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Rechtsstaatlichkeit als Grundlage der Handlungsfähigkeit der EU

Herausforderungen zu Beginn der neuen Legislaturperiode

SWP-Aktuell 2024/A 50, 08.10.2024, 8 Pages

doi:10.18449/2024A50

Research Areas

Die innere wie äußere Handlungsfähigkeit der Europäischen Union (EU) hängt immer offensichtlicher davon ab, ob die Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten glaub­würdig und robust ver­teidigt werden kann. Die Alleingänge der ungarischen Rats­präsidentschaft, An­griffe auf die Unabhängigkeit von Justiz und Medien in Ungarn und weiteren Mitgliedstaaten sowie erstarkte rechtspopulistische Akteur:innen stellen auch eine sicherheitspolitische Herausforderung dar. Die bisherige Bilanz der EU-Politik zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit ist jedoch gemischt. Die sich neu kon­stituierende Europäische Kommission muss zentrale Sanktionen wie etwa das Ein­frieren von Fördermitteln konsolidieren. Zudem soll mit Blick auf wachsende auslän­dische Einflussnahme der Instrumentenkasten zum Schutz der EU-Grundwerte aus­gebaut werden. Spätestens unter der nächsten, polni­schen Ratspräsidentschaft muss der Schutz der Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Institutionen und über die gesamte Legis­laturperiode zur Priorität erklärt werden.

Der Fall Ungarns verdeutlicht, wie die inter­nationale Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU durch die anhaltende Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Grund­werten in einzelnen Mitgliedstaaten be­droht ist. Unmittelbar nach der Übernahme der Rats­präsidentschaft am 1. Juli 2024 reiste der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zum ersten Mal seit der russi­schen Vollinvasion nach Kyjiw; anschließend traf er ohne europäisches Mandat Wladimir Putin in Moskau, Xi Jinping in Beijing und Donald Trump in Mar-a-Lago. Als Reaktion auf diese selbsterklärte Friedensmission, die der außenpolitischen Linie der EU zu­wider­lief, teilten die EU-Kommission und ver­schie­dene EU-Staaten mit, die informellen Tref­fen der ungarischen Ratspräsidentschaft zu boykottieren, darunter die nordischen und die baltischen Länder sowie Polen und Deutschland. Die aktuel­len diplomatischen Verwerfungen können als Bestätigung für diejenigen Kritiker:innen aus einigen Mit­gliedstaaten und dem Europäischen Par­la­ment (EP) gesehen werden, die erfolg­los darauf gedrängt hatten, die ungarische Rats­präsidentschaft per Ratsbeschluss mit quali­fizierter Mehrheit zu verschieben. Grund­lage für diese Forderung war das weiterhin offene Verfahren nach Artikel 7 des EU-Ver­trags (EUV) gegen Ungarn.

Der weitere Verlauf der ungarischen Rats­präsidentschaft könnte womöglich dennoch eine Mehrheit der EU-Staaten dazu be­we­gen, deutlicher politisch Stellung zu bezie­hen und die zentralen Sicherheitsinteressen der EU politisch mit der Verteidigung der Rechts­staatlichkeit zu verknüpfen. So ge­währt die Regierung Viktor Orbáns russi­schen und belarussischen Staatsangehörigen seit An­fang Juli vereinfachten Zugang zu natio­nalen Arbeitserlaubnissen und Auf­enthalts­titeln. Dies steht nicht nur in eklatantem Gegen­satz zu den EU-weit ver­schärften Schengenvisa-Konditionen für die genannten Personengruppen, sondern führt auch zu handfesten Sicher­heitsbedenken für den gesamten Schengenraum – zum Beispiel werden durch das ungarische Vorgehen Spionageaktivitäten erleichtert. Zudem blo­ckiert Orbán immer wieder Entscheidungen im Europäischen Rat über Finanzhilfen für die Ukraine, zuletzt einen von der EU und der G7 ver­einbarten Kredit über 50 Milliar­den Euro, der aus den Erträgen des ein­ge­frorenen Ver­mögens der russischen Zentral­bank refinanziert werden soll.

