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Russlands Aufrüstung am Ladogasee

Die Nato benötigt weitere Mittelstreckenwaffen zur Verteidigung der Ostsee-Region

SWP-Aktuell 2025/A 07, 27.02.2025, 7 Pages

doi:10.18449/2025A07

Research Areas

Russland strebt offenbar an, vom Ladogasee aus Ziele in der Ostsee-Region angreifen zu können. Das Gewässer befindet sich nördlich von Sankt Petersburg und ist nur 40 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt. Seit 2023 erprobt Russland dort die Stationierung von Korvetten, die mit Marschflugkörpern ausgestattet sind. Solche Kriegsschiffe haben bereits im Syrien- und im Ukraine-Krieg aus großer Entfernung Landziele beschossen. Ihr Einsatz im gut zu schützenden Ladogasee würde die ohne­hin komplizierte Verteidigung der nordöstlichen Nato-Staaten weiter erschweren. Abschüsse von dem Gewässer aus sollen im Herbst 2024 erstmals simuliert geübt worden sein. Im Westen fehlt es jedoch an Informationen über den Ladogasee. Die Entwicklung dort unterstreicht, dass es der Fähigkeit zu konventionellen Schlägen ins russische Hinterland bedarf, um Moskau wirkungsvoll abschrecken zu können.

Als Russland im März 2014 völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim annektierte, endete damit nach zwei Jahr­zehnten die sicherheitspolitische Kooperation zwischen allen Ostsee-Nationen. Seit­dem herrscht in dem Binnenmeer eine neue Phase der Konfrontation. Sie findet nach dem Anschlag auf die beiden Nord-Stream-Pipelines im September 2022 vor allem am Meeresgrund statt. Die Ostsee-Anrainer verdächtigen Russland, gezielt ihre Unterwasserinfrastruktur auszuspionieren und verdeckt zu sabotieren. Ihre Aufmerksamkeit gilt deshalb angeblichen Forschungsschiffen sowie sich verdächtig verhaltenden Frachtern und Tankern. Dabei fiel bisher kaum auf, dass Russland am Rande der Ostsee Fähigkeiten aufbaut, die ebenfalls eine Bedrohung für die Kritische Infrastruktur in dem Meer und dessen Anrainerstaaten darstellen.

Kleine Kriegsschiffe mit weitreichender Feuerkraft

Im Oktober 2023 berichtete das dem russi­schen Verteidigungsministerium unterstehende Soldatenmagazin Krasnaja Swesda, dass sich im Vormonat zwei Kriegsschiffe für längere Zeit im Ladogasee aufgehalten hatten. Diese Information ist erst einmal nichts Ungewöhnliches. In dem sich auf fast 18.000 Quadratkilometer erstreckenden Binnengewässer, dem größten Europas, werden schon seit den 1950er Jahren Waf­fensysteme erprobt. Daneben ist der See Teil eines strategischen Netzwerks aus Bin­nenwasserstraßen (»Unified Deep Water System of European Russia«, UDWS). Es ver­bindet unter anderem die Ostsee mit dem Weißen Meer am Arktischen Ozean. Regel­mäßig durchqueren deshalb kleine Kriegs­schiffe den Ladogasee als Abkürzung, an­statt Skandinavien zu umfahren. Was die Meldung der Krasnaja Swesda aber be­achtens­­wert macht, ist die Information, welche Ein­heiten sich im See befanden und warum.

