Die Entwicklung des Future Combat Air System (FCAS) ist Europas bedeutendstes Rüstungsvorhaben. Sowohl technologisch als auch militärisch hat das Projekt das Potenzial, neue Standards zu setzen und den Einsatz von Luftstreitkräften zu revolutionieren. Politisch ist das multinationale Vorhaben ein Lackmustest dafür, inwiefern Europa in der Lage ist, sicherheitspolitisch zusammenzuarbeiten, eigene Fähigkeiten zu entwickeln und zu diesem Zweck nationale Interessen in den Hintergrund zu stellen. Auf Berlin und Paris lastet besondere Verantwortung für den Erfolg des Projekts. Ihre unterschiedlichen Blickwinkel und Verfahren gefährden ihn jedoch – ein Scheitern hätte für alle Beteiligten gravierende Nachteile.
Die Anfänge des Future Combat Air System reichen zurück in das Jahr 2001. Damals begannen erste Studien zur Entwicklung neuer Kampfflugzeuge im europäischen Verbund. Einsatzreif soll das Gesamtprojekt FCAS planmäßig bis 2040 sein. Der Begriff Future Combat Air System bzw. sein Akronym FCAS wird häufig missverständlich gebraucht. Obwohl es natürlich Zusammenhänge zur Nachfolgelösung für die Tornado-Jets gibt, ist FCAS weit mehr als ein Kampfflugzeug-Projekt.
Die militärische Luftfahrtstrategie spricht von einem Systemverbund (»System of Systems«), das langfristig das Rückgrat der Luftstreitkräfte bilden soll. FCAS ist demnach keine einzelne fliegende Plattform, sondern ein vernetzt operierender Wirkverbund, der sich zusammensetzt aus bereits existierenden Systemen (z. B. Eurofightern oder Tiger-Kampfhubschraubern), aber auch Neuentwicklungen wie etwa der Eurodrohne und einem Next Generation Weapon System (NGWS). Das Next Generation Weapon System ist der greifbare innovative Kern des Projekts FCAS. Es besteht aus einem neuen Kampfflugzeug, dem Next Generation Fighter (NGF), sowie aus bis zu einem gewissen Grad autonomen Plattformen (Remote Carrier, RC), die alle in einem geschützten System zum Datenaustausch miteinander verbunden sind, der sogenannten Air Combat Cloud (ACC).
FCAS und NGWS sind keine Synonyme, sondern Letzteres ist integraler Bestandteil des Ersteren. Man kann sich das Gesamtsystem FCAS als Anordnung konzentrischer Kreise vorstellen: Im Zentrum steht der NGF als Kampfflugzeug der nächsten Generation. Im inneren Kreis bildet dieser mit den Remote Carrier das Next Generation Weapon System, das über die Air Combat Cloud verbunden ist und gesteuert wird. Im äußeren Kreis ist das NGWS mit anderen Systemen vernetzt. Darunter fallen sowohl Kampfflugzeuge wie der Eurofighter oder die französische Rafale, aber auch Tankflugzeuge, Marineschiffe, Satelliten und Mittel der anderen eingebundenen Streitkräfte. Dieser Verbund ist das Future Combat Air System, in dem alle Elemente ständig miteinander kommunizieren müssen, um ein Team zu bilden.
Der militärische Wert wird also weniger in den einzelnen Plattformen liegen als in der Art und Weise, wie sie miteinander kombiniert werden. Überträgt man diese Architektur auf die bestehenden Systeme der Bundeswehr, so bedeutet das: Der Eurofighter wird weiterentwickelt und im Rahmen des FCAS weiterbetrieben, der Tornado wird durch ein anderes System ersetzt, das ins FCAS integriert werden muss.
Die begriffliche Komplexität erschwert eine sachorientierte Debatte. Manche Publikation dreht sich um FCAS, meint aber im Kern nur den Kampfflugzeug-Anteil. Damit gehen Trennschärfe und Detailtiefe verloren. Reduziert man FCAS auf den Anteil NGF, unterschlägt man die Vielschichtigkeit und Tragweite des Projekts und blendet relevante Teilkomponenten wie etwa die Entwicklung der Remote Carrier aus, im Klartext: die Entwicklung einer Technologie zumindest teilautonomer bewaffneter Drohnen.
