Die innere wie äußere Handlungsfähigkeit der Europäischen Union (EU) hängt immer offensichtlicher davon ab, ob die Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten glaubwürdig und robust verteidigt werden kann. Die Alleingänge der ungarischen Ratspräsidentschaft, Angriffe auf die Unabhängigkeit von Justiz und Medien in Ungarn und weiteren Mitgliedstaaten sowie erstarkte rechtspopulistische Akteur:innen stellen auch eine sicherheitspolitische Herausforderung dar. Die bisherige Bilanz der EU-Politik zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit ist jedoch gemischt. Die sich neu konstituierende Europäische Kommission muss zentrale Sanktionen wie etwa das Einfrieren von Fördermitteln konsolidieren. Zudem soll mit Blick auf wachsende ausländische Einflussnahme der Instrumentenkasten zum Schutz der EU-Grundwerte ausgebaut werden. Spätestens unter der nächsten, polnischen Ratspräsidentschaft muss der Schutz der Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Institutionen und über die gesamte Legislaturperiode zur Priorität erklärt werden.
Der Fall Ungarns verdeutlicht, wie die internationale Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU durch die anhaltende Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Grundwerten in einzelnen Mitgliedstaaten bedroht ist. Unmittelbar nach der Übernahme der Ratspräsidentschaft am 1. Juli 2024 reiste der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zum ersten Mal seit der russischen Vollinvasion nach Kyjiw; anschließend traf er ohne europäisches Mandat Wladimir Putin in Moskau, Xi Jinping in Beijing und Donald Trump in Mar-a-Lago. Als Reaktion auf diese selbsterklärte Friedensmission, die der außenpolitischen Linie der EU zuwiderlief, teilten die EU-Kommission und verschiedene EU-Staaten mit, die informellen Treffen der ungarischen Ratspräsidentschaft zu boykottieren, darunter die nordischen und die baltischen Länder sowie Polen und Deutschland. Die aktuellen diplomatischen Verwerfungen können als Bestätigung für diejenigen Kritiker:innen aus einigen Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament (EP) gesehen werden, die erfolglos darauf gedrängt hatten, die ungarische Ratspräsidentschaft per Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit zu verschieben. Grundlage für diese Forderung war das weiterhin offene Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags (EUV) gegen Ungarn.
Der weitere Verlauf der ungarischen Ratspräsidentschaft könnte womöglich dennoch eine Mehrheit der EU-Staaten dazu bewegen, deutlicher politisch Stellung zu beziehen und die zentralen Sicherheitsinteressen der EU politisch mit der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit zu verknüpfen. So gewährt die Regierung Viktor Orbáns russischen und belarussischen Staatsangehörigen seit Anfang Juli vereinfachten Zugang zu nationalen Arbeitserlaubnissen und Aufenthaltstiteln. Dies steht nicht nur in eklatantem Gegensatz zu den EU-weit verschärften Schengenvisa-Konditionen für die genannten Personengruppen, sondern führt auch zu handfesten Sicherheitsbedenken für den gesamten Schengenraum – zum Beispiel werden durch das ungarische Vorgehen Spionageaktivitäten erleichtert. Zudem blockiert Orbán immer wieder Entscheidungen im Europäischen Rat über Finanzhilfen für die Ukraine, zuletzt einen von der EU und der G7 vereinbarten Kredit über 50 Milliarden Euro, der aus den Erträgen des eingefrorenen Vermögens der russischen Zentralbank refinanziert werden soll.
Noch während der ungarischen Ratspräsidentschaft ist für den 7. November in Budapest das nächste Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) angesetzt. Kurz zuvor finden nationale Wahlen in den Beitrittskandidatenländern Georgien und Moldau statt, die im In- und Ausland als richtungsweisend für die europäische Zukunft dieser Länder angesehen werden, sowie die US-Präsidentschaftswahlen. Die EPG versammelt neben den 27 EU-Mitgliedstaaten die Regierungschef:innen von rund 20 weiteren europäischen Ländern und bietet Orbán – erst recht im Fall eines Wahlsiegs Trumps in den USA oder russlandfreundlicher Kräfte in den Beitrittskandidatenländern – eine prominente Bühne, um für seine illiberalen Vorstellungen zu werben. Damit würde er die Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der EU noch mehr in Frage stellen.