Die Sovetsk und die Odintsovo sind zwei relativ neue Korvetten der Karakurt-Klasse. Diese und die etwas ältere, ansonsten ähn­liche Buyan-M-Klasse dienen offiziell der Überwasserkriegführung im küstennahen Umfeld. Im Vergleich zu ihren westlichen Pendants weisen die betreffenden Schiffe jedoch zwei Besonderheiten auf. Sie sind klein genug, um über Flüsse verlegt werden zu können, besitzen aber trotzdem eine acht Zellen umfassende Senkrechtstart­anlage für Lenkwaffen. Daraus lassen sich etwa Marschflugkörper der Kalibr-Serie ab­feuern. Mit einer Variante ist es möglich, Landziele zu treffen, angeblich in bis zu 2.500 Kilometern Entfernung. Im Oktober 2015 überraschte Russland die Welt, als unter anderem drei Korvetten der Buyan-M-Klasse vom Kaspischen Meer aus Ziele in 1.500 Kilometer entfernten Gebieten Syriens angriffen, die damals von islamistischen Organisationen kontrolliert wurden. Die Korvetten besitzen damit dieselbe qualita­tive Schlagkraft wie doppelt so große Kreu­zer und Zerstörer der USA. Mit Stand Januar 2025 hat Russland elf Einheiten der Kara­kurt- und sechs der Buyan-M-Klasse im Be­stand. Von Letzterer sollen neun weitere Schiffe beschafft werden.

Eingesetzt werden die Sovetsk und die Odintsovo bei der Baltischen Flotte Russlands. Deren Heimathafen ist Baltijsk (Pil­lau) in der Exklave Kaliningrad (Königsberg). Im Ladogasee hätten die Korvetten eine Ver­suchsfahrt unter Einsatzbedingungen unter­nommen, so die Krasnaja Swesda. Hier­bei sei es zunächst darum gegangen, von der Ost­see kommend das Gewässer über die durch Sankt Petersburg fließende Newa zu errei­chen, und zwar ohne die wegen der Strö­mung sonst übliche Zuhilfenahme von Schleppern. Nach Ankunft im See hätten sich die Besatzungen dann mit den spär­lichen logistischen Gegebenheiten eines nicht näher beschriebenen, seit 2004 ver­waisten Marinestützpunkts auseinandersetzen müssen. Laut einem russischen Militär­journalisten handelte es sich wohl um Lach­denpochja im Nordwesten des Sees, nur 40 Kilometer von der finnischen Gren­ze ent­fernt. Von hier aus hätten sich die Korvet­ten auf diverse Erkundungsfahrten bege­ben, um das Gewässer besser kennenzulernen.

Rückzugsort für die Baltische Flotte

Welchem Zweck die Mühen dienten, wur­de in der Krasnaja Swesda freimütig erklärt: Schutz. Begünstigt wird diese Funktion durch die Lage des Ladogasees am Rande der Ostsee. Weil er seit Finnlands Nieder­lage im Zweiten Weltkrieg von russischem Staatsgebiet umschlossen ist und auch die Zugänge von Moskau kontrolliert werden, ist für Gegner eine Aufklärung vor Ort schwierig und nur über Sensoren wie Satel­liten möglich.

Dieser Abgeschiedenheit ist geschuldet, dass es im Westen an Wissen über Vorgän­ge an dem See fehlt. Ausländische Kriegsschiffe, ferngesteuerte Überwasserdrohnen (»Uncrewed Surface Vessels«, USVs) oder Treibminen können auf herkömmlichem Wege nicht in das Gewässer gelangen und russische Einheiten dort gefährden. Deren Ortung wird er­schwert, wenn sie sich in der zerklüfteten Schärenlandschaft im Norden des Sees verbergen oder schlicht umherfahren. Dies gilt vor allem dann, wenn sie nach Prinzi­pien der Tarnkappentechnik gebaut sind – was bei den beiden Korvetten-Klas­sen der Fall ist. Die Schiffe verfügen ansons­ten über eigene, an Oberdeck installierte Nahbereichsflugabwehr oder sollen damit nach­gerüstet werden. Hinzu kommen meh­rere Luftverteidigungsstellungen in der Um­ge­bung, die im Zuge des Krieges gegen die Ukraine verstärkt wurden. Sie sollen primär die Metropole Sankt Petersburg abschirmen, decken aber auch den Ladogasee ab.