Die konkrete Gestalt eines FCAS kann in den Partnernationen jeweils unterschiedlich sein, die integrierten Plattformen werden variieren. Vielleicht werden einzelne Staaten in der Zukunft lediglich den inneren Kreis mit dem NGWS nutzen oder nur den NGF bzw. einzelne Remote Carrier in ihren Streitkräften einsetzen. Wichtig ist trotz all dieser Möglichkeiten, dass FCAS stets als Gesamtsystem verstanden wird. Diesem Design trägt die Projektarchitektur Rechnung. FCAS ist in insgesamt sieben Entwicklungsfelder (Pillars) aufgeteilt, in denen je eine Firma den Lead innehat (siehe Grafik 1).
Die Entwicklung in diesen getrennten Säulen geht unterschiedlich schnell vonstatten und auf Grundlage separater Verträge. Sie folgt dabei einem inkrementellen Ansatz. Es soll explizit nicht abgewartet werden, bis alle Komponenten vollständig entwickelt wurden, sondern Zwischenergebnisse sollen verfügbar gemacht werden, um so praktische Erkenntnisse für den weiteren Prozess zu sammeln.
Deutschland und Frankreich spielen in den Entwicklungsfeldern die Schlüsselrollen; Spanien ist dieser Organisation spät beigetreten. Möglichkeiten der Beteiligung für spanische Unternehmen ergeben sich zum einen aus noch entstehenden Lücken, die sinnvoll zu besetzen sind, zum anderen aus industriepolitischen Interessen. Obgleich betont wird, dass alle sieben Säulen maßgebliche Beiträge liefern werden, sind die greifbarsten und prägenden Ergebnisse sicherlich in den Bereichen Flugzeug inklusive Triebwerk sowie Drohnen (Remote Carrier) zu erwarten.
Die Wahrnehmung des FCAS als deutsch-französisches Projekt ist mit dem Beitritt Spaniens faktisch überholt. Mit Blick auf die Zuteilung der Entwicklungspakete zwischen Deutschland und Frankreich sowie den Projektfortschritt ist dies dennoch gültig. Eines der zentralen Handlungsfelder für die weitere Entwicklung ist die volle Integration Spaniens, die auch als Blaupause für eine spätere Aufnahme weiterer Partner dienen kann. Hierbei kommt es darauf an, Spanien so schnell wie möglich an den bisherigen Projektfortschritten teilhaben zu lassen und so einen gemeinsamen Abholpunkt der drei Trägernationen zu schaffen.
Kulturelle und strukturelle Differenzen zwischen Paris und Berlin
Deutschland setzte schon früher, für Tornado und Eurofighter, auf multinationale europäische Kooperationen. Frankreich hingegen entschied sich für nationale Entwicklungsansätze. Berlin und Paris sind ungleiche Partner, die in einem ambitionierten, bisweilen visionären Rüstungsprojekt verbunden sind. Ihre unterschiedlichen politischen und strategischen Kulturen färben jedoch auch auf gemeinsame Vorhaben wie das FCAS ab. Dem zentralistischen Präsidentialsystem Frankreichs steht der starke deutsche Parlamentarismus gegenüber, dem französischen Anspruch, unilateral militärisch handlungsfähig zu sein, die deutsche Orientierung an multilateralen Strukturen. Daher ist FCAS gleichermaßen ein politisches Projekt – aus den genannten Unterschieden können sich nämlich immer wieder Missverständnisse und dadurch Risiken ergeben, die auf Regierungsebene anzugehen sind. Angesichts der Komplexität und der vielfältigen Implikationen des Projekts sollten sich die deutschen Beteiligten über die eigenen, die französischen und die europäischen Interessen klar werden.
In FCAS wird das »Best Athlete«-Prinzip verfolgt: Jedes Unternehmen soll für den Bereich zuständig sein, für den es seine Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt hat. Die jeweils führende Nation wird in ihrer Säule durch einen Hauptpartner unterstützt. Diese Aufteilung bezieht sich vor allem auf die nun anstehenden Demonstrator-Phasen des Projekts (Phase 1B und 2).
