Der sogenannte Einheitliche Wahltag am 9. September 2018, an dem in 22 Regionen Russlands neue Gouverneure gewählt wurden, brachte einige Überraschungen. In vier Regionen erreichten die vom Kreml unterstützten Kandidaten keine Mehrheit. Unmut über die wirtschaftliche Stagnation und die höchst unpopuläre Rentenreform schlägt sich in diesem Ergebnis nieder. Der Teilerfolg der Systemopposition, die die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage stellt und nur moderate Kritik am Kreml übt, stellt keine Bedrohung für die Stabilität der russischen Führung dar. Und doch wird der unerwartete Wahlerfolg Konsequenzen für das politische System Russlands haben: Der Kreml wird seine Strategien des Machterhalts noch verschärfen.
Am 9. September 2018 wurden in 22 Regionen Russlands neue Gouverneure gewählt. Dabei erzielten die Kandidaten der Regierungspartei Einiges Russland das schlechteste Ergebnis seit einem Jahrzehnt. Am überraschendsten war der Ausgang der Gouverneurswahlen in vier Regionen: Die vom Kreml aufgestellten Kandidaten verfehlten dort die Mehrheit. Während der gesamten »Ära Putin« gibt es keinen Präzedenzfall für ein solches Resultat. Seit der Wiedereinführung der Direktwahl der Gouverneure im Jahr 2012 musste nur einmal ein Kreml-Kandidat in den zweiten Wahlgang – 2015 in Irkutsk. Dieses Jahr wurde in Chabarowsk, Chakassien, Primorje und Wladimir nachgewählt. In den anderen 18 Regionen konnten sich die vom Kreml unterstützten Bewerber in der ersten Runde durchsetzen.
Das Ergebnis des zweiten Wahlgangs in den vier Regionen machte die Niederlage der Kreml-Kandidaten noch deutlicher. Nachdem ein Teil der Bevölkerung erkannt hatte, dass auch alternative Kandidaten Siegchancen haben, stiegen sowohl das Interesse an den Wahlen als auch die Wahlbeteiligung. Davon profitierten die Kandidaten der Systemopposition, der nationalistischen Liberaldemokratischen Partei Russlands (LDPR) und der Kommunistischen Partei Russlands (KPRF). Beide Parteien sind in der Duma vertreten, können dort aber angesichts der absoluten Mehrheit von Einiges Russland kaum etwas beeinflussen. Die Systemopposition hält sich an die vom Kreml vorgegebenen Spielregeln: Sie stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und vertritt lediglich in Ansätzen alternative politische Positionen. Sie übt nur in begrenztem Umfang Kritik und richtet diese ausschließlich an die regierende Partei und nie an den Präsidenten. Im Gegenzug für ihre Loyalität wird die Systemopposition zu Wahlen zugelassen und mit bestimmten Posten belohnt.
In der zweiten Wahlrunde siegten in den Regionen Wladimir und Chabarowsk die Kandidaten der LDPR. In Primorje deutete nach der Auszählung von 95 Prozent der Wahlzettel alles auf eine Mehrheit für den Bewerber der KPRF. Doch dann kam es zu so offensichtlichen Wahlfälschungen zugunsten des Amtsinhabers, dass Hunderte in der Region auf den Straßen demonstrierten. Die Zentrale Wahlkommission in Moskau sah sich in der Folge genötigt, die Wahl zu annullieren. Der Kreml überzeugte daraufhin den unterlegenen Kandidaten, sich zurückzuziehen, und setzte einen Interimsgouverneur ein. Außerdem wurde das regionale Wahlgesetz so geändert, dass sich der Interimsgouverneur als unabhängiger Kandidat den Wählern stellen kann und nicht als Repräsentant von Einiges Russland ins Rennen gehen muss. Damit ist die Hoffnung verknüpft, ihn vor dem allgemeinen Ärger über die Regierungspartei schützen zu können. Die Neuwahlen finden im Dezember 2018 statt.
Auch in der Republik Chakassien steht der Regionalchef noch nicht fest. Vor der zweiten Wahlrunde traten zuerst der Amtsinhaber und dann schrittweise zwei Nachrücker zurück. Der einzige verbliebene Kandidat benötigt für den Sieg im zweiten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen. Für einen unbekannten Mann von der KPRF, der seinen Erfolg der Protestwahl in der ersten Runde zu verdanken hat, ist das keine leichte Aufgabe. Sollte es ihm gelingen, ist ein Szenario wie in Primorje denkbar: Die Wahlergebnisse könnten für ungültig erklärt werden. In diesem Fall würde ein neues Wahlverfahren eröffnet und der zwischenzeitlich eingesetzte Interimsgouverneur hätte genug Zeit, um sich auf den Urnengang vorzubereiten. Die zweite Runde soll nun am 11. November stattfinden.
