Der für ein linkes Wahlbündnis angetretene Kandidat Gabriel Boric wird neuer Präsident Chiles. Die Wahl ist wegweisend für das Land, nicht aber für das Lagerdenken zwischen Links und Rechts in Lateinamerika, meint Günther Maihold.
Nach einem stark polarisierten Wahlkampf hat sich der linksgerichtete Kandidat Gabriel Boric bei der Stichwahl um das Präsidentenamt in Chile durchgesetzt. Der ehemalige Studentenführer verspricht Reformen und will das Land weg von dem neoliberalen Wirtschafts- und Entwicklungsmodell führen. Während der ultrarechte Kandidat José Antonio Kast nach dem ersten Wahlgang noch vorne lag, gewann Boric am Sonntag mit 55 Prozent der Stimmen – einem überraschenden Vorsprung von 11 Prozent, der ohne massive Mobilisierung der Wähler nicht möglich gewesen wäre. Die Wahlbeteiligung übertraf mit rund 55 Prozent alle bisherigen Ergebnisse seit Beendigung der Wahlpflicht und ist damit eine wichtige Quelle für die Legitimität der Amtsführung von Boric.
Mit dem Slogan »Totalitarismus versus Freiheit« und dem Versuch, eine erneute kommunistische Gefahr im Falle eines Wahlsieges von Boric heraufzubeschwören, hat sich Kasts Wahlkampagne als kontraproduktiv erwiesen. Die Wähler votierten deutlich gegen eine Anknüpfung an das Erbe des Diktators Pinochet. Doch die konservativen Kräfte werden ihre seit Jahrzehnten besetzten Bastionen in Politik und Wirtschaft verteidigen. Chiles weltmarktorientierte Wirtschaft hat durch stabile makroökonomische Rahmendaten kontinuierlich hohe Wachstumsraten verzeichnet, die maßgeblich auf Rohstoffexporten beruhten. Eine zentrale Rolle nehmen dabei Bergbau und Landwirtschaft ein. Ein Großteil der traditionellen Eliten ist mit dem bestehenden Modell eng verbunden. Im Parlament und in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden sie ihre Positionen gegenüber den sozial- und verteilungspolitischen Initiativen des neuen Regierungslagers zu bewahren versuchen. Der neue Präsident wird hier viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, wenn er zermürbende Konflikte vermeiden will.
Aufbruch einer neuen Generation
Mit 35 Jahren ist Boric etwa halb so alt wie der scheidenden Präsidenten Sebastián Piñeira. Wenn er im März 2022 sein Amt antritt, dann gelangt auch eine neue politische Generation an die Macht. Boric war Protagonist bei den sozialen Unruhen im Herbst 2019, die den Weg zu einer Verfassungsgebenden Versammlung bahnten. Wie diese widmet sich auch er der Neuorientierung des Landes in Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell, vom privat dominierten Altersvorsorgesystem und Bildungswesen. Chile soll mit einem partizipativen Regierungsstil gestaltet und die alten politischen Eliten sollen verdrängt werden. Dies ist mit Hilfe der Wähler schon zum Teil gelungen: die alten politischen Parteien sind die Verlierer des eingeleiteten Wandels, die sozialen Bewegungen mit breiten politischen Koalitionen haben sich etabliert.
Doch hier lauern auch die Gefahren: Die zentrifugalen Tendenzen im neuen Regierungslager werden sehr groß sein. Der neue Präsident wird viel Kraft darauf verwenden müssen, seine breit und divers aufgestellte Koalition zusammenzuhalten. Ihre teilweise sehr spezifischen Forderungen könnten ein gemeinsames Regierungsprogramm verwässern und Einzelinteressen in den Vordergrund drängen. Aufgrund der fehlenden parlamentarischen Mehrheit ist Boric‘ Absichtserklärung, den Dialog mit allen politischen Kräften des Landes zu suchen, nicht nur Wahlkampfrhetorik, sondern absolute Notwendigkeit, um das eigene politische Überleben zu sichern.
Aber auch außerhalb des Parlaments ist seine politische Führungskraft gefragt. Das gilt nicht nur für die unterschiedlichen außerparlamentarischen Kräfte, die ihm seinen Wahlerfolg beschert haben, sondern insbesondere im Hinblick auf die chilenische Unternehmerschaft, die sich klar gegen ihn positioniert hat. Bereits vor der Wahl hat sie für den Fall eines Wahlsieges des neuen Präsidenten Gefahren wie Kapitalflucht und eine Abwertung des chilenischen Peso an die Wand gemalt. Der angestrebte Wechsel des Entwicklungsmodells, das seit der Pinochet-Diktatur auf die Freiheit des Marktes und die Interessen der Privatwirtschaft ausgerichtet war, wird nur gelingen, wenn Boric Unterstützer im Bereich der Industrie gewinnt. Das ist die entscheidende Bewährungsprobe für ihn. Die chilenische Gesellschaft erwartet eine baldige Rückkehr auf den Pfad wirtschaftlichen Wachstums sowie mehr soziale Gerechtigkeit – von staatlich gesicherter Daseinsvorsorge bis zu einer universellen Grundrente, orientiert an wohlfahrtsstaatlichen Modellen in Europa. Das bedeutet eine Abkehr von vielen Entscheidungen, mit denen sich Chile als Musterland eines marktorientierten Entwicklungsmodells profiliert hatte.
Boric‘ Wahlsieg und Lateinamerika
Chile stand an einer Wegkreuzung und hat mit der Präsidentschaftswahl nun eine Richtungsentscheidung zugunsten grundlegender Reformen getroffen. Die Glückwünsche für Boric kommen daher vor allem aus Argentinien, Bolivien, Mexiko und Peru, aber auch aus Kuba, Nicaragua und Venezuela. Auch der seine Wiederwahl in Brasilien vorbereitende Ex-Staatspräsident Lula da Silva stimmte in den Chor jener ein, die das »linke Lager« in der Region gestärkt sehen. Doch dieses Bild könnte trügen: Boric steht nicht für das Muster der »alten«, autoritären Linken, wie sie sich in Nicaragua, Kuba und Venezuela eingerichtet hat. Sein Platz ist klar im demokratischen Lager. Nicht nur aus wahltaktischen Gründen hat er sich von Ortega, Maduro und den Neu-Castristen in Kuba abgesetzt, auch wenn die kommunistische Partei Teil seiner Allianz ist. Boric‘ Wahlsieg eignet sich daher wenig für das Lagerdenken zwischen Links und Rechts in der Region. Vielmehr könnte es dazu beitragen, hier Brücken zu bauen und der Zusammenarbeit jenseits alter Trennlinien neue Impulse zu verleihen.
Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Chile am Sonntag fallen in eine Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Ein Konsens über die zukünftige Gestaltung des Landes ist noch nicht in Sicht, meint Claudia Zilla.
Was vor einem Jahr als Protest junger Menschen gegen eine Preissteigerung bei der Metro begann und sich bald zu massiven Demonstrationen ausweitete, mündete am 25. Oktober in ein Plebiszit, in dessen Zuge eine neue Verfassung befürwortet wurde. Doch auf dem Weg dahin muss Chile noch große Herausforderungen meistern, meint Claudia Zilla.
Das südamerikanische Land sucht nach einem neuen Gesellschaftsvertrag
doi:10.18449/2020A23