Eine entscheidende Frage, die an dieser Stelle aufkommt, betrifft den Schutz entstehenden oder vorhandenen geistigen Eigentums: Wie weit sollen die Unternehmen ihre Verfahren und ihr Know-how offenlegen, bis zu welchem Grad werden technische Spezifikationen später zwischen den Partnern verfügbar gemacht? Eine Verständigung über den Umgang mit Rechten des geistigen Eigentums (Intellectual Property Rights, IPRs) ist elementar für den weiteren Fortgang des Projekts und hat Auswirkungen auf viele Einzelfragen. Zum Beispiel ist davon am Ende abhängig, wie die Nutzung der einzelnen Komponenten organisiert wird. Können Wartung und Instandsetzung nur industriell beim Lead-Hersteller erfolgen oder ist der Zugriff auf die Dokumentationen so weit gewährleistet, dass dies weitgehend in den Streitkräften mithilfe nationaler Industriekooperation geschehen kann? Wenn einzig der Hersteller bestimmte Teile der Wartung ausführen kann und darf, kann das die Einsatzbereitschaft beeinflussen.
Ebenfalls relevant sind solche Rechtsfragen für Anpassungen und Weiterentwicklungen wie die Integration neuer Waffen- oder Avioniksysteme. Deutschland und Frankreich nutzen heute verschiedene, teilweise rein national entwickelte Bewaffnungen für ihre Flugzeuge. Bleiben bestimmte Teile der technischen Dokumentation unter Verschluss, könnte sich hier gleichfalls ein Flaschenhals herausbilden.
Neben diesen ganz praktischen Auswirkungen spielen vor allem industriepolitische Aspekte eine Rolle. Deutsche Interessen in Form der nationalen Schlüsseltechnologien (z. B. Sensorik und elektronische Kampfführung) und französische Interessen, die die nationale industrielle strategische Autonomie betreffen (z. B. die Fähigkeit, ein Kampfflugzeug komplett selbst zu entwickeln), stehen einander gegenüber. Ziel einer europäischen Lösung muss es sein, Black Boxes in der Technik, wie sie heute häufig bei US-Importen vorkommen, möglichst gering zu halten, im Idealfall ganz zu vermeiden. Bevor FCAS in die Phase 1B und damit in Richtung der Entwicklung von Demonstratoren gehen kann, müssen diese Fragen gelöst und vertraglich in den einzelnen Projektsäulen fixiert sein.
Berlin und Paris verfolgen in der Industriepolitik ihre je eigenen nationalen (Wirtschafts-)Interessen. Frankreichs Rüstungssektor ist indes grundlegend anders strukturiert als sein deutsches Pendant. Die französische Verteidigungsindustrie ist eng mit dem Staat verzahnt und erscheint als geschlossen auftretender Komplex. Die staatliche Direction générale de l’armement (DGA) fungiert dabei als höchster Koordinator aller Rüstungsprojekte und zentraler Ansprechpartner in allen Fragen der Ausrüstung. Sie ist jedoch mehr als ein französisches Beschaffungsamt. Die DGA ist zum Beispiel verantwortlich für einen nationalen Personalpool militärischer Ingenieure (corps des ingénieurs des études et techniques de l’armement, IETA), die über Verwendungen im Militär, aber auch im Austausch mit der Industrie gezielt ausgebildet werden. Zwischen Armee und Industrie existieren daher eine viel höhere Durchlässigkeit sowie intensive kulturelle und personelle Verbindungen. Politische Berührungsängste gegenüber der Rüstungsindustrie gibt es nicht, im Gegenteil: Der Informationsfluss zwischen Regierung und Industrie ist formalisiert und selbstverständlicher Teil der nationalen Verteidigungspolitik.
Der deutschen Seite fehlt nicht nur ein institutionelles Gegenstück zur DGA; die deutsche Industrie ist ebenfalls weit weniger homogen aufgestellt. Dieses institutionelle und ingenieurskulturelle Ungleichgewicht führt auf beiden Seiten zu Missverständnissen. Während in Frankreich die DGA als der Ansprechpartner vom Vertragsschluss über Entwicklungsfragen bis hin zur Nutzung alles zentral steuert, treten in Deutschland verschiedene Akteure nach innen und außen auf: die Regierung, repräsentiert durch Verteidigungs- bzw. Wirtschaftsministerium; die Bundeswehr in Gestalt des Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw); schließlich die Industrie, durch einzelne Firmen oder durch ihre Dachverbände mit jeweils unterschiedlichen Rollen und Interessen. Dieser strukturelle Unterschied begünstigt Frankreichs Position generell und insbesondere beim Kampfflugzeug, wo es die Entwicklungsleitung stellt. Letztlich zeigt sich auch hieran, dass der deutsche Beschaffungsprozess reformiert werden muss.
