Die russische Gesellschaft erlebt vor der Wahl zur Staatsduma am 19. September 2021 eine drastische Ausweitung staatlicher Repression. Die staatlichen Maßnahmen sind dabei ihrerseits einschneidender und richten sich gegen mehr Menschen als bei früheren Repressionswellen. Sie greifen auf Bereiche über, die bislang wenig betroffen waren, und dringen zusehends in die Privatsphäre der Menschen ein. Jahrelang hatte sich der russische Staat im Wesentlichen darauf beschränkt, die politische Macht in der sogenannten Machtvertikale zu konzentrieren und den Informationsraum mittels Propaganda und Ausschaltung unabhängiger Medien zu kontrollieren. Diese Maßnahmen scheinen aus Sicht der politischen Führung nicht mehr auszureichen, um die eigene Herrschaft zu stabilisieren. Sie greift deshalb zunehmend zu Repressionen. Dies führt zu einer weiteren Verhärtung der russischen Autokratie. Auch deutsche Nichtregierungsakteure sind mittlerweile in größerem Maße von russischen staatlichen Repressionen betroffen. Eine Verlangsamung oder gar Umkehrung dieses Trends ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
Repressionen finden (nicht nur) in Russland in Form von Restriktionen (Beschneidung von Freiheits- und Bürgerrechten) und physischer Gewalt statt. Im Laufe der letzten Jahrzehnte kam es immer wieder zu politischen Morden und Mordversuchen. Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny ist lediglich der jüngste Fall. Ihm gingen die spektakuläre Ermordung Boris Nemzows im Februar 2015 und zahlreiche weitere Anschläge inner- und außerhalb der russischen Staatsgrenzen voraus. Ramsan Kadyrow hat in der russischen Teilrepublik Tschetschenien schon vor Jahren Gewalt gegen Opposition und Zivilgesellschaft zur zentralen Säule seiner Herrschaft gemacht.
Die meisten dieser Verbrechen werden nicht vollständig aufgeklärt. Der russische Staat bestreitet, an ihnen beteiligt oder für sie verantwortlich zu sein. Sicherheitskräfte schlagen Proteste gewaltsam nieder. Im russischen Strafvollzug ist Folter eine gängige Praxis. Die Beschneidung von Bürger- und Freiheitsrechten ist weit verbreitet. Beide Formen von Repression, Restriktion und Gewalt, haben in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen. Der Staat setzt wie bisher vor allem auf Restriktion, weitet aber auch die Anwendung physischer Gewalt aus.
Was ist neu?
Drei Aspekte sind neu im Vergleich zu früheren Wellen der Repression: Die Maßnahmen sind erstens massiver und betreffen mehr Menschen. Alleine bei den russlandweiten Demonstrationen Ende Januar und Anfang Februar 2021 nahmen Sicherheitskräfte rund 11 500 Personen vorübergehend fest. Es kam zu Gewaltakten gegen Protestierende und zu unzähligen Verletzungen der Rechte von Festgenommenen. Die Sicherheitskräfte gingen auch rigoros gegen Medienvertreterinnen und ‑vertreter vor.
Im Zusammenhang mit den Protesten wurden seit Januar mehrere tausend Ordnungsstrafen verhängt. Dabei stieg der Anteil der sogenannten administrativen Arreste gegenüber jenem von Bußgeldern im Vergleich zu den Vorjahren sprunghaft an. Außerdem wurden über 130 Strafverfahren eingeleitet und erste mehrjährige Haftstrafen verhängt. Ordnungsstrafen und Strafverfahren werden damit begründet, dass die Betroffenen an nicht genehmigten Demonstrationen teilgenommen, Verfahrens- und Hygieneregeln verletzt oder Minderjährige zur Teilnahme motiviert hätten. Auch »Likes« und »Reposts« von Informationen über die Proteste in den sozialen Netzwerken werden vermehrt als Verstöße geahndet. Die Menschenrechtsorganisation OVD-Info, die sich auf die Dokumentation von Rechtsverletzungen und die juristische Unterstützung von Festgenommenen spezialisiert hat, bezeichnete das Vorgehen des Staates gegen die Protestierenden als »weitreichendste und gröbste Verletzung des Versammlungsrechts in der jüngeren russischen Geschichte«.