Chancen und Risiken in weiteren Mitgliedstaaten
Im Oktober 2023 eröffnete der Wahlsieg Donald Tusks in Polen zunächst eine positive Dynamik. Die neue polnische Regierungskoalition hat sich die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit im Land als prioritäres Ziel gesetzt. Staatspräsident Andrzej Duda von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) blockiert einstweilen jedoch notwendige Justizreformen. Zwar scheint es wahrscheinlich, dass die PiS die nächste Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2025 verlieren wird, ausgemacht ist das aber keineswegs. Es ist zu erwarten, dass die polnische Regierung unter Tusk im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft Polens in der ersten Jahreshälfte 2025 das Thema Rechtsstaatlichkeit hervorheben wird, um den europa- wie innenpolitischen Gegensatz zur PiS zu betonen. Dennoch dürften Zweifel im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit auf nationaler Ebene bestehen bleiben. Nach dem Ende der ungarischen Ratspräsidentschaft und angesichts der europapolitisch geschwächten Regierung in Frankreich sowie der anstehenden Wahlen in Deutschland sieht sich Polen mit hohen Erwartungen konfrontiert, die Umsetzung und Weiterentwicklung der Rechtsstaatspolitik zu Beginn der neuen EU-Legislaturperiode voranzutreiben.
Einen aktuellen Anlass hierfür liefert unter anderem die besorgniserregende Entwicklung in der Slowakei seit der Rückkehr Robert Ficos ins Amt des Ministerpräsidenten im Herbst 2023. Im Mai 2024 überlebte Fico einen Anschlag auf sein Leben und instrumentalisiert diesen seither, um Opposition und kritische Medien zu diskreditieren. Reformen, die offiziell Strukturen zur Korruptionsbekämpfung neu ordnen sollen, diese aber de facto massiv schwächen, wurden bereits von der scheidenden EU-Kommission heftig beanstandet. Nachdem die slowakische Regierung diese Kritik nicht akzeptiert hat, ist damit zu rechnen, dass die neue EU-Kommission mindestens ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten wird. Mutmaßlich steht ebenfalls zur Disposition, auch hier – nach Polen und Ungarn – Rechtsstaatlichkeitsdefizite finanziell zu sanktionieren, also europäische Fördergelder für die Slowakei einzufrieren.
Die Nationalratswahlen in Österreich Ende September 2024, bei denen die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) einen Wahlsieg errungen hat, könnten die regionale Lage der Rechtsstaatlichkeit weiter verschärfen. Eine neuerliche Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich, dieses Mal als stärkste Kraft, würde Orbán und seiner neu formierten Fraktion im Europaparlament, den Patrioten für Europa (PfE), noch einen Verbündeten im Europäischen Rat bescheren. Käme es dazu, würden überdies weitere robuste politische Maßnahmen gegen einzelne Mitgliedstaaten, die EU-Grundwerte in Frage stellen, blockiert (vgl. SWP-Aktuell 46/2024).
Kritische Entwicklungen in anderen Gründungsstaaten der EU erschweren bereits das Erreichen einer qualifizierten Mehrheit im Rat, die für das Einfrieren von Fördergeldern notwendig wäre. Zwar hat die Beteiligung der Partij voor de Vrijheid des Rechtspopulisten Geert Wilders an der Regierungskoalition in den Niederlanden bisher keine offene Verletzung europäischer Grundwerte mit sich gebracht. Allerdings beteiligt sich das Land nicht am informellen Boykott der ungarischen Ratspräsidentschaft; dies illustriert, dass es im Gegensatz zu den vergangenen Jahren als Verfechter einer konsequenten Rechtsstaatlichkeitspolitik und einer finanziellen Konditionalisierung auf EU-Ebene ausfällt.