Zum Begriff »Generation« bei Kampfflugzeugen
Der unter französischer Führung entwickelte Next Generation Fighter, der Kern des FCAS, wird auch als Kampfflugzeug der sechsten Generation beschrieben. Er stünde damit formal an der Spitze der technischen Entwicklung. Die US-Modelle F‑22 und F‑35 etwa bilden die sogenannte fünfte Generation, gegenwärtig die modernste Stufe.
Kampfflugzeuge werden in der Fachwelt seit längerem in Generationen eingeteilt. Dieses System erlaubt es, Kampfflugzeug-Muster zu unterscheiden, ohne sich jedes Mal mit den exakten technischen Spezifika auseinandersetzen zu müssen.
Die Kategorisierung erfolgt im Wesentlichen nach Merkmalen des technischen Entwicklungsstands und des Entwicklungszeitraums. Die Einteilung in Generationen ist deswegen eher skizzenhaft und wird an den Übergängen zweier Stufen unscharf. Darüber hinaus handelt es sich bei den in Rede stehenden Generationen nicht um einheitlich definierte, allgemein anerkannte Standards. Es gibt sogar mehrere, teils stark voneinander abweichende Ansätze der Generationeneinteilung. So unterschied beispielsweise der Historiker Richard Hallion 1990 bereits sechs Generationen, wobei die damals gängigen, heute veralteten Muster wie Tornado, Mirage 2000 oder F‑14 die sechste und modernste Generation darstellten.
Die gebräuchlicheren Systeme sehen eine andere Methodik vor, die eher technik- als epochenfixiert ist. Weit verbreitet ist insbesondere das 2009 vom amerikanischen Air Force Magazine publizierte Modell (siehe Grafik 2). Es unterteilt anhand technologischer Meilensteine fünf existierende Generationen. Dieses System stellt eine sechste Generation als nächsten Entwicklungsschritt in Aussicht und schreibt ihr unter anderem Kennzeichen wie optionale Bemannung zu. Tornado und Eurofighter finden sich hier in der Generation 4 (Tornado) bzw. 4+ (Eurofighter) wieder, was auch in der deutschen Diskussion Konsens ist. Die französischen Muster Rafale (4+) und Mirage 2000 (4) rangieren im selben Spektrum.
Die Zuordnung eines Flugzeugmusters zu einer bestimmten Generation kann also durchaus strittig sein und ist letztlich immer auch Teil der Marketingbemühungen der Herstellerfirmen.
Für die Generationenstufen wurden jeweils mehrere Kriterien festgelegt, die für die Klassifikation erfüllt sein sollen. Unklar ist, ob sie sich gegeneinander aufwiegen lassen. Kompensiert zum Beispiel bessere Radartechnik fehlende Geschwindigkeit?
Wenn man den Generationenbegriff verwendet, so bedarf dieser der Einordnung und Erläuterung und sollte nicht absolut für sich stehen. Das Label »Next Generation«, wie es in den Komponenten des FCAS gebraucht wird, bezieht sich auf die beschriebene Systematik (siehe Grafik 2), lässt aber auch andere Interpretationen zu. Folgt man dem Anspruch, dass der NGF ein Kampfflugzeug der sechsten Generation sein soll, legt man technologisch die F‑35 als Benchmark an. Dies impliziert ferner, dass eine Generation übersprungen werden muss, wenn man ohne Zwischenschritt vom Eurofighter zum NGF der sechsten Generation kommen möchte. Das wird vor allem deshalb kaum möglich sein, weil charakteristische Merkmale sowohl der fünften als auch der sechsten Generation, etwa Stealth-Technologie, bisher von keiner der beteiligten Firmen gebaut wurden und als sehr anspruchsvoll gelten.