Noch während der ungarischen Rats­präsidentschaft ist für den 7. November in Budapest das nächste Treffen der Euro­päi­schen Politischen Gemeinschaft (EPG) an­ge­setzt. Kurz zuvor finden natio­nale Wahlen in den Beitrittskandidatenländern Georgien und Moldau statt, die im In- und Ausland als richtungsweisend für die europäische Zukunft dieser Länder ange­sehen werden, sowie die US-Präsident­schaftswahlen. Die EPG versammelt neben den 27 EU-Mitglied­staaten die Regierungschef:innen von rund 20 weiteren europäischen Ländern und bietet Orbán – erst recht im Fall eines Wahl­siegs Trumps in den USA oder russ­land­freundlicher Kräfte in den Bei­tritts­kandi­daten­ländern – eine prominente Bühne, um für seine illiberalen Vorstellungen zu wer­ben. Damit würde er die Hand­lungs­fähig­keit und Glaubwürdigkeit der EU noch mehr in Frage stellen.

Chancen und Risiken in weiteren Mitgliedstaaten

Im Oktober 2023 eröffnete der Wahlsieg Donald Tusks in Polen zunächst eine posi­tive Dynamik. Die neue polnische Regierungs­koalition hat sich die Wie­der­herstel­lung der Rechtsstaatlichkeit im Land als prioritäres Ziel gesetzt. Staatspräsident Andrzej Duda von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) blockiert einstweilen je­doch not­wendige Justizreformen. Zwar scheint es wahrschein­lich, dass die PiS die nächste Präsident­schafts­wahl im Frühjahr 2025 verlieren wird, ausgemacht ist das aber keineswegs. Es ist zu erwarten, dass die polnische Regie­rung unter Tusk im Rahmen der EU-Ratspräsi­dent­schaft Polens in der ersten Jahres­hälfte 2025 das Thema Rechtsstaatlichkeit hervor­heben wird, um den europa- wie innenpolitischen Gegensatz zur PiS zu betonen. Dennoch dürften Zweifel im Hinblick auf die Glaub­würdig­keit und Durchsetzungs­fähigkeit auf natio­naler Ebene bestehen bleiben. Nach dem Ende der ungarischen Ratspräsidentschaft und angesichts der europapolitisch ge­schwächten Regierung in Frankreich sowie der anstehenden Wahlen in Deutschland sieht sich Polen mit hohen Erwartungen konfrontiert, die Umsetzung und Weiterentwicklung der Rechtsstaats­politik zu Beginn der neuen EU-Legislaturperiode voranzutreiben.

Einen aktuellen Anlass hierfür liefert unter anderem die besorgniserregende Entwicklung in der Slowakei seit der Rück­kehr Robert Ficos ins Amt des Minister­präsidenten im Herbst 2023. Im Mai 2024 überlebte Fico einen Anschlag auf sein Leben und instrumentalisiert diesen seither, um Oppo­sition und kritische Medien zu dis­kreditieren. Reformen, die offiziell Struk­turen zur Korruptionsbekämpfung neu ord­nen sollen, diese aber de facto mas­siv schwä­chen, wurden bereits von der schei­den­­den EU-Kommis­sion heftig bean­standet. Nach­dem die slowakische Regie­rung diese Kritik nicht akzeptiert hat, ist damit zu rech­nen, dass die neue EU-Kom­mis­sion min­destens ein Vertragsverletzungs­verfahren einleiten wird. Mutmaßlich steht eben­falls zur Dis­posi­tion, auch hier – nach Polen und Ungarn – Rechts­staatlichkeits­defizite finanziell zu sanktionieren, also europäische Fördergelder für die Slowakei ein­zu­frieren.

Die Nationalratswahlen in Österreich Ende September 2024, bei denen die Frei­heit­liche Partei Österreichs (FPÖ) einen Wahl­sieg errungen hat, könnten die regio­nale Lage der Rechtsstaatlichkeit weiter ver­schär­fen. Eine neuerliche Regierungs­beteiligung der FPÖ in Österreich, dieses Mal als stärkste Kraft, würde Orbán und seiner neu for­mierten Fraktion im Europaparlament, den Patrio­ten für Europa (PfE), noch einen Ver­bünde­ten im Europäischen Rat be­scheren. Käme es dazu, würden überdies weitere robuste poli­tische Maß­nahmen gegen ein­zelne Mit­glied­staa­ten, die EU-Grund­werte in Frage stellen, blockiert (vgl. SWP-Aktuell 46/2024).