Auslöser der Proteste war die Verhaftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny anlässlich seiner Rückkehr nach Moskau am 17. Januar 2021. Nawalny wurde am 2. Februar von einem Moskauer Gericht wegen Verstößen gegen Bewährungsauflagen im Zusammenhang mit einem früheren Gerichtsurteil zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon das betreffende Urteil für politisch motiviert erklärt und die russische Regierung aufgefordert, es aufzuheben.
Staatliche Institutionen und die Teams von Alexej Nawalny veröffentlichten sehr unterschiedliche Schätzungen darüber, wie viele Personen an den Demonstrationen von Januar bis April teilgenommen haben. Bilder belegen, dass am 23. und 31. Januar Tausende Menschen in über 120 russischen Städten auf die Straße gingen. Es handelte sich somit um die größten Kundgebungen seit den Massenprotesten gegen Wahlfälschungen 2011/12.
Die Repressionen greifen, zweitens, neuerdings auch auf Einrichtungen und Personengruppen über, die bislang wenig betroffen waren. So verursachte die Verhaftung des bekannten Rechtsanwalts Iwan Pawlow große Unruhe. Ihm wird vorgeworfen, vertrauliche Informationen aus einem Prozess weitergebeben zu haben. Pawlow ist Leiter von Team 29, einer Vereinigung von Anwälten und Anwältinnen, die sich für Bürgerrechte einsetzen. Unter anderem vertrat Team 29 Nawalnys »Stiftung zum Kampf gegen Korruption« (Fond Borby s Korrupzii, FBK). Seine Festnahme wurde als Ausweitung der staatlichen Repression auf Juristinnen und Juristen gewertet. Mitte April eröffnete die Moskauer Staatsanwaltschaft ein Verfahren zur Einstufung von FBK und anderen Organisationen Alexej Nawalnys als »extremistische Organisation«. Parallel dazu lancierte die Staatsduma ein Gesetz, das es Angehörigen »extremistischer Organisationen« auch rückwirkend verbietet, ihr passives Wahlrecht in Anspruch zu nehmen. Am 9. Juni wurden FBK, die regionalen Stäbe Nawalnys und seine Stiftung zur Verteidigung von Bürgerrechten erwartungsgemäß als »extremistisch« eingestuft – mit weitreichenden politischen und strafrechtlichen Folgen nicht nur für Aktivistinnen und Aktivisten, sondern potenziell auch für Hunderttausende privater Spenderinnen und Spender. FBK hatte wegen des Verfahrens bereits am 29. April seine landesweiten Strukturen aufgelöst, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keinen zusätzlichen Risiken auszusetzen.
Im Frühjahr gerieten außerdem diverse unabhängige Medien unter Beschuss. Mitte April wurden gegen drei Redakteurinnen und Redakteure der Studierendenzeitung DOXA Strafverfahren eingeleitet; sie stehen seitdem unter Hausarrest. Ihnen wird vorgeworfen, Minderjährige zur Teilnahme an den Pro-Nawalny-Protesten aufgerufen zu haben. Im Mai wurden Meduza und V‑Times, zwei der wichtigsten unabhängigen russischsprachigen Medien, zu »ausländischen Agenten« erklärt.
Diese Einstufung stellt die derzeit über 90 »ausländischen Agenten« vor existenzielle Herausforderungen: Sie müssen diese Bezeichnung gut sichtbar in allen öffentlichen Äußerungen führen und sich damit selbst diskreditieren. Zudem unterliegen sie einer verschärften bürokratischen Rechenschaftspflicht, die Zeit und Personalressourcen bindet und besonders kleinere Organisationen und natürliche Personen überfordert. Ihr diskreditierter Status schreckt russische Geldgeber ab. »Ausländische Agenten« sehen sich deshalb sehr schnell mit finanziellen Problemen konfrontiert, die ihre Existenz gefährden. Meduza reagierte mit einer Crowdfunding-Kampagne, die binnen weniger Tage 80 000 Menschen zu Spenden motivierte. Anderen Medien, Organisationen und Individuen fehlen solche Kapazitäten. V-Times kündigte am 3. Juni die Selbstauflösung an. Das staatliche Vorgehen gegen Meduza, V‑Times und DOXA ist ein schwerer Schlag für die unabhängige Medienlandschaft in Russland.