Dass Russland der Funktion Schutz hohe Bedeutung zumisst, dürfte zum einen mit den Erfahrungen in der Ukraine zu tun haben. Obwohl Kyjiw infolge der Krim-Annexion 2014 und des russischen Über­falls 2022 den Großteil seiner Kriegs­schiffe verloren hatte, gelang es den ukrai­nischen Streitkräften mithilfe von Raketenartillerie und Minen, die russische Schwarz­meer­flotte von der eigenen Küste fernzu­halten. Das schuf wortwörtlich Raum für den Kami­kaze-Einsatz von USVs, den die Ukraine im Oktober 2022 begonnen hat und seit ihrer Sommeroffensive 2023 ver­stärkt betreibt. Ohne Abriegelung der ukrainischen Hoheits­gewässer (»blockade«) konnte Russ­land, anders als ursprünglich geplant, keine amphibischen Landungen (»boots on the ground«) durchführen. Der Schwarzmeerflotte ist es somit nicht mög­lich, Seeherrschaft (»sea control«) zu errin­gen. Denn von drei dazu nötigen Aufgaben kann sie nur eine erfüllen: Landzielbeschuss (»bombard­ment«). Hierbei spielen die Korvetten der Karakurt- und der Buyan-M-Klasse eine wich­tige Rolle. Zwei sind durch ukrainische An­griffe im Schwarzen Meer jedoch beschädigt, eine ist sogar zer­stört worden.

Zum anderen dürfte die Bedeutung von Schutz mit dem Nato-Beitritt Finnlands zusammenhängen. Der russische Angriffskrieg bewog Helsinki, die militärische Bündnisfreiheit des Landes, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs bestanden hatte, aufzugeben und im Mai 2022 die Mitgliedschaft in der Allianz zu beantragen. Formal vollzogen wurde Finnlands Aufnahme im April 2023. Für Moskau gingen damit gra­vierende geostrategische Veränderungen einher. Erstens ist die russische Landgrenze zum Gebiet der Nato um mehr als 1.000 Kilometer gewachsen, wodurch es aus russi­scher Sicht keinen Puffer mehr gibt. Zwei­tens haben westliche Bündnispartner nun die Möglichkeit, ihre Truppen näher an Russland heranzubringen, womit sie poli­tische und militärische Ziele leichter angrei­fen könnten. Drittens wird der Finnische Meerbusen mit Estland und Finnland jetzt von zwei Mitgliedern der Nato flankiert, was es erleichtern würde, den für Russland ökonomisch wichtigen Seeweg nach Sankt Petersburg zu sperren.

Letzteres würde in einem Konflikt die Teilung der Baltischen Flotte bedeuten. In Kaliningrad besitzt Russland zwar eine starke Küstenartillerie, doch die östlichen Ostsee-Anrainer verfügen ebenfalls darüber bzw. rüsten entsprechend nach. Das würde Seeoperationen für beide Parteien äußerst riskant machen, so dass im Konfliktfall mit einer rapiden Abnahme von Schiffsbewegungen zu rechnen wäre. Kaliningrad ließe sich wiederum von Polen und Litauen unter Artilleriefeuer nehmen, so dass Baltijsk aus russischer Sicht keinen Schutz böte. Eine Flucht Richtung Westen wäre genauso ris­kant, weil die dänischen Meerengen durch­quert werden müssten.

Vor diesem Hintergrund ist es unwahrscheinlich, dass die Baltische Flotte in einem Konflikt mit der Nato Seeherrschaft aus­üben könnte. Die Nutzung des Ladogasees böte die Chance, zumindest kleinere Schiffe der Flotte in Sicherheit zu bringen und ein Stück Handlungsfreiheit aufrechtzuerhalten, damit sich, ähnlich wie in der Ukrai­ne, ein Vorgehen an Land unter­stützen ließe.

