit welchen konkreten Schritten das Land reagieren soll. Hardliner brachten Vorschläge ins Gespräch wie den Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft, von Renten und anderen sozialen Beihilfen oder gar strafrechtliche Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft. Diese Vorschläge blieben bisher eine rhetorische Drohkulisse. Zudem brachte die Passportisierung am 19. Mai 2020 einen Gesetzentwurf über die Liberalisierung der Staatsbürgerschaft zu Fall, den Selenskyj im Dezember 2019 eingebracht hatte. Die Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft würde nicht nur Artikel 4 der ukrainischen Verfassung widersprechen, so die Kritik, sondern könnte in Zukunft auch ein Einfallstor für russischen Einfluss bieten, etwa wenn sich nach einer Reintegration Einwohner der ehemaligen NRKG mit russischem Pass für die ukrainische Rada zur Wahl stellen würden.
Drittens widerspricht die Passportisierung der Umsetzung der laut Punkt 4 des Minsker Abkommens abzuhaltenden Lokalwahlen. Das bis dato geltende Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft würde es jenen Bürgerinnen und Bürgern der »Volksrepubliken« nicht gestatten, sich zur Wahl zu stellen oder Ämter in der Staats- und Kommunalverwaltung zu bekleiden, die zusätzlich zum ukrainischen einen russischen Pass besitzen. Da die russische Passportisierung vor allem auf die Zivil- und Militärverwaltung, auf Angestellte in Medizin und Bildung ebenso wie auf de‑facto-staatliche Unternehmen abzielt, würde dies bedeuten: Zehntausende Personen könnten weder von ihrem passiven Wahlrecht Gebrauch machen noch staatliche Posten in einem reintegrierten Donbas einnehmen. Faktisch würde dies in eine umfassende Lustration münden, die mit der im Minsker Abkommen fixierten Amnestie und den Lokalwahlen nach OSZE-Standards nicht vorgesehen ist und einer längerfristigen Konfliktbeilegung abträglich wäre.
Viertens verschärft die Passportisierung das durch den Krieg verursachte Gerrymandering, also die Manipulation von Grenzen und der Zusammensetzung von Wahlkreisen. Im von Tod, Flucht und Vertreibung geprägten Alltag setzt die Passportisierung Anreize: Für Ukrainer, die schon eine Aufenthaltsberechtigung in Russland haben, wird es einfacher, sich dort dauerhaft niederzulassen. Den in den NRKG wohnhaften Ukrainern wird der Weg auf den russischen Arbeitsmarkt erleichtert. Für sozial schwache und wenig mobile Personen wie etwa Eltern von mehreren Kindern oder Rentner hat der russische Pass bisher nur symbolischen Wert. Er bietet kein automatisches Anrecht auf russische Rente oder Sozialleistungen wie Kindergeld (»Mutterkapital« für zwei oder mehr Kinder), da hierfür eine Meldebestätigung in Russland notwendig ist oder weitere Bedingungen erfüllt sein müssen – denen die überwiegende Mehrheit der im Donbas wohnhaften Menschen auch nach der Einbürgerung nicht entspricht.
Die NRKG verlieren somit neben Personen, die Verwandte in Russland haben, insbesondere entscheidungsfreudige Einwohner im arbeitsfähigen Alter und mit Berufen, die auf dem russischen Arbeitsmarkt gefragt sind. Im Oktober 2019 wurde erstmals eine Volksbefragung in den NRKG durchgeführt, deren Ergebnisse bisher nicht veröffentlicht wurden. Schätzungen zufolge leben dort circa 2 Millionen Menschen, etwa halb so viele wie offiziell angegeben (3,7 Millionen). Über die soziodemografische Komposition der Bevölkerung ist kaum etwas bekannt. Neben geopolitischen Einstellungen dürfte bei möglichen Wahlen ein bedeutender Faktor sein, dass die Bevölkerung der NRKG schlechter qualifiziert, älter, ärmer und bei weniger guter Gesundheit ist als diejenige in der restlichen Ukraine. Die Passportisierung begünstigt die soziodemografische Umwälzung zusätzlich.
Covid‑19 verschärft die humanitäre Situation im Donbas
Die Covid‑19-Pandemie verlangsamt die Passportisierung vorerst. Zwar hielt Russland nach einer kurzzeitigen Schließung Mitte März die Grenzen zu den »Volksrepubliken« offen und die Sondermigrationsbehörden arbeiteten weiter. Doch die »Volksrepubliken« haben am 13. April 2020 die regelmäßigen Fernbusfahrten aus den NRKG in das Rostower Gebiet eingestellt. Vor allem die Beantragung von Ausweisdokumenten der »Volksrepubliken«, die zum Nachweis des Wohnsitzes erforderlich sind, verzögert den gesamten Prozess. Dennoch ist davon auszugehen, dass trotz der Pandemie die Passportisierung voranschreitet – nach offiziellen Angaben sind noch 98 000 Passanträge in Bearbeitung.