Anders als bislang dringt der Staat, drittens, zunehmend in die Privatsphäre ein und nimmt immer mehr politisch nicht organisierte Menschen ins Visier. Seit den Protesten zu Jahresbeginn haben Sicherheitskräfte Hunderte Bürgerinnen und Bürger in ganz Russland zu Hause und am Arbeitsplatz aufgesucht, ermahnt, vorgeladen und mit Geldbußen oder Arrest belegt. In Moskau wurden erstmals in großem Stil Kameras im öffentlichen Raum zur automatischen Gesichtserkennung genutzt. Betroffen waren nicht nur Menschen, die tatsächlich an den Protesten teilgenommen hatten. Auch Familienangehörige oder Nachbarinnen und Nachbarn mussten Fragen der Sicherheitskräfte beantworten. Im ganzen Land gab es zahlreiche Entlassungen, die mit der Teilnahme an Protesten oder dem Aufruf dazu in Verbindung gebracht wurden. Der spektakulärste Fall betraf rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Moskauer Metro, die Mitte Mai wegen ihrer Teilnahme an den Protesten ihre Jobs verloren.
Begleitet werden die Repressionen von einer Welle neuer Gesetze, die die Bewegungsfreiheit von Oppositionellen und der Zivilgesellschaft weiter einschränken und den Spielraum des Staates für repressives Handeln ausweiten. Unter anderem können seit Ende 2020 auch natürliche Personen als »ausländische Agenten« eingestuft werden, wenn sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Das Demonstrationsrecht wurde noch stärker beschnitten; zudem wurden neue Möglichkeiten geschaffen, gegen politische Äußerungen im Internet und in sozialen Netzwerken vorzugehen. Ein Anfang Juni in Kraft getretenes »Gesetz zur aufklärerischen Tätigkeit« zielt darauf, die Thematisierung und Verbreitung politisch nicht genehmer Inhalte in Erziehung, Ausbildung, Wissenschaft und internationaler wissenschaftlicher Kooperation zu unterbinden. Die Gesetze zu »extremistischen« und »unerwünschten« Organisationen wurden im Juni drastisch verschärft.
Der Druck auf Oppositionspolitiker und ‑politikerinnen wird unterdessen immer größer. Viele haben das Land verlassen, zuletzt der ehemalige Dumaabgeordnete Dmitri Gudkow. Das Ausmaß und die qualitativen Veränderungen staatlicher Repressionen in den vergangenen Monaten belegen aber: Die Zeiten, in denen lediglich punktuell gegen besonders sichtbare Gegnerinnen und Gegner des Staates vorgegangen wurde, sind vorbei.
Warum jetzt?
Der offensichtliche Anlass für die verschärften Repressionen ist die Dumawahl am 19. September 2021. Um der schwächelnden Machtpartei »Einiges Russland« den Sieg zu sichern, räumt der Staat alles aus, was als politische Alternative gelten könnte.
Die tieferliegende Ursache für die jüngsten Entwicklungen ist jedoch die seit Jahren schwelende Legitimationskrise des russischen politischen Systems. Sie wurzelt in der Gleichzeitigkeit gesellschaftlicher Modernisierung und politischer Autokratisierung, die das Verhältnis von Gesellschaft und Staat seit den 2000er Jahren prägt. Zunächst wurde der Widerspruch durch wirtschaftliches Wachstum und steigenden Wohlstand überdeckt. Diese Phase endete mit der Wirtschaftskrise 2008/09 und der Niederschlagung der Massenproteste während der Duma- und Präsidentschaftswahlen 2011/12.
Nach der Rückkehr Wladimir Putins in den Kreml 2012 und der Annexion der Krim 2014 wurden Traditionalismus, Nationalismus, starke Führung und Großmacht-Konfrontation mit dem Westen zum zentralen Legitimationsnarrativ des russischen Staates. Der sogenannte »Krim-Effekt«, der in der Gesellschaft einen enormen Konformitätsdruck erzeugt hatte, zeigte jedoch nur vier Jahre lang Wirkung. Im Sommer 2018 kündete die Rentenreform in den Augen vieler Menschen vom endgültigen Scheitern des ungeschriebenen »Gesellschaftsvertrags«, der für materielle Sicherheit politische Passivität verlangte. Seitdem schlägt das Pendel zwischen gesellschaftlichen Protesten und staatlicher Repression wieder heftiger aus. Zu größeren Protestwellen kam es im Sommer 2019 in Moskau anlässlich der Wahl zur Moskauer Stadtduma oder in der Region Chabarowsk nach der Absetzung und Inhaftierung von Gouverneur Sergej Furgal ab Juli 2020. Die Proteste des Winters und Frühjahrs 2021 sind Fortsetzung und vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung.