Abschreckung gegen Finnland

Eine Woche nach Erscheinen des Artikels in der Krasnaja Swesda gab die Kreml-nahe Tageszeitung Iswestija weitere Informationen preis. So habe die Entsendung der Sovetsk und der Odintsovo im Zusammenhang mit einer vom russischen Verteidigungs­ministerium beauftragten Studie gestanden. Darin gehe es um Einsatzoptionen der Kara­kurt- und der Buyan-M-Klasse im Ladogasee. In dem Artikel wurden russische Experten mit der Mutmaßung zitiert, dies richte sich speziell gegen Finnland.

Die Entscheidung Helsinkis, Mitglied der Nato werden zu wollen, traf Moskau offen­bar unvorbereitet. Erst im Dezember 2022 wurden russische Pläne bekannt, die Vertei­digung entlang der Grenze zum Nachbarland zu stärken. Bis zum Nato-Beitritt Finn­lands im April 2023 kam es zu keinen sig­ni­fikanten Veränderungen wie Truppen­verlagerungen. Dass für die Exploration des Ladogasees im September 2023 ausgerechnet Korvetten herangezogen wurden, die mit Marschflugkörpern ausgerüstet sind, und nicht andere, ähnlich kleine Schiffe, strahlt auf den ersten Blick etwas Bedrohliches aus. Immerhin entspricht die Kampf­kraft einer einzelnen Einheit der Karakurt- oder Buyan-M-Klasse der Salve eines ganzen Raketenartilleriebataillons mit dem System Iskander-K, das einen ähnlichen Flug­körper verschießt. Obzwar das für einen massierten Angriff nicht ausreicht und das Schiff danach aufwendig in einem Hafen nachla­den müsste, ließe sich so doch ein Bei­trag zu Angriffen auf Kritische Infra­struk­tur (»Strategic Operation for the De­struction of Critically Important Targets«, SODCIT) leisten.

Die Idee hinter SODCIT ist, dass ein Geg­ner davon abgehalten werden soll, einen Konflikt weiterzuführen oder zu eskalieren, indem durch Zerstörung ausgewählter Ziele bei möglichst wenig Opfern die Moral der politischen Führung oder der Gesellschaft beeinflusst wird. Ein derartiges Vorgehen lässt sich in der Ukraine als Zermürbungsmaßnahme beobachten. Gemäß russischer Militärtheorie kann SODCIT aber auch schon in der Zeitspanne zwischen Frieden und Krieg erfolgen, etwa in Form präemp­tiver Schläge. Hierfür eignen sich die Kor­vetten besonders gut.

In der Krasnaja Swesda wird in einer Randbemerkung jedoch eingeräumt, es sei operativ gar nicht notwendig, die Schiffe im Ladogasee zu stationieren, damit sich Druck auf Finnland ausüben lässt (»hold at risk«). Denn aufgrund der enormen Reichweite der Marschflugkörper mache es keinen fun­damentalen Unterschied, ob man dieses Ge­wässer nutze oder andere, namentlich nicht genannte Einsatzgebiete jener Schiffs­klassen.

Eines davon dürfte das Weiße Meer sein. Seit 2020 transitieren Korvetten der Balti­schen Flotte jeweils im Herbst von der Ost­see über das UDWS dorthin, um den Ab­schuss von Marschflugkörpern zu trainieren. Von wo genau in dem Seegebiet sie das bisher getan haben, ist öffentlich nicht be­kannt. Als Ziel soll stets das wenige hundert Kilometer entfernte Übungsgebiet Tschischa auf der Kanin-Halbinsel in der östlichen Barentssee gedient haben. Den Auftakt machte im August 2020 die Zelenyy Dol der Buyan-M-Klasse in Begleitung der Odintsovo. Im September 2021 folgte die Sovetsk, im August 2022 ihr Schwesterschiff Mytishchi und im Oktober 2023 die Serpukhov der Buyan‑M-Klasse.

Was die Krasnaja Swesda indes ausließ: Es macht sehr wohl einen Unterschied, ob sich die Korvetten im Ladogasee oder im Wei­ßen Meer befinden. So liegen die Zentren beider Gewässer über 500 Kilometer aus­einander. Vom Ladogasee aus kann somit tiefer in die westliche Ostsee hineingewirkt werden, etwa bis in den Osten Deutschlands. Auch wäre die Flugdauer von Marschflugkörpern von dem See aus gerin­ger, was wiederum die Vorwarnzeiten verkürzt.