Der Begriff »Next Generation« kann andererseits ebenso auf die heute vorhandenen Flugzeuge bezogen werden. Dies würde den Anspruch an den NGF etwas relativieren, weil er dann »nur noch« moderner als Eurofighter und Rafale sein und nicht mehr explizit die sechste Generation bilden müsste. Sinnvoll für die Entwicklung des NGF aus deutscher Sicht ist, den technologischen Stand des Eurofighters als Basis aufzufassen. Die Weiterentwicklung in Richtung NGF sollte in diesem Fall vorrangig in den Bereichen erfolgen, die der Eurofighter aktuell nicht abdeckt, das heißt hauptsächlich im elektronischen Kampf als nationaler Schlüsseltechnologie.
Die nukleare Dimension eines Future Combat Air System
Fragen der Technologiehoheit und die Generationszuordnung des NGF spielen zudem eine entscheidende Rolle, wenn es um die Nuklearfähigkeit eines FCAS geht. Frankreich betrachtet die nukleare Abschreckung als wesentlichen Eckstein seiner eigenen wie der europäischen Souveränität und sieht dafür bis 2025 in seinem Militärbudget 37 Milliarden Euro vor. Frankreichs nukleares Potenzial ist mit rund 300 Sprengköpfen das viertgrößte der Welt. Neben mit ballistischen Raketen bestückten U‑Booten verfügt Frankreich über nukleare Marschflugkörper, die mit dem Kampfflugzeug Rafale verbracht werden, auch von Flugzeugträgern aus. Aus französischer Perspektive muss der NGF als Nachfolger der Rafale zwingend in der Lage sein, diese Aufgabe wahrzunehmen. Daraus ergeben sich zwei Fähigkeitsforderungen: erstens das Tragen der nuklearen Abstandswaffe ASMP, zweitens die Befähigung zur Landung auf Flugzeugträgern.
Auf deutscher Seite ist die Verbindung zwischen FCAS und der nuklearen Rolle eher indirekt vorhanden. Die Bundeswehr partizipiert heute mit ihrer Tornado-Flotte an der nuklearen Teilhabe der Nato. Dazu sind nukleare Freifallbomben in Deutschland stationiert. Die Zukunft dieser Rolle ist politisch umstritten. Kritiker fordern unter anderem das Ende der nuklearen Teilhabe, da sie keinen Einfluss auf die US-Nuklearstrategie sichere und der Einsatz von Atomwaffen ethisch und völkerrechtlich nicht zu verantworten sei. In der Frage der Tornado-Nachfolge fand diese Debatte einen Kristallisationspunkt.
Aus Sicht der Bundesregierung ist die Fortsetzung der nuklearen Teilhabe elementare Fähigkeitsforderung bei der Auswahl des Kampfflugzeugs. Aus der Opposition hingegen wurde ein Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, um die operative nukleare Teilhabe zu beenden und dafür auch kein Kampfflugzeug mehr zu zertifizieren. Im April 2020 hat das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) einen Lösungsvorschlag unterbreitet, in dem es die Tornados der Luftwaffe durch amerikanische F‑18-Modelle (Generation 4+) ersetzen möchte. Dafür nutzt es den Begriff »Brückenlösung«, denn es gilt, die Einsatzbereitschaft sicherzustellen in der Zeit zwischen dem nahenden Ausstieg aus dem Tornado und dem vermutlich erst ab 2040 zur Verfügung stehenden NGF. Allerdings findet sich kein konkreter Hinweis darauf, inwiefern die nukleare Rolle künftig berücksichtigt werden soll.
Folgt man der Logik des Bildes einer Brücke, so wäre in diesem Szenario zunächst die amerikanische F‑18 als nuklearer Waffenträger vorgesehen. Jedoch verfügt sie derzeit nicht über die für eine nukleare Nutzung notwendige Zertifizierung seitens der USA. Später müsste dann der NGF diese Rolle übernehmen, wozu er ebenfalls eine nukleare Zertifizierung bräuchte. Insbesondere dieser Umstand erscheint aus heutiger Perspektive problematisch: Erstens müsste eine technische Lösung für die Anforderung gefunden werden, dass sowohl die amerikanische als auch die französische Waffe mit diesem Flugzeug einsetzbar sein müsste. Eine solche Kombination existiert gegenwärtig nicht. Sie würde das Projekt noch komplexer machen, weil nicht nur technische (Freifallwaffe vs. Marschflugkörper), sondern auch Aspekte der Geheimhaltung zu klären wären.