Mit der sich verschärfenden Legitimationskrise sieht der Staat auch seine Stabilität zunehmend gefährdet. Er hat bislang keine anderen Legitimationsquellen erschlossen und erweist sich als unfähig, mit politischem Dissens in der Gesellschaft umzugehen. Die »Angst der Herrschenden«, von der nun häufig die Rede ist, sollte jedoch nicht überschätzt werden. Der Staat greift schließlich vielfach auf »altbewährte Rezepte« zurück und vertraut auf ihre Wirksamkeit. Aus Sicht der politischen Führung kann beispielsweise die Repressionswelle 2011/12 als Erfolg gewertet werden: Die Proteste flauten nach dem Zusammenprall auf dem Bolotnaja-Platz im Mai 2012 rasch ab.
Die gegenwärtige Repressions-Dynamik wird wesentlich von zwei Kontextfaktoren geprägt, die seit 2020 den innenpolitischen Druck in Russland enorm erhöht haben. Die Covid-19-Pandemie gefährdete im Frühjahr vorübergehend die Verfassungsreform, die den Fortbestand des herrschenden politischen Systems und die Zukunft Wladimir Putins sichern sollte. Das Virus war für das gesamte Jahr 2020 bestimmend, belastete die russische Wirtschaft schwer und forderte entgegen deutlich geringerer offizieller Angaben wahrscheinlich mehrere Hunderttausend Menschenleben.
Der eigentliche politische Paukenschlag des Jahres 2020 war jedoch die politische Krise in Belarus. Die Protestbewegung im Nachbarland wurde für die politische Führung und für regierungskritische Kräfte in Russland vom ersten Augenblick an zur Projektionsfläche eigener Befürchtungen bzw. Hoffnungen. Moskau stellte sich früh hinter den belarussischen Herrscher und gab zu erkennen, dass es einen Machtwechsel in Minsk nicht dulden werde. Mittlerweile scheint die »autokratische Schicksalsgemeinschaft« mit Minsk unauflöslich und nicht aufkündbar. Ein Ende des belarussischen Regimes, das einen veritablen Krieg gegen die eigene Gesellschaft führt, wäre für Moskau ein gefährlicher Präzedenzfall und eine schwer zu verkraftende Niederlage auf der internationalen Bühne. Die innenpolitischen Entwicklungen in beiden Ländern sind inzwischen noch engmaschiger verwoben, als sie es zuvor schon waren.
Effizienz und Auswirkungen der neuen Repressionswelle
Aus Sicht des Staates zeitigen die Repressionen der ersten Jahreshälfte bereits »Erfolge«. Die Protestbereitschaft hat laut jüngsten Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums seit Januar deutlich nachgelassen. Auch die Sympathiewerte für jene Menschen, die in den vergangenen Monaten auf die Straße gegangen sind, waren zuletzt wieder rückläufig. Der Bekanntheitsgrad von Alexej Nawalny ist zwar seit August 2020 gestiegen; das gilt jedoch nicht für die Rate seiner politischen Unterstützung. Er sitzt im Gefängnis, viele seiner engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ins Ausland geflohen, und die Struktur seiner Organisationen wurde durch die jüngsten Gesetze und Gerichtsurteile schwer beschädigt. Unter diesen Bedingungen werden es Nawalny und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter sehr schwer haben, ihre politischen Ziele weiterhin zu verfolgen.
Wladimir Putins Zustimmungswerte hingegen liegen nach einem pandemiebedingten Tief von 59 Prozent im vergangenen Frühjahr nun wieder bei 67 Prozent. Dazu trägt auch das offizielle Narrativ vom Sieg über die Corona-Pandemie bei, ebenso der Verzicht auf weiterreichende Einschränkungen selbst während der zweiten, von hohen Infektionszahlen bestimmten Pandemiewelle im Herbst und Winter 2020/21.