Neue Bastion im Schatten der Ostsee

Obwohl einige Militärblogger sowie Regio­nal- und Fachmedien die Berichte der Kras­naja Swesda und der Iswestija verbreiteten, blieb im Westen der Aufenthalt von Sovetsk und Odintsovo im Ladogasee weitestgehend unkommentiert. In einem Papier zur Ost­see-Region etwa, das im Sommer 2024 von der renommierten US-Denkfabrik RAND veröffentlicht wurde, taucht das Gewässer weder namentlich noch auf einer beigefügten Karte auf. Nur kurze Zeit später kam indes die Bestätigung, dass es Russland mit einer stärkeren Militärpräsenz dort ernst meint.

Im September 2024 wurden die Grad und die Naro-Fominsk der Buyan-M-Klasse von Sankt Petersburg in den Ladogasee verlegt, begleitet von einem Kamerateam des Fern­sehsenders Swesda, der zum russischen Verteidigungsministerium gehört. West­liche Militärblogger verbreiteten daraufhin Satellitenbilder, auf denen die Schiffe an einer Schwimmbrücke bei Storoschewoje nördlich der Stadt Priosersk zu sehen sind. Der staatseigene Rüstungskonzern Gidro­pribor unterhält dort ein Testgelände für Unterwassersysteme. Einige Tage später erklärte die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS, die Korvetten hätten sich anlässlich der flottenübergreifenden Groß­übung Okean 24, die in jenem Monat statt­fand, im Ladogasee befunden. Dabei sollen sie das Stören elektronischer Signale geübt und simuliert Marschflugkörper verschossen haben. Von Schutz war keine Rede mehr. Im Vordergrund stand nur noch Ab­schreckung gegenüber der Nato.

Ob Finnland durch die im Ladogasee zur Schau gestellten Fähigkeiten tatsächlich beeindruckt wurde, ist fraglich. Als Russ­land ein halbes Jahr zuvor, im April 2024, angekündigt hatte, drei mit Iskander-M aus­gestattete Raketenartilleriebataillone in der angrenzenden Region Karelien aufzustel­len, kamen spöttische Reaktionen aus dem Nachbarland. So schrieb ein finnischer Sicherheitsexperte auf der Plattform X, er halte es für absurd, weitreichende Waffen näher an den erklärten Gegner zu bringen und sie somit leichter angreifbar zu machen.

Die Bedrohung sollte jedoch nicht auf die leichte Schulter genommen werden, da es nicht trivial ist, Raketenwerfer zu erfas­sen und zu bekämpfen. Dies zeigt sich am Umgang mit Kaliningrad. Obwohl es fast vollständig von Nato-Staaten umschlossen ist, haben die dort stationierten Systeme zur weitreichenden Bekämpfung von Luft- und Seezielen das Potential, westliche Trup­pen temporär nach außen auf Abstand zu halten und nach innen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken (»Anti-Access/Area Denial«, A2/AD). Die Degradierung dieser Systeme erscheint zeit- und kräfteintensiv. Beides hätte negative Folgen für die Vertei­digung des quasi hinter Kaliningrad liegen­den Baltikums, was es Russland erleichtern würde, dort eine Vollinvasion oder eine SODCIT durchzuführen. Ähnlich mag es sich in Bezug auf Finnland verhalten, sollte Moskau die Bedrohungskulisse in Karelien weiter ausbauen. Die neue Bastion könnte entweder zeitgleich aktiviert werden und somit ein Dilemma für die Priorisierung von Nato-Operationen erzeugen oder unter dem Aspekt der Funktion Schutz als Rück­falloption dienen, sollte Kaliningrad fallen.