Darüber hinaus bleiben die längerfristigen Ambitionen und Auswirkungen der Regierung Giorgia Melonis in Italien ein Unsicherheitsfaktor. So könnten angestrebte Wahlrechtsreformen, die auf eine Machtkonzentration im Amt der Ministerpräsidentin abzielen und mit der Geschichte instabiler Regierungen in Italien begründet werden, eine erhebliche Störung der Gewaltenteilung nach sich ziehen. Schon jetzt hat der jüngste Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU-Kommission diverse Defizite benannt, was die Unabhängigkeit der Medien in Italien angeht; Meloni hat das vehement zurückgewiesen. Dies kann als Vorbote eines größeren Konflikts zwischen der Rechtsstaatlichkeitspolitik der EU-Kommission und einer wachsenden Zahl von Regierungen gewertet werden, die für europäische Nichteinmischung oder die Rückgewinnung nationalstaatlicher Kompetenzen eintreten.
Es ist fraglich, ob im Europäischen Parlament ebenso wie zwischen den Mitgliedstaaten klare Trennlinien und Kriterien, ein sogenannter cordon sanitaire, aufrechterhalten werden können. Sowohl im EP als auch in der neuen EU-Kommission steht die Europäische Volkspartei (EVP) als führende Kraft in besonderer Verantwortung. Eine strukturelle Zusammenarbeit mit den national-konservativen Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) schließt die EVP bislang aus, nicht zuletzt, weil die EKR-Fraktion mit der polnischen PiS einen erbitterten Gegner der bisherigen EU-Politik zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit umfasst. Eine selektive Kooperation mit anderen EKR-Mitgliedern, namentlich den Fratelli d’Italia, wird jedoch verstärkt anvisiert. Beim derzeitigen Stand der Regierungsführung Georgia Melonis kann dies vertretbar erscheinen. Nichtsdestotrotz besteht die Gefahr, dass bei einer Verschlechterung der Rechtsstaatlichkeit in Italien auf der Ebene des EU-Parlaments und der Kommission keine Konsequenzen gezogen werden, wie es bei Viktor Orbán in Ungarn lange Jahre der Fall war.
Mit Blick auf die gesamte EU-Legislaturperiode ist es durchaus wahrscheinlich, dass weitere Parteien der europaskeptischen Fraktionen EKR und PfE in Mitgliedstaaten Regierungsbeteiligung erlangen. Spätestens im Fall einer Übernahme der französischen Präsidentschaft durch den Rassemblement National bei den Wahlen 2027 dürfte es zu einer fundamentalen Krise der EU und ihrer Grundrechte kommen.
Gemischte Bilanz der bisherigen EU-Politik zur Rechtsstaatlichkeit
Die EU-Politik zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit wurde in den vergangenen zehn Jahren schrittweise ausgebaut. Die bisherigen Resultate sind jedoch sehr gemischt und umstritten, sodass eine Konsolidierung und flankierende Maßnahmen nötig erscheinen.
Der zentrale politische Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit ist gemäß EU-Vertrag ein Artikel-7-Verfahren. Erstmals hat das Europäische Parlament 2017 gegenüber Polen ein solches Verfahren eingeleitet, 2018 gegenüber Ungarn. Seither hat das aber zu keinen konkreten Ergebnissen geführt. Nachdem der Mechanismus gegenüber Polen im Frühjahr 2024 aufgrund des Regierungswechsels eingestellt wurde, steht die Glaubwürdigkeit dieses Instruments mehr denn je in Frage:
Trotz einer zunehmenden politischen Isolierung Ungarns in der ersten Jahreshälfte 2024 konnten sich die Mitgliedstaaten nicht dazu durchringen, über die erste Stufe des Verfahrens abzustimmen, für die eine Vierfünftel-Mehrheit im Rat erforderlich ist. Die weitergehende Frage nach handfesten Sanktionen wie zum Beispiel dem Entzug des Stimmrechts im Rahmen der zweiten Stufe, was nur einstimmig im Europäischen Rat beschlossen werden könnte, erübrigt sich bis auf weiteres. In dieser Gemengelage ist es ebenso wenig wahrscheinlich, dass neue Artikel‑7-Verfahren eröffnet werden gegenüber anderen Mitgliedstaaten, in denen das Risiko erkennbar ist, dass Grundwerte der EU systematisch verletzt werden.