Zweitens zeigte sich schon bei der Frage, ob man den Eurofighter nuklear zertifizieren könnte, dass dies mit hohen Hürden verbunden ist. Dazu muss die technische Dokumentation des Kampfflugzeugs und aller weiteren am Einsatz beteiligten Geräte regelmäßig offengelegt werden. Alle Nutzerstaaten müssen ihr Einverständnis geben, daher ist die Angelegenheit aus militärischen und industriepolitischen Geheimschutzgründen sehr sensibel. Da der NGF explizit der französische Atomwaffenträger sein wird, ist er für Frankreich Teil seiner strategischen Autonomie. Deshalb scheint die erforderliche französische Zustimmung zu einer Zertifizierung aus heutiger Sicht ungewiss – auch dies letztlich eine Frage der IPRs, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Projekt ziehen.
Hält Deutschland an der Brückenlösung F‑18 fest, hätte es eventuell einen neuen Nuklearträger, stünde aber vor der Herausforderung, ihn in das Gesamtsystem FCAS zu integrieren. Eine implizite Schwächung des Verbunds und zusätzliche Kosten für das Flottenmanagement wären die Folge. Im schlechtesten Fall könnte sich sogar abzeichnen, dass der NGF nicht als Nachfolger in der Nuklearrolle in Frage kommt; dann wäre man über Jahrzehnte an ein System der Generation 4+ gebunden. Schon heute werden Zweifel an der operativen Einsatztauglichkeit der luftgestützten nuklearen Teilhabe laut und sind umso berechtigter, je älter die Trägerflugzeuge sind. Deswegen ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Brückenlösung entweder zur Dauerlösung wird oder man nolens volens die nukleare Teilhabe in ihrer aktuellen Form zur Disposition stellt.
Deutschland und Frankreich begegnen dieser Dimension mit unterschiedlichen Perzeptionen von Abschreckung und Souveränität, was sich auf die Debatte über die Entwicklung auf allen Ebenen niederschlägt. FCAS ist unbestreitbar auch ein nukleares Projekt. Paris artikuliert das klar; Berlin darf sich dieser Realität nicht verschließen, sondern muss in diesem Bereich ebensolchen Gestaltungsanspruch haben. Die Zukunft der nuklearen Teilhabe sollte in der nächsten Legislaturperiode konkret angegangen werden. Lässt die Bundesregierung FCAS in dieser Hinsicht einfach weiterlaufen, beraubt sie sich eigener Handlungsmöglichkeiten, was Folgen für Deutschlands Rolle im Bündnis haben kann.
Ausblick und Empfehlungen
Die Unterschiede in der strategischen Kultur Deutschlands und Frankreichs lassen sich in vielen Bereichen aufzeigen. FCAS ist ein weiteres Beispiel, bei dem sich die Partner ihrer Differenzen und gleichzeitig ihrer gegenseitigen Abhängigkeit gewahr werden. Aus französischer Perspektive ist das Projekt einerseits Ausdruck europäischer Souveränität, andererseits essentieller Baustein nationaler Sicherheits- und Industrie-Interessen. In Deutschland geht diese strategische Bedeutung im Dickicht der Zuständigkeiten im Beschaffungsprozess unter. Für den weiteren Verlauf gilt es, die Wahrnehmung des Projekts zu verändern. Ein stärkeres Engagement des Bundeskanzleramts kann das bewirken.
FCAS ist kein weiteres teures Rüstungsvorhaben, es ist viel mehr. Es hat den Anspruch, innerhalb Europas technologische Exzellenz zu entwickeln und zu kultivieren, die geeignet ist, weit über den militärischen Sektor hinaus zu wirken. Anwendungen wie sichere europäische Cloud-Services oder unbemannte autonome Flugsteuerung sind Technologie-Treiber, deren Potenziale gleichermaßen für eine zivile Nutzung von hoher Relevanz sind. Die Entwicklungs- und Datenhoheit ist eng mit dem Anspruch verknüpft, prioritär europäische Produkte einzusetzen. Nicht zuletzt darum ist es so wichtig, FCAS als Gesamtsystem zu betrachten.
Der Projektzeitplan ist hinsichtlich der Komplexität des Vorhabens und der vielen Unbekannten sehr ehrgeizig. Ein Erstflug des NGF im Jahr 2035 und der Beginn der Einführung 2040 dürften nur dann zu schaffen sein, wenn wirklich alle Maßnahmen verzugslos ineinandergreifen, was aus heutiger Sicht eher nicht anzunehmen ist. Drängendstes Problem ist die Regelung der IPRs.