Die russischen Korvetten sind zwar nur ein Teil dieser neuen Bastion. Hinsichtlich ihrer taktischen Einsatzmöglichkeiten wur­de in den Artikeln von Krasnaja Swesda und Iswestija betont, sie könnten sich über das UDWS wie auf einem Schachbrett verlegen lassen. So käme dafür neben dem Ladoga­see auch der östlich gelegene und über den Fluss Swir erreichbare Onegasee in Frage, das zweitgrößte Binnengewässer Europas. Ausweichrouten führen Richtung Norden über einen Kanal ins Weiße Meer, Richtung Süden über einen anderen Kanal und den Rybinsker Stausee zur Wolga. Diese mündet ins Kaspische Meer und ist über einen wei­teren Kanal mit dem Don verbunden, der wiederum ins Asowsche Meer fließt, ein Nebenmeer des Schwarzen Meeres in des­sen Norden.

Obwohl auf die militärischen Nutzungs­möglichkeiten des UDWS schon zu Zeiten des Kalten Krieges häufig verwiesen wurde, sind diese seit jeher infrastrukturell und durch Naturgegebenheiten begrenzt. Dies hängt mit Anzahl und baulichem Zustand von Schleusen und Brücken zusammen so­wie mit Flusstiefen und ‑strömungen. Frü­here Verlegungen von Kriegsschiffen über das UDWS dauerten Tage bis Wochen. Beim Ladogasee kommt einschränkend hinzu, dass er in der Regel von November bis Mai mit Eis bedeckt ist. Insofern werden die Korvetten die geostrategische Situation in jenem Bereich der Ostsee-Region zwar nicht verändern, doch können die 2023 und 2024 durchgeführten Versuchsfahrten unter Einsatzbedingungen als Teil einer Veränderung gedeutet werden.

Weitere Maßnahmen Russlands erwartbar

Obwohl Russland seine maritimen Absich­ten am Ladogasee offengelegt hat, konnte es dem Westen keine nennenswerte Ant­wort entlocken. In puncto Schutz dürfte das in Moskaus Interesse sein, hinsichtlich Ab­schreckung nicht. Für 2025 ist daher mit weiteren russischen Maßnahmen zu rech­nen. Gemessen an den Erfahrungen der Vorjahre sind sie im September und Okto­ber am wahrscheinlichsten.

Bis dahin ist von Interesse, inwieweit es zu einer Modernisierung oder Erweiterung der russischen Infrastruktur kommt. Zwar kündigte die Marineführung 2017 den Aus­bau von Erprobungsstellen am Ladogasee an, doch ging es dabei vorrangig um solche für Antennenanlagen. Wo die Korvetten neben Lachdenpochja 2023 und Storoschewoje 2024 noch festgemacht haben, ist öffentlich nicht bekannt. Die Verhältnisse am erstgenannten Ort sollen jedoch repara­turbedürftig sein. Letzterer bietet ausweislich der Satellitenaufnahmen derzeit nur Platz für zwei Korvetten. Eine Alternative könnte die Bucht von Wladimirowka gegen­über der Insel Konewez sein, wo einst ein Übungsplatz unterhalten wurde. Von der Wassertiefe her sollte auch Lasanen im Nordwesten des Sees nutzbar sein, wo der staatliche Rüstungskonzern Okeanpribor eine Erprobungsstelle betreibt. An den dor­tigen Pontons scheinen die Korvetten aber nicht anlegen zu können.

Dass es besser ist, viele kleine Stützpunkte zu haben anstatt einen großen, lehrt er­neut der Ukraine-Krieg. Im Sommer 2024 zog Russland mehrere Schiffe der Schwarz­meerflotte im Asowschen Meer zusammen, vermutlich um sie vor ukrainischen USVs zu schützen. Nachdem es Kyjiw aber ge­lun­gen war, den Fährhafen von Kawkas an der östlichen Seite der Straße von Kertsch mit Flugdrohnen (»Unmanned Aerial Vehi­cles«, UAVs) anzugreifen, verließen die Ein­heiten das Binnenmeer wieder. Im Herbst 2024 schaffte es die Ukraine mit einem zum UAV umgebauten Leichtflugzeug so­gar, den Marinestützpunkt Kaspijsk an der Westseite des Kaspischen Meeres zu atta­ckieren und offenbar einige Kriegsschiffe zu beschädigen.