Dies ändert freilich nichts an der anhaltenden Legitimationskrise des Systems. Sie teilt die russische Gesellschaft in eine langsam wachsende Minderheit der Unzufriedenen und Protestwilligen und eine schrumpfende Mehrheit, die aus Traditionalismus, Resignation oder Angst vor Veränderungen das politische System – häufig nolens volens – weiterhin mitträgt. Umfragen sind in autoritären Kontexten wie dem russischen mit großer Vorsicht zu behandeln. Es ist gut möglich, dass sich Respondentinnen und Respondenten auch in anonymen Befragungen aus Angst vor negativen Konsequenzen mit Kritik zurückhalten. Träfe dies zu, wäre sogar von mehr als nur rund 35 Prozent Unzufriedenen auszugehen, auf die beispielsweise Lewada-Umfragen derzeit schließen lassen.
Der russische Staat jedenfalls wirkt mit seiner Repressionsstrategie auf diese gesellschaftliche Polarisierung ein: Er verstärkt einerseits die antiliberale und antiwestliche Propaganda, die sich an die traditionalistische und/oder wandlungsaverse Mehrheit richtet. Andererseits unterdrückt er immer vehementer die kritische Minderheit, um sie zum Schweigen zu bringen und Protestwillen in der gesamten Gesellschaft zu unterdrücken. Die politische Führung kann sogar damit rechnen, durch die Repression der Minderheit bei Teilen der Mehrheit neue Legitimität zu erzeugen, »schützt« er sie doch auf diese Weise vor unliebsamer Instabilität. Der Fortgang dieses Prozesses ist schwer zu prognostizieren. Viel hängt davon ab, ob nun die nächste Generation partizipationswilliger Menschen den Weg ins Ausland und in die Privatsphäre sucht oder sich trotz steigenden Risikos weiterhin bemüht, die Verhältnisse im Land zu verändern. Die Emigrationsbereitschaft hat jedenfalls im vergangenen Jahrzehnt stetig zugenommen.
Phasen der Repression verändern auch das politische System. Sie stärken die Repressionsakteure, verleihen also den Sicherheitskräften mehr Einfluss im Machtapparat. Repression schafft auf diese Weise strukturelle Fakten, die sich schwer rückgängig machen lassen. Auch hier wird ein Trend des letzten Jahrzehnts fortgeschrieben, in dem die Macht der Sicherheitsdienste stetig angewachsen ist. Die auf autoritäre Herrschaftsstabilisierung ausgerichtete staatliche Politik trachtet danach, gesellschaftlichen Wandel zu verlangsamen. Dissens wird mit immer härteren Mitteln unterdrückt, fragmentiert und vereinzelt, um ihn »unschädlich« zu machen. Dieser Mechanismus wirkt auch auf der Ebene der politischen Elite, deren Angehörige ebenfalls ins Fadenkreuz politischer Repression geraten können.
Die doppelt miteinander verschränkte Dynamik in Russland und Belarus lässt wenig Raum für Hoffnung, dass Moskau (oder Minsk) in naher Zukunft von breit(er) angelegter Repression als immer wichtigerem Herrschaftsinstrument ablassen werden. Da Moskau Lukaschenkos Unterdrückung der belarussischen Volksbewegung bedingungslos unterstützt, stellt sich eher die bange Frage, ob belarussische Verhältnisse perspektivisch auch in Russland eintreten könnten. In jedem Fall führen die jüngsten Entwicklungen zu einer deutlichen Verhärtung der russischen Autokratie, die Öffnung und Kompromiss nach innen wie nach außen auf nicht absehbare Zeit unwahrscheinlich macht.
Repression transnational – auch gegen deutsche Organisationen
Am 26. Mai 2021 stufte die russische Generalstaatsanwaltschaft drei deutsche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als unerwünscht ein: den Deutsch-Russischen Austausch (DRA), das Zentrum Liberale Moderne (LibMod) und das Forum russischsprachiger Europäer. Das gleiche Schicksal hatte bereits 2018 die in Berlin ansässige European Platform for Democratic Elections (EPDE) ereilt. Das Gesetz über »unerwünschte Organisationen« von 2015 verbietet nichtrussischen Organisationen, die angeblich den russischen Staat bedrohen, jedwede Tätigkeit auf russischem Territorium. Es wurde pünktlich zur Listung der drei deutschen Organisationen noch einmal erheblich verschärft. Das Gesetz belegt Angehörige der betroffenen Organisationen mit Einreisesperren und verbietet russischen Bürgerinnen und Bürgern und in Russland Ansässigen bei Strafe jede Kooperation mit ihnen.