Man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass es selbstverständlich zu Verzögerungen kommen wird. Zusätzliche Verzögerungen durch politische Unklarheiten, fehlende finanzielle Sicherheit und prozessuale Inkonsistenzen gilt es indessen zu vermeiden. Auf deutscher Seite besteht hier sicherlich der größere Nachholbedarf. Ein notwendiges Vehikel zur Verbesserung ist eine grundlegende Reform des Beschaffungsprozesses.
Zielführend und kurzfristig leistbar ist eine politische Priorisierung des Projekts. Eine künftige Bundesregierung sollte angesichts der politischen Brisanz und der militärischen Bedeutung des Vorhabens im Koalitionsvertrag FCAS als Priorität und europäisches Leuchtturmprojekt benennen.
Im Rahmen eines Verteidigungsplanungsgesetzes als Teil einer Reform des Rüstungsprozesses könnten die kommenden Projektphasen überjährig festgeschrieben und finanziert werden. Dies hätte zum einen hohe Signalwirkung gegenüber Paris und böte zum anderen Planungssicherheit für Bundeswehr und Industrie.
Darüber hinaus muss die europäische Perspektive des Projekts ausgebaut werden. Dazu gehört ebenfalls, das Projekt, wahrscheinlich vor allem den Anteil NGF, als Exportgut anzusehen und für entsprechende Regelungen zu sorgen. Aufgabe künftiger Bundesregierungen wird sein, zunächst Spanien vollständig zu integrieren und mittelfristig weitere Partner zu gewinnen, allerdings eher als Kunden denn als Entwickler. Je später ein Einstieg als Entwickler erfolgt, desto komplexer gestaltet er sich, weil bereits geschlossene Baustellen wieder aufgemacht werden müssten. Insbesondere der Anteil NGWS ist weiter fortgeschritten als andere vergleichbare Projekte in Europa, zum Beispiel das britische Tempest; weitere Integrationsbemühungen sollten diesen Vorsprung nicht gefährden.
Frankreich, Spanien und Deutschland verfügen derzeit nicht über ein Kampfflugzeug der fünften Generation, anders als etwa Großbritannien oder Italien. Für alle drei FCAS-Staaten ist der NGF unersetzbarer Teil der Zukunftsplanungen ihrer Luftstreitkräfte. Technologisch ist die Idee, von der vierten Generation direkt in die sechste einzusteigen und diese auch zu definieren, jedoch äußerst anspruchsvoll. Überzogene Erwartungen sollten gedämpft werden, allem gerechtfertigten Ehrgeiz zum Trotz. Zielsetzung muss es sein, eine Plattform zu entwickeln, die sowohl gemessen am Eurofighter als auch an der Rafale einen deutlichen Fortschritt darstellt und überdies in der Lage ist, mit der F‑35 am Markt zu konkurrieren. Eine Generation 5+ zu definieren, wobei der Jet zum europäischen Standard wird, wäre besser als eine teure Lösung, die der »echten« sechsten Generation nacheifert und von keinem Staat vollumfänglich genutzt werden kann.
Was den Zeitplan anbetrifft, kann es zum Thema werden, ob mehr Gewicht auf die Fertigstellung des Anteils NGF zu legen ist. Frankreichs Interesse daran dürfte sehr hoch sein, schon allein vor dem Hintergrund seiner Lead-Rolle in diesem Segment und mangels Alternativen im Bereich Kampfflugzeuge. Obwohl der übergeordnete Gedanke sein muss, in FCAS ein Gesamtsystem zu sehen, kann diese Priorisierung zugunsten des greifbarsten Anteils unter Umständen sinnvoll werden.
Gelingt es nicht, dieses Projekt im europäischen Rahmen zu realisieren, werden größere gemeinsame Rüstungsanstrengungen in Europa zunehmend unwahrscheinlich. Die Bemühungen, die europäischen Rüstungsanstrengungen zu konsolidieren, würden konterkariert, die Abhängigkeiten von US-Herstellern weiter anwachsen. Vornehmlich dieser gesamteuropäischen Verantwortung müssen sich die Partner stets bewusst sein.
Dominic Vogel ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A98