Ob diese Ereignisse die Entwicklung am Ladogasee beeinflussen werden, bleibt ab­zuwarten. Solange Finnland oder andere Nato-Mitglieder nicht auf das russische Trei­ben dort reagieren, hat Moskau noch einige Optionen, die Abschreckung auszu­bauen. Möglich wären etwa Übungen zum Nach­laden von Marschflugkörpern unter Ge­fechtsbedingungen. Dies würde Einsatzbereitschaft und Ausdauer signalisieren. Um das entsprechende Potential weiter hervor­zuheben, wäre nach dem simulierten Ab­feuern von Marschflugkörpern ein tatsäch­licher Abschuss konsequent, entweder er­neut zur Übung Richtung Tschischa oder als Kriegsbeitrag auf ukrainische Ziele. In beiden Fällen wäre der Koordinations­aufwand hoch, weil Luftstraßen durch die Flugkörper gekreuzt würden. Umso mehr wäre ein solches Vorgehen als Zeichen der Entschlossenheit zu werten.

In russischen Kommentarspalten wurde außerdem diskutiert, konventionell ange­triebene und mit Marschflugkörpern aus­gestattete U-Boote in den Ladogasee zu ver­legen. Dies ist theoretisch denkbar, weil Russland mit der Kilo II- und der Lada-Klasse über entsprechende Einheiten verfügt. Ers­tere sind im Syrien- und im Ukraine-Krieg bereits zum Landzielbeschuss einge­setzt worden. Die durchschnittliche Wasser­tiefe des Sees von 50 Metern und im nörd­lichen Becken von über 230 Metern ließe zudem Taucheinsätze zu, was zusätzlichen Schutz böte. Auch hat es seit dem Zweiten Welt­krieg durchaus schon U-Boote im Lado­gasee gegeben.

Praktisch ist es hingegen unwahrscheinlich, dass dort kurz- bis mittelfristig U-Boote der Kilo II- oder der Lada-Klasse zu sehen sein werden. So verfügt die Baltische Flotte noch über keine dieser Einheiten. Sie be­finden sich zwar im Zulauf und werden in Sankt Petersburg gebaut. Wegen technischer Probleme hat es aber immer wieder Verzögerungen gegeben. Ferner erscheint der Aufwand hoch, ein U-Boot in den Lado­gasee zu bringen, da hierfür Lastenkähne und Schlepper benötigt werden. Die schnelle Evakuierung eines U‑Boots von dort scheidet damit aus.

Wissenslücke schließen und Abschreckung stärken

Während die meisten Nato-Mitglieder sor­genvoll auf die in Kaliningrad stationierten Mittelstreckenwaffen blicken, baut Russ­land mit vergleichsweise wenig Aufwand ein zweites Bollwerk am Ende der Ostsee auf. Dieser Teil des Randmeeres dürfte 2025 an Relevanz gewinnen, da die baltischen Staaten nach Jahren der Planung am 8. Feb­ruar ihren Stromimport aus Russland ein­gestellt haben – was nicht im Interesse Moskaus ist. Zwischenfälle an Unterwasser­kabeln, von denen mehr als zehn durch den Finnischen Meerbusen verlaufen, wer­den voraussichtlich zunehmen. Gleichzeitig haben die Ostsee-Anrainer ihre Passivität gegenüber Forschungs- und Handelsschiffen, die Verbindungen zu Russland haben und der Spionage wie Sabotage verdächtigt werden, nach langer Zeit aufgegeben. Das birgt Eskalationspotential.