Kritische Entwicklungen in anderen Gründungsstaaten der EU erschweren be­reits das Erreichen einer qualifizierten Mehr­heit im Rat, die für das Einfrieren von Fördergeldern notwendig wäre. Zwar hat die Beteiligung der Partij voor de Vrijheid des Rechtspopulis­ten Geert Wilders an der Regierungskoali­tion in den Nieder­lan­den bisher keine offene Verletzung euro­pä­i­scher Grundwerte mit sich gebracht. Aller­dings beteiligt sich das Land nicht am informellen Boykott der unga­rischen Rats­präsidentschaft; dies illustriert, dass es im Gegensatz zu den vergangenen Jahren als Verfechter einer konsequenten Rechtsstaatlichkeits­politik und einer finanziellen Konditionalisierung auf EU-Ebene ausfällt.

Darüber hinaus bleiben die längerfristigen Ambitionen und Auswirkungen der Regie­rung Giorgia Melonis in Italien ein Unsicher­heitsfaktor. So könnten angestrebte Wahlrechtsreformen, die auf eine Machtkonzentration im Amt der Ministerpräsidentin abzielen und mit der Geschichte instabiler Regierungen in Italien begründet werden, eine erhebliche Stö­rung der Gewal­ten­teilung nach sich ziehen. Schon jetzt hat der jüngste Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU-Kommission diverse Defizite benannt, was die Unabhängigkeit der Medien in Italien angeht; Meloni hat das vehement zurück­gewiesen. Dies kann als Vorbote eines größeren Konflikts zwischen der Rechts­staatlichkeitspolitik der EU-Kom­mission und einer wachsenden Zahl von Regierungen gewertet werden, die für europäische Nichteinmischung oder die Rückgewinnung nationalstaatlicher Kom­petenzen ein­treten.

Es ist fraglich, ob im Europäischen Par­la­ment ebenso wie zwischen den Mit­glied­staaten klare Trennlinien und Krite­rien, ein sogenannter cordon sanitaire, auf­recht­erhal­ten werden können. Sowohl im EP als auch in der neuen EU-Kommission steht die Euro­päische Volks­partei (EVP) als führende Kraft in besonderer Verantwortung. Eine struk­turelle Zusammenarbeit mit den national-konservativen Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) schließt die EVP bis­lang aus, nicht zuletzt, weil die EKR-Frak­tion mit der polnischen PiS einen erbitterten Gegner der bisherigen EU-Politik zum Schutz der Rechts­staatlichkeit um­fasst. Eine selektive Kooperation mit ande­ren EKR-Mitgliedern, namentlich den Fra­telli d’Italia, wird jedoch verstärkt an­visiert. Beim der­zeitigen Stand der Regie­rungsführung Georgia Melonis kann dies ver­tretbar er­schei­nen. Nichts­desto­trotz be­steht die Gefahr, dass bei einer Verschlechterung der Rechts­staatlichkeit in Italien auf der Ebene des EU-Parlaments und der Kommission keine Konsequenzen gezogen werden, wie es bei Viktor Orbán in Ungarn lange Jahre der Fall war.

Mit Blick auf die gesamte EU-Legis­latur­periode ist es durchaus wahrscheinlich, dass weitere Parteien der europaskeptischen Fraktionen EKR und PfE in Mitgliedstaaten Regierungsbeteiligung erlangen. Spätestens im Fall einer Übernahme der französischen Präsidentschaft durch den Rassemblement National bei den Wahlen 2027 dürfte es zu einer fundamentalen Krise der EU und ihrer Grundrechte kommen.

Gemischte Bilanz der bisherigen EU-Politik zur Rechtsstaatlichkeit

Die EU-Politik zur Verteidigung der Rechts­staatlichkeit wurde in den vergangenen zehn Jahren schrittweise ausgebaut. Die bisherigen Resultate sind jedoch sehr ge­mischt und umstritten, sodass eine Konsoli­dierung und flankierende Maßnahmen nötig erscheinen.

Der zentrale politische Mecha­nismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit ist gemäß EU-Vertrag ein Artikel-7-Verfahren. Erstmals hat das Europäische Parlament 2017 gegenüber Polen ein solches Verfahren eingeleitet, 2018 gegenüber Ungarn. Seither hat das aber zu keinen konkreten Ergebnissen geführt. Nachdem der Mecha­nismus gegenüber Polen im Frühjahr 2024 aufgrund des Regierungs­wechsels eingestellt wurde, steht die Glaubwürdigkeit dieses Instruments mehr denn je in Frage:

Trotz einer zunehmenden politischen Isolierung Ungarns in der ersten Jahreshälfte 2024 konnten sich die Mitgliedstaaten nicht dazu durchringen, über die erste Stufe des Verfahrens abzustimmen, für die eine Vier­fünftel-Mehrheit im Rat erforderlich ist. Die weiter­gehende Frage nach handfesten Sank­tionen wie zum Beispiel dem Entzug des Stimmrechts im Rahmen der zweiten Stufe, was nur einstimmig im Europäischen Rat beschlossen werden könnte, erübrigt sich bis auf weite­res. In dieser Gemengelage ist es ebenso wenig wahrscheinlich, dass neue Artikel‑7-Verfah­ren eröffnet werden gegen­über anderen Mitgliedstaaten, in denen das Risi­ko er­kenn­bar ist, dass Grund­werte der EU systematisch ver­letzt werden.

Indes wurde der jährliche Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission mit Ana­lysen und Empfehlungen für alle EU-Mit­glied­staaten ausgebaut. In seiner fünften Aus­gabe, die im Juli dieses Jahres vor­gestellt wurde, werden erstmals auch die vier am weitesten fortgeschrittenen Erwei­terungsländer – Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien – mitein­bezogen. Zu­gleich wird ein stärkerer Ak­zent darauf gelegt, ob bzw. wie Empfehlungen aus frühe­ren Jahresberichten in allen EU-Staa­ten umgesetzt wurden.

Dass die Unab­hängigkeit und Effek­tivität der Justiz, die Medien­freiheit, die Korrup­tions­bekämpfung sowie weitere Fragen der institutionellen Ordnung und Demokratie breit und methodo­logisch ein­heitlich er­fasst werden, hat dazu bei­getra­gen, einen umfassenderen Ansatz in der EU-Rechts­staatlichkeitspolitik zu ver­ankern. Trotzdem schreckt die EU-Kommis­sion noch immer davor zurück, eine deutliche Gesamt­bewer­tung besonders kritischer Fälle vor­zu­neh­men – etwa ob Ungarn noch als funk­tio­nierende Demokratie gel­ten kann, was viele unabhängige Institutio­nen nicht mehr für gegeben halten. In der Gesamtschau aller Mitgliedstaaten tendiert die Kommission zudem zu einer übermäßig optimistischen Darstellung: Demnach seien rund zwei Drittel (68 Prozent) ihrer Empfehlungen auf­gegriffen worden. Grundsätzlich ist der Rechtsstaatlichkeitsbericht nicht mit kon­kreten Sanktionsmechanismen hinter­legt.

Der Weg über Vorabentscheidungs- und Vertragsverletzungsverfahren vor dem Euro­päischen Gerichtshof (EuGH) ist eine von zwei Optionen für ein robusteres Vor­gehen zur Verteidigung der Rechtsstaatlich­keit. Insbesondere mit Urteilen zur Unab­hängigkeit der Justiz in Polen konnte der EuGH in der vergangenen Legislaturperiode seine Zuständigkeit in diesem Themenfeld eta­blieren (vgl. SWP-Aktuell 76/2021). Offen bleibt, ob eine Verletzung der Grundwerte der EU nach Artikel 2 EUV als direkt justi­zi­abler Grund für weitere Verfahren vor dem EuGH tragen kann. Die derzeit lau­fende Klage der EU-Kommission gegen Ungarn be­züg­lich dessen umstrittener LGBTQ+-Gesetz­gebung könnte hierzu einen wich­ti­gen Präzedenzfall schaffen, auch weil fünf­zehn Mit­glied­staaten, einschließlich Deutsch­lands, die Kommission bei der Klage unter­stützen. Denkbar wären dem­zufolge weitere Vertrags­verletzungs­verfah­ren, die einzelne Mitgliedstaaten gegenüber ande­ren EU-Mitgliedern zum Schutz von Grund­werten anstrengen könn­ten.

In allen Fallkonstellationen bleibt die politische Ebene von entscheidender Bedeu­tung. Während mit dem Regierungswechsel in Polen die dort geführte Grundsatzdebatte über den Vorrang des EU-Rechts beendet wurde, zeigt die ungarische Regierung immer offe­ner ihre Missachtung gegenüber kritischen EuGH-Urteilen. Sie weigert sich, schwerwiegende Verstöße gegen das EU-Asyl­recht zu korrigieren, und drohte zu­letzt, irregulär Zugewanderte und Schutzsuchende nach Brüssel weiterzuleiten. Zudem zahlte Ungarn die in diesem Zusam­menhang vom EuGH verhängten Zwangsgelder nicht, wor­aufhin die EU-Kommission entsprechende Fördermittel von mittler­weile 200 Millionen Euro einbehalten hat.