Indes wurde der jährliche Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission mit Analysen und Empfehlungen für alle EU-Mitgliedstaaten ausgebaut. In seiner fünften Ausgabe, die im Juli dieses Jahres vorgestellt wurde, werden erstmals auch die vier am weitesten fortgeschrittenen Erweiterungsländer – Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien – miteinbezogen. Zugleich wird ein stärkerer Akzent darauf gelegt, ob bzw. wie Empfehlungen aus früheren Jahresberichten in allen EU-Staaten umgesetzt wurden.
Dass die Unabhängigkeit und Effektivität der Justiz, die Medienfreiheit, die Korruptionsbekämpfung sowie weitere Fragen der institutionellen Ordnung und Demokratie breit und methodologisch einheitlich erfasst werden, hat dazu beigetragen, einen umfassenderen Ansatz in der EU-Rechtsstaatlichkeitspolitik zu verankern. Trotzdem schreckt die EU-Kommission noch immer davor zurück, eine deutliche Gesamtbewertung besonders kritischer Fälle vorzunehmen – etwa ob Ungarn noch als funktionierende Demokratie gelten kann, was viele unabhängige Institutionen nicht mehr für gegeben halten. In der Gesamtschau aller Mitgliedstaaten tendiert die Kommission zudem zu einer übermäßig optimistischen Darstellung: Demnach seien rund zwei Drittel (68 Prozent) ihrer Empfehlungen aufgegriffen worden. Grundsätzlich ist der Rechtsstaatlichkeitsbericht nicht mit konkreten Sanktionsmechanismen hinterlegt.
Der Weg über Vorabentscheidungs- und Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist eine von zwei Optionen für ein robusteres Vorgehen zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit. Insbesondere mit Urteilen zur Unabhängigkeit der Justiz in Polen konnte der EuGH in der vergangenen Legislaturperiode seine Zuständigkeit in diesem Themenfeld etablieren (vgl. SWP-Aktuell 76/2021). Offen bleibt, ob eine Verletzung der Grundwerte der EU nach Artikel 2 EUV als direkt justiziabler Grund für weitere Verfahren vor dem EuGH tragen kann. Die derzeit laufende Klage der EU-Kommission gegen Ungarn bezüglich dessen umstrittener LGBTQ+-Gesetzgebung könnte hierzu einen wichtigen Präzedenzfall schaffen, auch weil fünfzehn Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschlands, die Kommission bei der Klage unterstützen. Denkbar wären demzufolge weitere Vertragsverletzungsverfahren, die einzelne Mitgliedstaaten gegenüber anderen EU-Mitgliedern zum Schutz von Grundwerten anstrengen könnten.
In allen Fallkonstellationen bleibt die politische Ebene von entscheidender Bedeutung. Während mit dem Regierungswechsel in Polen die dort geführte Grundsatzdebatte über den Vorrang des EU-Rechts beendet wurde, zeigt die ungarische Regierung immer offener ihre Missachtung gegenüber kritischen EuGH-Urteilen. Sie weigert sich, schwerwiegende Verstöße gegen das EU-Asylrecht zu korrigieren, und drohte zuletzt, irregulär Zugewanderte und Schutzsuchende nach Brüssel weiterzuleiten. Zudem zahlte Ungarn die in diesem Zusammenhang vom EuGH verhängten Zwangsgelder nicht, woraufhin die EU-Kommission entsprechende Fördermittel von mittlerweile 200 Millionen Euro einbehalten hat.
Vor diesem Hintergrund betrachten viele europäische Entscheidungsträger:innen das Einfrieren von EU-Fördergeldern aufgrund von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit als bisher effektivstes Instrument. Dieses ist jenseits einzelner Vertragsverletzungsverfahren die zweite Option für ein robusteres Vorgehen. Nach jahrelangem Ringen ist die Konditionalitätsverordnung 2021 in Kraft getreten: Demnach können auf Vorschlag der Kommission bei rechtsstaatlichen Defiziten, die ein Risiko für die finanziellen Interessen der Union darstellen, mit qualifizierter Mehrheit im Rat EU-Mittel für die betroffenen Mitgliedstaaten zurückbehalten werden.