Das russische Justizministerium führt derzeit 34 ausländische Organisationen als unerwünscht. Allein 17 stammen aus den USA. Darunter sind aber auch mehrere europäische Organisationen, zum Beispiel das European Endowment for Democracy. Organisationen müssen umgehend nach ihrer Listung alle Arbeitskontakte nach Russland einstellen, um russische Partnerinnen und Partner nicht weiter zu gefährden. Deren Situation wird damit noch prekärer, denn die Anzahl der ausländischen Kooperationspartner und Finanzierungsquellen nimmt stetig ab.
EPDE, DRA und LibMod sind im Petersburger Dialog vertreten. Die russische politische Führung signalisiert mit der Listung, dass sie in ihrem Bestreben, Kritik und vom Regime abweichende politische Positionen auszuschalten, auch vor diesem traditionsreichen deutsch-russischen Dialogprojekt nicht Halt macht. Es gibt Hinweise aus der russischen Staatsduma, dass in Zukunft auch deutsche politische Stiftungen Ziel entsprechender Maßnahmen werden könnten. Namentlich genannt wurde die Heinrich-Böll-Stiftung. Die deutsche Seite des Petersburger Dialogs hat alle weiteren gemeinsame Aktivitäten vorerst abgesagt und die Wiederaufnahme an die Aufhebung der Listung gebunden.
Das russische Vorgehen gegen deutsche NGOs unterstreicht die isolationistischen Tendenzen in der russischen Außenpolitik und ist ein Beleg für die drastische Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen seit dem Herbst vergangenen Jahres. Die politische Krise in Belarus und die Vergiftung Alexej Nawalnys haben die Temperatur des ohnehin frostigen Verhältnisses weiter abgesenkt. Die nächste Bundesregierung wird ihrer Russlandpolitik die Annahme zugrunde legen müssen, dass Verständigung und die Suche nach Kompromissen mit Moskau angesichts der politischen Verhärtung im Inneren noch schwieriger werden wird. Gleichzeitig entsteht ein kaum auflösbarer Zielkonflikt für deutsche und europäische Russlandpolitik:
Die fünf Prinzipien der EU für den Umgang mit Russland sind darauf ausgerichtet, Übergriffe des russischen Staates in der gemeinsamen Nachbarschaft und gegenüber der EU und ihren Mitgliedstaaten auf allen Ebenen entgegenzutreten. Gleichzeitig sollen die Kontakte mit der russischen Gesellschaft gestärkt und ausgebaut werden. Der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, hat dem Europäischen Rat jüngst vorgeschlagen, diesen Ansatz im Prinzip beizubehalten. Angesichts der angespannten Lage soll jedoch mit größerem Nachdruck auf russische Vorstöße reagiert werden (push back), um die russische Politik stärker einzuhegen (constrain).
Gleichzeitig bleiben gesellschaftliche Kontakte ein wichtiges Ziel. Die negative Dynamik auf der politischen Ebene verengt jedoch die Spielräume dafür erheblich – zumal Moskau alles daransetzt, die russische Gesellschaft nach außen abzuschotten. Das fünfte Prinzip der EU, die Förderung von gesellschaftlichen Kontakten, wird auf diese Weise konterkariert. Die Listung der deutschen NGOs und die Unterbrechung des Petersburger Dialogs zeigen dies sehr deutlich. Deutschland und die EU mussten bereits in den vergangenen Jahren ihre Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Akteuren in Russland an die restriktiveren Bedingungen anpassen und mit einem hohen Maß an Sensibilität für den schwierigen Kontext agieren. Es gilt nun, auf diesem Weg weiter vorsichtig voranzugehen und gleichzeitig den Menschen in Russland zu signalisieren, dass das Interesse am Kontakt mit ihnen groß ist.
Deutschland und die EU werden sich außerdem auf einen Anstieg der Emigration aus Russland und Belarus einstellen müssen. Diese Menschen müssen unterstützt werden. Sie, wie die russische Community generell, sind aber auch wichtige Ansprechpartnerinnen und ‑partner und mögliche Transmissionsriemen in die russische Gesellschaft hinein. Der direkte Kontakt mit der Bevölkerung in Russland ist durch die Pandemie abrupt unterbrochen worden und wird nach deren Überwindung schwierig bleiben. Visafreiheit für russische Bürgerinnen und Bürger, ein in der EU seit langem umstrittenes Thema, wird perspektivisch immer wichtiger werden, um den Kontakt mit der russischen Gesellschaft nicht abreißen zu lassen.
Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2021A46