Inwieweit Russland hier reagieren wird, ist schwer abzusehen, da es bisher nicht ge­lang, einen Urheber für die zurückliegenden Zwischenfälle auszumachen. Verdeckte Aktionen und offene militärische Aufrüstung werden wohl parallel weiterlaufen. Was Letztere angeht, erscheint es realistisch, dass Moskau drohend auf sein Rake­tenarsenal verweist, insbesondere jenes der Küstenartillerie in Kaliningrad. Bekannte Verhaltensmuster wären entschlossene Äußerungen oder das Abhalten kurzfristig einberufener Übungen (»Snap Exercises«). Ein Indikator, wie weit Russland die Situa­tion zu verschärfen bereit wäre, könnte darin bestehen, ob, welche und wie viele Kriegsschiffe in den Ladogasee oder durch ihn hindurch über das UDWS ins Weiße Meer gebracht werden.

Die gegenwärtige Entwicklung in der öst­lichen Ostsee untermauert die Notwendigkeit glaubwürdiger Abschreckung durch die Nato. Hierzu gehört, Präzisionsschläge mit Flugzeugen oder Flugkörpern im russi­schen Hinterland durchführen zu können (»Deep Precision Strikes«, DPS). Bisher man­gelt es den meisten Mitgliedern der Allianz an die­ser Fähigkeit. Die Lücke ist allerdings er­kannt worden, und es wurden verschiedene Initiativen gestartet, sie zu schließen. Wäh­rend des Nato-Gipfels in Washington 2024 kündigten Deutschland und die USA am 10. Juli an, bodengestützte amerikanische Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik zu stationieren. Zuvor fanden be­reits mehr­mals Verlegeübungen mit den Startfahrzeugen auf der dänischen Insel Bornholm statt, was auf einen etwaigen Einsatzort hindeutet. Einen Tag nach Ende des Gipfels, am 12. Juli, riefen Deutschland, Frankreich, Italien und Polen den European Long-Range Strike Approach (ELSA) zur Be­schaffung eige­ner bodengestützter Mittel­streckenwaffen ins Leben. Kurz darauf traten Großbritan­nien und Schweden dem Vorhaben bei.

Voraussetzung für den Einsatz weitreichender Waffensysteme und somit eine glaubwürdige Abschreckung ist ein umfas­sendes Lagebild. Mit der Beschaffung der Systeme einhergehen sollten daher Auf- und Ausbau einer flächendeckenden Über­wachung der Ostsee-Region samt ihrer Peri­pherie. Es ginge darum, die Zeitspanne zwi­schen Identifizierung und Bekämpfung von Zielen so gering wie möglich zu halten. Auch hier sind schon Ansätze zu erkennen.

Die gewonnenen Informationen sollten nicht militärischen Kreisen vorbehalten bleiben. Vielmehr erscheint es sinnvoll, Er­kenntnisse aus dem eigenen Lagebild im Sinne einer strategischen Kommunikation öffentlich zu teilen. Auf diese Weise ließe sich Russlands Handeln, gerade solches in bisher wenig beachteten Gegenden wie dem Ladogasee, einordnen und dem Gefühl von Unsicherheit entgegenwirken. Als Vor­bild taugt hier das Vorgehen des britischen Mili­tärnachrichtendienstes Defence Intelligence. Seit Russlands Vollinvasion in der Ukraine stellt er regelmäßig knappe Beiträ­ge über aktu­elle Entwicklungen bereit, die dann vom britischen Verteidigungsministerium über soziale Medien verbreitet wer­den. Deutschland kann auf diesem Feld schon jetzt einen wertvollen Beitrag leisten, weil es in den vergangenen Jahren mehr Ver­antwortung für die Sicher­heit der Ost­see-Region übernommen hat, etwa in der Funk­tion des Commander Task Force Baltic (CTF Bal­tic) zur Koordination von Marine­aktivi­tä­ten für die Nato. Ziel ist, keine Un­eindeu­tig­keiten zum Nutzen Russlands zuzulassen.

Korvettenkapitän Helge Adrians ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

Dieses Werk ist lizenziert unter CC BY 4.0

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