Nach einer ersten Aktivierung dieser Verordnung gegenüber Ungarn hat die Kommission per Verwaltungsentscheid mit Verweis auf die Dachverordnung für europäische Struktur- und Regionalfonds sowie die besonderen Auszahlungsvoraussetzungen für die Mittel des Corona-Wiederaufbaufonds im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität weitere umfangreiche Fördergelder eingefroren, die für Ungarn und Polen bestimmt waren. Auf dieser komplexen Grundlage von drei unterschiedlichen Rechtsinstrumenten – der Konditionalitätsverordnung, der Dachverordnung und der Aufbau- und Resilienzfazilität – wurden ab 2021 Polen rund 137 Milliarden Euro an Fördermitteln vorenthalten, Ungarn rund 30 Milliarden.
Kaum drei Monate nach dem Regierungswechsel in Warschau wurden jedoch im Februar 2024 alle Gelder an Polen freigegeben. Dies kann gelesen werden als effektiver Anreiz, die Rechtsstaatlichkeit rasch wiederherzustellen – oder als Belohnung für die europapolitische Konformität der Regierung Tusk. Auch hatte die Kommission Ende 2023 entschieden, einen Teil der eingefrorenen Gelder an Ungarn auszuzahlen (10,2 Milliarden Euro), da einige Reformauflagen zur Korruptionsbekämpfung erfüllt worden seien. Demgegenüber kritisierte das Europäische Parlament, die Maßnahmen Ungarns wären rein oberflächlicher Natur und würden von weiteren, weit schwerwiegenderen Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit im gleichen Zeitraum überschattet. Hervorzuheben ist hier die Einrichtung eines Büros zum Schutz der Souveränität in Ungarn, das die Repression regierungskritischer Akteur:innen wie etwa Transparency International zum Ziel hat. Die Freigabe von EU-Geldern an Ungarn schien also nicht inhaltlich, sondern politisch motiviert gewesen zu sein, um Viktor Orbán dazu zu bewegen, sein Veto gegen die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzugeben. Deshalb hat das scheidende EU-Parlament vor dem EuGH Klage erhoben gegen die zugunsten Ungarns getroffene Entscheidung der Kommission.
Die neue EU-Kommission
Ursula von der Leyen konnte im Juli mit Stimmen der Liberalen (Renew), der Sozialdemokrat:innen (S&D), der Konservativen (EVP) sowie der Grünen im Europäischen Parlament als Kommissionspräsidentin wiedergewählt werden. Diese informelle große Koalition der Mitte wurde unter anderem deshalb gebildet, um die EU-Rechtsstaatlichkeitspolitik in der neuen Legislaturperiode fortführen zu können gegenüber einem erstarkten rechtspopulistischen Block.
Von der Leyen versprach in ihren politischen Leitlinien, die als inhaltliche Bewerbung für ihre Wiederwahl dienten, den Instrumentenkasten zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit auszubauen. Diese Programmatik wurde in dem Mitte September vorgestellten Personaltableau in drei Aufgabenbereichen verankert, die sich überlappen:
Politisch vorrangig erscheint – als erste Schiene einer gestärkten Rechtsstaatlichkeitspolitik – eine einheitlichere und konsistentere Konditionalisierung von EU-Geldern sowie eine engere Verknüpfung entsprechender Sanktionen mit dem jährlichen Rechtsstaatlichkeitsbericht. Da trifft es sich, dass das Amt des Kommissars für Haushalt, Betrugsbekämpfung und öffentliche Verwaltung, der hierfür zuständig ist, mit Piotr Serafin besetzt werden soll, einem engen Vertrauten Donald Tusks. Die polnische Ratspräsidentschaft ab Anfang 2025 könnte auch unter diesem Gesichtspunkt einen dynamischen Verlauf nehmen. Ob der Schwerpunkt hierbei darauf liegen wird, die Konditionalitätsverordnung auf Basis des europäischen Haushaltsrechts zu reformieren, oder darauf, das allgemeine Vergaberecht zu überarbeiten vor dem Hintergrund des neuen Mehrjährigen Finanzrahmens ab 2028 und der sogenannten Supermilestones im Rahmen des Europäischen Semesters, ist in den kommenden Monaten auszugestalten. Jüngst brachten Finnland und Schweden im Allgemeinen Rat den Vorschlag ein, möglichst alle großen EU-Ausgabenposten aus Sicht der Rechtsstaatlichkeit zu konditionieren, einschließlich der Gemeinsamen Agrarpolitik.