Vor diesem Hintergrund betrachten viele europäische Entscheidungsträger:innen das Einfrieren von EU-Fördergeldern auf­grund von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit als bisher effektivstes Instrument. Dieses ist jenseits einzelner Vertragsverletzungsverfahren die zweite Option für ein robus­teres Vorgehen. Nach jahrelangem Ringen ist die Konditionalitätsverordnung 2021 in Kraft getreten: Dem­nach können auf Vor­schlag der Kommis­sion bei rechtsstaat­lichen Defiziten, die ein Risiko für die finan­ziellen Interessen der Union darstellen, mit qualifizierter Mehr­heit im Rat EU-Mittel für die betroffenen Mitgliedstaaten zurückbehalten werden.

Nach einer ersten Aktivierung dieser Ver­ordnung gegenüber Ungarn hat die Kom­mission per Verwaltungsentscheid mit Ver­weis auf die Dachverordnung für euro­päi­sche Struktur- und Regionalfonds sowie die besonderen Auszahlungsvoraussetzungen für die Mittel des Corona-Wiederauf­bau­fonds im Rahmen der Aufbau- und Resi­lienz­fazilität weitere umfangreiche Fördergelder eingefroren, die für Ungarn und Polen be­stimmt waren. Auf dieser komplexen Grund­lage von drei unterschiedlichen Rechts­instrumenten – der Konditionalitätsverordnung, der Dachverordnung und der Aufbau- und Resilienzfazilität – wurden ab 2021 Polen rund 137 Milliarden Euro an Fördermitteln vorenthalten, Ungarn rund 30 Mil­liarden.

Kaum drei Monate nach dem Regierungs­wechsel in Warschau wurden jedoch im Februar 2024 alle Gelder an Polen freige­geben. Dies kann gelesen werden als effek­tiver Anreiz, die Rechtsstaatlichkeit rasch wiederherzustellen – oder als Beloh­nung für die europapolitische Konformität der Regierung Tusk. Auch hatte die Kom­mis­sion Ende 2023 entschieden, einen Teil der eingefrorenen Gelder an Ungarn auszu­zahlen (10,2 Milliarden Euro), da einige Reformauflagen zur Korruptionsbekämpfung er­füllt worden seien. Demgegenüber kriti­sierte das Europäische Parlament, die Maß­nahmen Ungarns wären rein oberfläch­licher Natur und würden von weiteren, weit schwerwiegenderen Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit im gleichen Zeit­raum überschattet. Hervorzuheben ist hier die Einrichtung eines Büros zum Schutz der Souveränität in Ungarn, das die Repres­sion regierungskritischer Akteur:in­nen wie etwa Transparency International zum Ziel hat. Die Freigabe von EU-Geldern an Ungarn schien also nicht inhaltlich, son­dern poli­tisch motiviert gewesen zu sein, um Viktor Orbán dazu zu bewegen, sein Veto gegen die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzugeben. Des­halb hat das scheidende EU-Parlament vor dem EuGH Klage erhoben gegen die zugunsten Ungarns getroffene Entscheidung der Kom­mission.

Die neue EU-Kommission

Ursula von der Leyen konnte im Juli mit Stimmen der Liberalen (Renew), der Sozial­demokrat:innen (S&D), der Konservativen (EVP) sowie der Grünen im Europäischen Parla­ment als Kommissionspräsidentin wiedergewählt werden. Diese informelle große Koalition der Mitte wurde unter ande­rem deshalb gebildet, um die EU-Rechts­staatlich­keitspolitik in der neuen Legislatur­periode fortführen zu können gegenüber einem erstarkten rechtspopulistischen Block.