Regionalwahlen im zentralisierten Russland
Seit der Jahrtausendwende ist die russische Innenpolitik unter Wladimir Putin auf eine zunehmende »Entmachtung« der Regionen ausgerichtet (siehe SWP-Aktuell 66/2017). Im Zuge dieser Entwicklung verloren die Regionalwahlen an Bedeutung und sind zu einem stark gesteuerten Mechanismus zur Legitimierung der amtierenden Gouverneure degradiert. Um die Regionen noch besser kontrollieren zu können, schaffte der Kreml 2004 die Direktwahl der Gouverneure ab. Nach der großen Protestwelle der Jahre 2011/12 machte die Regierung diesen Schritt zwar wieder rückgängig, sie führte aber gleichzeitig einen sogenannten »Munizipalfilter« ein: Um zu den Wahlen zugelassen zu werden, müssen sich die Kandidatinnen und Kandidaten seither die Unterstützung einer bestimmten Anzahl von lokalen Abgeordneten sichern. Angesichts der Dominanz der Partei Einiges Russland in den Stadtparlamenten schließt dies de facto die Teilnahme unerwünschter Kandidaten aus.
Außerdem verschärfte der Kreml das Parteiengesetz und änderte das Wahlrecht. Mit diesen Maßnahmen zementierte er die führende Position der Regierungspartei in den Regionen. Um den Anschein eines politischen Wettbewerbs zu wahren und die Stimmen der Unzufriedenen zu absorbieren, werden die Gouverneurswahlen mit vermeintlichen Konkurrenten dekoriert. Diese dekorative Rolle spielt die Systemopposition.
Weil sie ihren Posten, auch wenn sie gewählt wurden, dem Kreml zu verdanken haben, sehen die Gouverneure ihre Hauptaufgabe darin, Moskau ihre Loyalität zu beweisen. Sie haben keine Anreize, sich um die langfristige Entwicklung der Regionen zu kümmern. Ihre Bemühungen richten sich allein darauf, die in Moskau festgelegten Ziele, die sich oft auf quantifizierte Vorgaben beschränken, zu erreichen. Das führt zu Informationsdefiziten im Verhältnis zwischen der politischen Führung des Landes und den Regionen: Die Gouverneure kommunizieren die Probleme der Regionen nicht nach Moskau, aus Angst, die Unterstützung der Zentralregierung zu verlieren. Die Regionalwahlen sind für den Kreml ein Feedback-Mechanismus, um Erkenntnisse über die reale Lage im Land zu sammeln, und ein Testlauf im Vorfeld wichtiger Abstimmungen auf föderaler Ebene.
Protestabstimmung und der ungewollte Wahlsieg
Die Gründe für die jüngsten Wahlergebnisse in den Regionen liegen zuallererst in der sozioökonomischen Lage, die sich verschlechtert und durch die höchst unpopuläre Rentenreform (siehe SWP-Aktuell 35/2018) verschärft hat, und in den fehlenden positiven Visionen für die regionale Entwicklung. Die Regionen, in denen sich der Protest besonders deutlich manifestiert hat, sind – wie auch viele andere Regionen, in denen am 9. September gewählt wurde – von der wirtschaftlichen Rezession betroffen. Im Unterschied zu den übrigen Regionen waren die Gouverneure in drei der vier Gebiete, in denen es einen zweiten Wahlgang geben wird, bereits sehr lange im Amt: seit 2009 in Chabarowsk und Chakassien und seit 2013 in Wladimir. Eine Ausnahme bildet Primorje. Der dortige Regionalchef wurde erst 2017 zum Interimsgouverneur ernannt. Allerdings gehört Primorje politisch ohnehin zu den für die Zentralregierung schwierigen Regionen. In 15 der 22 Regionen wurden die Spitzen der Exekutiven erst 2017 oder 2018 ersetzt.
In den Wahlergebnissen kommt keine gezielte Unterstützung für die Opposition zum Ausdruck, sondern eine Missstimmung gegenüber den Kandidaten der Regierungspartei, denen es in den vielen Jahren, in denen sie an der Macht sind, nicht gelungen ist, den negativen sozioökonomischen Tendenzen – sinkende Realeinkommen und Einschnitte bei Sozialleistungen – entgegenzuwirken. Die Ankündigung der Rentenreform war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
In Sachen Rentenreform äußerten sich alle Parteien der Systemopposition kritisch. Die Welle des sozialen Unmuts, die diese Maßnahme auslöste, bot ihnen im Hinblick auf die Wahlen eine unerwartete Chance. Das ohnehin schwächelnde Ansehen der Regierungspartei, die den Reformentwurf in seiner ersten und härtesten Fassung unterstützte, hatte erheblich gelitten. Die Zustimmungswerte für Einiges Russland waren im August 2018 auf 28 Prozent gesunken. Die Systemopposition verließ jedoch auch in dieser Situation nicht die »Grenzen des Erlaubten«: Vor den Wahlen hielt sie in einigen Regionen ihre starken Kandidaten zurück und ließ stattdessen unbekannte Parteimitglieder antreten.