Seit dem 23. März 2020 ist kein Personenverkehr mehr über die Kontaktlinie zwischen den NRKG und den RKG möglich. Dies hat die Anzahl der Passagen von durchschnittlich 550 000 pro Monat auf wenige hundert reduziert. Betroffen sind in erster Linie Personen aus den NRKG, die Renten beziehen, Geld abheben, Verwandte besuchen oder Behördengänge erledigen wollen. Die pandemiebedingte Isolation der NRKG verschlechtert die humanitäre Situation dort dramatisch.
Ausblick und Empfehlungen
Mit der Passportisierung des Donbas erreicht Russland hauptsächlich zwei Ziele: Durch die bewusste Torpedierung des Minsker Friedensprozesses übt es dauerhaft Druck auf die Ukraine aus. Ohne militärisch eskalieren zu müssen, untergräbt es die Souveränität der Ukraine. Zudem trägt die Verschleppung der Konfliktlösung dazu bei, dass Russland als Einwanderungsland für Ukrainerinnen und Ukrainer vergleichsweise attraktiver wird. Neben geopolitischen Motiven ist Russlands demografischer Wandel als Treiber seiner Staatsbürgerschaftspolitik zu beachten.
Deutschland und die EU sollten daran festhalten, die auf Basis des Dekrets vom 24. April 2019 ausgestellten Pässe nicht anzuerkennen. Hierbei ist auf eine kohärente Umsetzung zu achten, weil die Identifizierung der Dokumente im Einzelfall technisch schwierig und aufwendig sein kann. Da die Nichtanerkennung nur dann wirksam ist, wenn sie konsequent umgesetzt wird und ihre Ursachen klar kommuniziert werden, ist eine enge Absprache der EU-Konsularabteilungen in Russland notwendig.
Mit der Passportisierung betreibt Russland auch Symbolpolitik, die in Teilen der Zivilbevölkerung im Donbas wegen der schwierigen humanitären Lage Zustimmung findet. Gerade aufgrund der Pandemie sollte die EU daran interessiert sein, von der Zivilbevölkerung im Donbas als humanitärer Akteur wahrgenommen zu werden. Die EU sollte zusätzliche Mittel für humanitäre Güter bereitstellen. Gleichzeitig ist Druck auf Russland und die de‑facto-staatlichen Strukturen nötig, damit diese zugelassen werden. Darüber hinaus sollte die EU auf die Ukraine einwirken, bestehende Pläne konsequent umzusetzen, nach der Pandemie die Passagen über die Kontaktlinie zu vereinfachen, die Bearbeitung von Dokumenten und die Inanspruchnahme von sozialen Beihilfen zu entbürokratisieren. Denn die durch Covid‑19 verursachte Isolation der NRKG trägt massiv zur Entfremdung der Ukraine von den NRKG bei, als Folge steigt unweigerlich das Gewicht Russlands.
Die visafreie Einreise für Ukrainerinnen und Ukrainer in die EU ist zwar ein Erfolg; gleichwohl trägt die EU als wichtiges Ziel für Arbeitsmigranten auch zum Bevölkerungsschwund in der gesamten Ukraine bei. Um dieser demografischen Krise und ihren sozialen Folgen entgegenzuwirken, sollte die EU etwa in Kooperation mit der Internationalen Organisation für Migration langfristige Strategien entwickeln, die die NRKG miteinbeziehen.
Schließlich sollte bedacht werden, dass sich der ukrainische Präsident Selenskyj im Herbst 2019 eine Frist von einem Jahr gesetzt hat, um Fortschritte im Osten seines Landes zu erzielen, und mehrfach einen »Plan B« ins Spiel gebracht hat. Weil Alternativen fehlen, bleibt der Minsker Prozess der einzig gangbare Weg. Trotzdem lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie eine Übergangsperiode in den Minsker Prozess eingefügt werden könnte, bevor Lokalwahlen durchgeführt werden. Grundvoraussetzung für Wahlen sind Sicherheit und funktionierende Institutionen. Das braucht Zeit. Denn das durch Flucht und Migration beförderte Gerrymandering hat die Wahlgeografie der Ukraine tiefgreifend verändert.
Dr. Fabian Burkhardt ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2020A58