Von der Leyen versprach in ihren politischen Leitlinien, die als inhaltliche Bewer­bung für ihre Wiederwahl dienten, den Instrumentenkasten zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit auszubauen. Diese Pro­gram­matik wurde in dem Mitte September vor­gestellten Personaltableau in drei Auf­gaben­bereichen verankert, die sich über­lappen:

Politisch vorrangig erscheint – als erste Schiene einer gestärkten Rechtsstaatlich­keits­politik – eine einheitlichere und konsistentere Konditionalisierung von EU-Geldern sowie eine engere Verknüpfung entsprechender Sanktio­nen mit dem jähr­lichen Rechtsstaatlichkeits­bericht. Da trifft es sich, dass das Amt des Kommissars für Haushalt, Betrugsbekämpfung und öffent­liche Verwaltung, der hier­für zuständig ist, mit Piotr Serafin besetzt werden soll, einem engen Vertrauten Donald Tusks. Die pol­nische Ratspräsidentschaft ab Anfang 2025 könnte auch unter diesem Gesichtspunkt einen dynamischen Verlauf nehmen. Ob der Schwerpunkt hierbei darauf liegen wird, die Konditionalitäts­verordnung auf Basis des europäischen Haushaltsrechts zu refor­mieren, oder dar­auf, das allgemeine Vergabe­recht zu über­arbeiten vor dem Hin­tergrund des neuen Mehrjährigen Finanzrahmens ab 2028 und der sogenannten Supermilestones im Rahmen des Euro­päi­schen Semesters, ist in den kommenden Mona­ten auszugestalten. Jüngst brachten Finn­land und Schweden im Allgemeinen Rat den Vorschlag ein, mög­lichst alle großen EU-Ausgabenposten aus Sicht der Rechtsstaatlichkeit zu konditionieren, ein­schließlich der Gemeinsamen Agrarpolitik.

Ein flankierender Ansatz, der in den poli­tischen Leitlinien von der Leyens neu eingebracht worden ist, sind die Auswirkungen rechtsstaatlicher Defizite auf das Funktionieren des EU-Binnen­marktes. Das Veto der spanischen Regierung Ende Au­gust gegen die Übernahme des spanischen Eisenbahntechnikunternehmens Talgo durch das unga­rische Kon­sortium Ganz-MÁVAG bietet ein aktuelles Beispiel für diese Verknüpfung von Binnenmarkt und Rechtsstaatlichkeit. Grund für das Veto waren nämlich offiziell eingestellte, aber informell weiterlaufende Verbindungen dieses Kon­sortiums nach Moskau. Diverse deutsche Unter­nehmen beklagen ihrerseits geschäftsschädigende und diskriminierende Prak­tiken der ungarischen Behörden.

Dementsprechend könnte der jährliche Rechts­staatlich­keitsbericht der Kommission die bisher eher sporadischen Empfehlungen des Europäischen Semesters zur Schnitt­stelle zwischen Justiz und Binnenmarkt in Zukunft systematisch ausloten. Das Funk­tio­nieren des Binnenmarktes ließe sich somit, neben dem Schutz der finanziellen Inter­essen der EU, als eigenständiges Krite­rium etablieren, um Maßnahmen zu be­gründen, die die Rechtsstaatlichkeit ver­tei­digen. Beispielsweise könnte sich die EU-Kommission im Rahmen ihrer vertrag­lichen Kompetenzen über solche nationalen Wett­bewerbsbehörden hinweg­setzen, die nicht mehr als poli­tisch unabhängig erachtet wer­den. Dass künftig ein stärkerer Akzent auf diese Bin­nenmarktdimension und die Ausgestaltung der finanziellen Konditionalität gelegt werden soll, lässt sich auch dar­aus schließen, dass der designierte zustän­dige Kommissar für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit, Michael McGrath, ehe­maliger irischer Finanzminister ist.

Die zweite Schiene einer gestärkten Rechts­staatlichkeitspolitik ist gemäß den politischen Leitlinien von der Leyens eine engere Verbindung mit Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. In der vergangenen Legislaturperiode wurden bereits zahlreiche Initiativen zur Bekämpfung hybrider Gefah­ren auf den Weg gebracht. Während an­fangs freiwillige Netzwerke und Beobachtungs­stellen geschaffen wur­den, um Falsch­informationen einzudämmen, folgte in den letzten zwei Jahren eine intensive Phase der rechtlichen Regulierung. Deren Ziel war es, dem dynamischen Wandel in der Landschaft der digitalen Medien gerecht zu wer­den und kritischen Journalismus vor unbot­mäßiger Einflussnahme zu schützen. Das Europäische Medienfreiheitsgesetz, die Anti-SLAPP-Richtlinie zum Schutz (etwa von Jour­nalist:innen) vor missbräuchlichen Kla­gen sowie Teile des Gesetzes über digi­tale Dienste (DSA) und der KI-Verord­nung lassen sich in diesem Sinne als Beitrag zur Wah­rung einer informierten demokratischen Öffentlichkeit verstehen.