Auch in den vier Regionen, in denen die Proteststimmen dafür sorgten, dass ein zweiter Wahlgang nötig wurde, galten die Wahlsieger als Zählkandidaten. Sie verzichteten auf eine aktive Wahlkampagne und rechneten selbst nicht mit einem Erfolg. Nach dem unerwarteten Wahlsieg erklärten die gewählten Gouverneure der LDPR öffentlich, dass sie »die Politik des Präsidenten unterstützen« würden. Das macht deutlich, dass die Systemopposition gegenüber dem Kreml loyal bleiben wird. Die ihr zuzurechnenden Parteien sind lange genug im politischen Geschäft, um zu wissen, dass der Kreml seine Instrumente hat, um die Opposition und ihre Gouverneure bei Bedarf zu schwächen. Dank der Loyalitätsbekundungen dürfte Moskau die Kontrolle auch über die vier genannten Regionen weiterhin behalten. Der Teilerfolg der Systemopposition stellt daher keine unmittelbare Bedrohung für die Regimestabilität dar und dürfte auch nicht zur Herausbildung einer echten politischen Konkurrenzsituation führen.
Auch Putins Niederlage
Die Kandidatinnen und Kandidaten der Regierungspartei bauten ihre Wahlkampagnen ganz darauf auf, ihre Nähe zum Präsidenten zu betonen. Während die persönliche Unterstützung des Präsidenten bisher als Erfolgsgarantie galt, reichte sie auf einmal in vier Regionen nicht mehr für den Sieg aus. Das schlechte Abschneiden der Kreml-Kandidaten spiegelt die Veränderung der Wahrnehmung des Präsidenten in der Bevölkerung wider: Seine nach der Annexion der Krim hohen Zustimmungswerte blieben von der Verschärfung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme lange Zeit unbeeinflusst. Dem Hauptanliegen des Präsidenten, die Großmachtrolle Russlands wiederherzustellen, maß auch die Bevölkerung große Bedeutung bei. Innenpolitisch wurde der Präsident als Anwalt des Volkes betrachtet, der unpopuläre Initiativen der Regierung im Sinne der Bürgerinnen und Bürger korrigiert. Seit der Ankündigung der Rentenreform schwand jedoch der Rückhalt auch für Putin: Im August 2018 wollten nur 45 Prozent der Befragten wieder für ihn stimmen. Bei der Präsidentschaftswahl im März 2018 hatte Putin noch 77 Prozent der Stimmen erhalten. Zwar milderte der Präsident die Rentenreform etwas ab, doch für eine wachsende Gesellschaftsgruppe ist er ein Teil jener Staatsmacht geworden, die sich nicht für die Belange der eigenen Bevölkerung einsetzt. Das Votum gegen die Kreml-Protegés bei den Regionalwahlen hat gezeigt, dass die vom Zentrum erarbeitete Formel für den Wahlerfolg seiner Kandidaten – fehlende Konkurrenz und eine Legitimierung durch die Nähe zum Präsidenten – nicht mehr zuverlässig funktioniert, wenn der Präsident selbst die Unter-stützung der Bevölkerung verliert.
Ausblick
2019 stehen in Russland erneut Regionalwahlen an, die nächsten Duma-Wahlen finden 2021 statt. Angesichts der wirtschaftlichen Indikatoren ist nicht zu erwarten, dass sich die sozioökonomische Lage für die russische Bevölkerung spürbar verbessert. Die Rentenreform wird bis dahin ihre Wirkung entfalten, was die Unzufriedenheit weiter befeuern und zu neuen Wahlniederlagen der Partei der Macht führen kann.
Eine mögliche Reaktion des Kremls auf diese Entwicklung könnte in einer begrenzten Pluralisierung des politischen Lebens bestehen. Aus Angst vor neuen Niederlagen könnte der Kreml der Systemopposition einen größeren Grad an politischer Autonomie zugestehen. Doch voraussichtlich betrachtet die russische Führung das Risiko eines damit verbundenen Kontrollverlusts über die Systemopposition als zu groß. In der Folge würden Wahlen nämlich nicht mehr als steuerbare Legitimationsmaschine für die eigenen Kandidaten fungieren können.
Daher wird der Kreml viel wahrscheinlicher mit Repressionen reagieren, mit weiteren Einschränkungen der ohnehin engen Freiräume für die – sowohl systemkritische als auch systemtreue – Opposition oder gar mit der erneuten Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure. Mit der letztgenannten Maßnahme würde er jedoch einen wichtigen Informationskanal verschließen, über den er bisher Erkenntnisse über die reale Lage in den Regionen erlangt hat. Die daraufhin zunehmenden Defizite in der Kommunikation Moskaus mit den Regionen würden dazu führen, dass der Kreml auf mögliche Krisen und soziale Proteste in der Peripherie künftig noch träger reagiert.
Die Repressionen könnten mehr und mehr auch die Systemopposition treffen. Auch wenn der Wahlerfolg ihrer Kandidaten in den vier Regionen keine unmittelbare Bedrohung für die Regimestabilität darstellt, wird der Kreml in dem von ihm nicht autorisierten Erlangen von Macht ein Warnsignal und eine Anfechtung des gesamten Systems sehen, dem es entgegenzutreten gilt. Es ist daher davon auszugehen, dass der unerwartete Wahlsieg der systemoppositionellen Kandidaten keine Erweiterung des politischen Wettbewerbs zur Folge haben wird, sondern eine Verschärfung all jener Strategien, mit denen der Kreml seine Macht erhält.
Julia Mierau ist Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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