Diese komplexen Rechtsakte müssen jedoch zunächst in die Praxis gebracht wer­den, wobei unter anderem zu klären ist, wie ver­hältnismäßige Sanktionen bemessen und wie die Balance zwischen Meinungsfreiheit und Abwehr von Desinformation gewährleistet werden kann. Jüngstes Bei­spiel ist hierbei die Plattform X (vormals Twitter), die ihren Verpflichtungen aus dem DSA zur Trans­parenz beim Content Manage­ment und zur Kont­rolle illegaler Inhalte bislang nicht nach­kommt. Dauert der Kon­flikt an, könnten Strafzahlungen in Höhe von sechs Prozent des Jahresumsatzes von X verhängt oder schließlich der Zugang zur Plattform gesperrt werden, wie Brasilien es bereits getan hat.

Für die Zukunft hat von der Leyen einen weitergehenden »European Democracy Shield« angekündigt. Angedacht ist hier zum Beispiel, ein europäisches Netzwerk von Fakten­prüfer:innen aufzubauen und die Trans­parenzanforderungen für KI-gene­rierte Inhalte zu verschärfen. Unklar ist, ob hierfür weitere recht­liche Auflagen ge­schaffen werden sollen. Neue Enthüllungen zu russischer Einflussnahme auf Medien in zahlreichen Mitgliedstaaten, zuletzt etwa die sogenannte Dop­pelgänger-Kampagne, unterstreichen die Dringlichkeit effektiver Gegenmaßnahmen.

Die Bedeutung dieses Themenfeldes spiegelt sich in der designierten finnischen Vize­präsidentin der Kommission, Henna Virkkunen, wider, deren Verantwortungs­bereich technologische Souveränität, Sicher­heit und Demokratie umfassen soll. Nicht nur im Umgang mit verschiedenen glo­ba­len Unternehmen (neben X unter ande­rem mit TikTok und Telegram) und mit »Foreign Information Manipulation and Interference« sind die Herausforderungen viel­fältig, son­dern auch bei der Um­setzung der neuen Regu­larien in den Mit­gliedstaaten. Bei­spiels­weise hat Ungarn beim EuGH Klage gegen das Euro­päische Medienfreiheits­gesetz eingelegt.

In diesem Kontext gilt es zu vermeiden, das Rechtsstaatlichkeitsproblem der EU zu externalisieren, indem ausländische Ein­flussnahme überbetont wird – zumal ein Großteil der in der EU verbreiteten Des­information seinen Ursprung innerhalb der Union hat. Ferner hat die im Vorfeld der Europawahlen verabschiedete Initiative zum Schutz der Demokratie ge­zeigt, dass bei Initiativen zu diesem Thema besonderes Augenmaß geboten ist: Was ursprünglich als Reaktion auf schwer­wiegende Korrup­tionsvorwürfe gegenüber einigen Europaabgeordneten intendiert war und die Lobby­aktivitäten von Drittstaaten in der EU regu­lieren sollte, wurde in der Außen­wahrneh­mung und auch von europäischen zivil­gesellschaftlichen Akteur:innen teilweise kritisiert. So wurde die Meinung geäußert, solche Initiativen könnten repres­sive Ge­setze zur Kontrolle der Zivilgesellschaft wie etwa in Russland, Georgien oder Ungarn legitimieren, da diese einer ähnlichen Logik folgten.

Handlungsempfehlungen

Die strategische Agenda des Europäischen Rates vom Juli 2024 erklärte die Verteidigung der europäischen Werte – einschließlich der Rechtsstaatlichkeit – zur Priorität. Als nächster Schritt steht an, einen gemein­samen Ansatz für die drei Kommissar:innen für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit (McGrath), technische Souveränität, Sicherheit und Demokratie (Virkkunen) sowie Haushalt, Betrugsbekämpfung und öffentliche Verwaltung (Serafin) auszuformulieren. Wichtig ist, dass dieser sich nicht in einer Vielzahl an Einzelmaßnahmen ver­liert und Zustän­digkeiten nicht verwischt.

Die neue Kommission sollte ihr derzeit schärfstes Schwert zur Sanktionierung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit, die finanzielle Konditionalisierung, konsequent einsetzen. Das Konditionalitätsregime für den nächs­ten Mehrjährigen Finanzrahmen (ab 2028) weiterzuentwickeln und auszuweiten, kann nur gelingen, wenn die Kom­mission alle Zweifel an der politischen Un­abhängigkeit des Verfahrens ausräumen und ihr dann größerer Entscheidungsspielraum zugestanden werden kann.

Schon jetzt sollte die Kommission, wenn kritische nationale Entwicklungen zu beob­achten sind, neue Vertragsverletzungs­verfahren veranlassen, inklusive An­trä­gen auf einstweilige Verfügungen des EuGH. Aktuell betrifft dies die Justizreformen in der Slowakei und das Büro zum Schutz der Sou­veränität in Ungarn. Es wäre zu begrü­ßen, wenn Deutschland und wei­tere Mit­gliedstaaten derartige Vertragsverletzungs­verfahren unterstützen oder selbst anstren­gen würden. Dabei könnte auch die Hand­lungsfähigkeit und Sicherheit der EU als Erwä­gungsgrund dienen, mit Blick auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Artikel 4 Absatz 3 EUV) und die internatio­nalen Ziele der EU (Artikel 21 EUV).

Vor allem muss eine klare politische Linie verfolgt werden, wenn EU-Grund­werte missachtet werden. Eine möglichst breite Koalition von EU-Institutionen und Mit­glied­staaten sollte deutlich auf weitere dip­lo­matische Provokationen Viktor Orbáns reagieren. Alle diplomatischen Optionen zur Abgrenzung gegenüber offenen Geg­ner:innen der EU-Grundwerte sollten aus­geschöpft werden.

Ebenso sinnvoll wäre es, im Rat der Innen­minister:innen die Einführung von Binnengrenzkontrollen gegenüber Ungarn zur Abstimmung zu bringen, wenn das Land dar­an festhält, russischen und bela­russischen Staatsangehörigen vereinfachten Zugang zu nationalen Aufent­halts­titeln zu gewähren. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, die europapolitischen Aus­wirkungen diverser Forderungen zu be­denken, die in den stark polari­sierten Debat­ten in Deutschland zu Grenz­schutz und Asyl zu hören sind.

Die polnische Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2025 sollte dafür ge­nutzt werden, die EU-Politik zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit als politische Prio­ri­tät für die gesamte Legislaturperiode zu verstetigen. Die viel beschworene Gefahr ausländischer Ein­fluss­nahme sowie die zu­nehmende Anerkennung, dass sich rechts­staatliche Defizite auf den Binnenmarkt auswirken, könnten die Mitgliedstaaten dazu ermuntern, sich stärker für Rechts­staatlichkeit zu engagieren.

Dabei darf allerdings nicht der Kern des Problems aus den Augen verloren werden: die EU-interne Erosion von Rechtsstaatlichkeit und der mangelnde politische Wille, dieser Entwicklung entschieden entgegenzutreten. Auch hinsichtlich der weiteren Entwicklung Italiens und der französischen Präsi­dentschaftswahlen 2027 ist Wachsamkeit mit Blick auf den Erhalt der Gewalten­teilung und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gefragt. Die letzten Jahre haben verdeutlicht, dass einzelne Mitgliedstaaten diejenigen Entscheidungssituationen im Rat, in denen es auf Einstimmigkeit ankommt, systematisch instru­mentalisieren können, um sich den norma­tiven Verpflich­tungen der EU-Mit­glied­schaft zu entziehen. Weiteren derartigen Ver­suchen sollte mit allen zur Verfügung ste­henden Mitteln be­gegnet werden, wobei auch Möglichkeiten der Zusammen­arbeit jenseits der EU-Ent­schei­dungsverfah­ren nicht außer Acht zu lassen sind.

Als Teil einer langfristigen Perspektive in der EU-Rechtsstaatlichkeitspolitik gilt es schließlich, im Rahmen der EU-Erweite­rungs­politik Anforderungen an eine demo­kra­tische und rechtsstaatliche Transformation etwas anders zu formulieren als bisher üb­lich: Die Anforderungen soll­ten sich stärker nicht nur auf die institutio­nelle, sondern auch auf die gesellschaft­liche Ebene bezie­hen, um diese besser gegen Rückschritte abzusichern. Als ersten Schritt könnte Deutschland sich hier dafür ein­setzen, dass die Beitrittsländer von Anfang an bei den­jenigen Maß­nahmen des angekündigten »European Democracy Shield« einbezogen werden, die die Zivil­gesellschaft in den Mittelpunkt stellen.

Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Leonie Kristina Trebeljahr ist Forschungsassistentin des Direktors der SWP.

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