Ein flankierender Ansatz, der in den politischen Leitlinien von der Leyens neu eingebracht worden ist, sind die Auswirkungen rechtsstaatlicher Defizite auf das Funktionieren des EU-Binnenmarktes. Das Veto der spanischen Regierung Ende August gegen die Übernahme des spanischen Eisenbahntechnikunternehmens Talgo durch das ungarische Konsortium Ganz-MÁVAG bietet ein aktuelles Beispiel für diese Verknüpfung von Binnenmarkt und Rechtsstaatlichkeit. Grund für das Veto waren nämlich offiziell eingestellte, aber informell weiterlaufende Verbindungen dieses Konsortiums nach Moskau. Diverse deutsche Unternehmen beklagen ihrerseits geschäftsschädigende und diskriminierende Praktiken der ungarischen Behörden.
Dementsprechend könnte der jährliche Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission die bisher eher sporadischen Empfehlungen des Europäischen Semesters zur Schnittstelle zwischen Justiz und Binnenmarkt in Zukunft systematisch ausloten. Das Funktionieren des Binnenmarktes ließe sich somit, neben dem Schutz der finanziellen Interessen der EU, als eigenständiges Kriterium etablieren, um Maßnahmen zu begründen, die die Rechtsstaatlichkeit verteidigen. Beispielsweise könnte sich die EU-Kommission im Rahmen ihrer vertraglichen Kompetenzen über solche nationalen Wettbewerbsbehörden hinwegsetzen, die nicht mehr als politisch unabhängig erachtet werden. Dass künftig ein stärkerer Akzent auf diese Binnenmarktdimension und die Ausgestaltung der finanziellen Konditionalität gelegt werden soll, lässt sich auch daraus schließen, dass der designierte zuständige Kommissar für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit, Michael McGrath, ehemaliger irischer Finanzminister ist.
Die zweite Schiene einer gestärkten Rechtsstaatlichkeitspolitik ist gemäß den politischen Leitlinien von der Leyens eine engere Verbindung mit Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. In der vergangenen Legislaturperiode wurden bereits zahlreiche Initiativen zur Bekämpfung hybrider Gefahren auf den Weg gebracht. Während anfangs freiwillige Netzwerke und Beobachtungsstellen geschaffen wurden, um Falschinformationen einzudämmen, folgte in den letzten zwei Jahren eine intensive Phase der rechtlichen Regulierung. Deren Ziel war es, dem dynamischen Wandel in der Landschaft der digitalen Medien gerecht zu werden und kritischen Journalismus vor unbotmäßiger Einflussnahme zu schützen. Das Europäische Medienfreiheitsgesetz, die Anti-SLAPP-Richtlinie zum Schutz (etwa von Journalist:innen) vor missbräuchlichen Klagen sowie Teile des Gesetzes über digitale Dienste (DSA) und der KI-Verordnung lassen sich in diesem Sinne als Beitrag zur Wahrung einer informierten demokratischen Öffentlichkeit verstehen.
Diese komplexen Rechtsakte müssen jedoch zunächst in die Praxis gebracht werden, wobei unter anderem zu klären ist, wie verhältnismäßige Sanktionen bemessen und wie die Balance zwischen Meinungsfreiheit und Abwehr von Desinformation gewährleistet werden kann. Jüngstes Beispiel ist hierbei die Plattform X (vormals Twitter), die ihren Verpflichtungen aus dem DSA zur Transparenz beim Content Management und zur Kontrolle illegaler Inhalte bislang nicht nachkommt. Dauert der Konflikt an, könnten Strafzahlungen in Höhe von sechs Prozent des Jahresumsatzes von X verhängt oder schließlich der Zugang zur Plattform gesperrt werden, wie Brasilien es bereits getan hat.
Für die Zukunft hat von der Leyen einen weitergehenden »European Democracy Shield« angekündigt. Angedacht ist hier zum Beispiel, ein europäisches Netzwerk von Faktenprüfer:innen aufzubauen und die Transparenzanforderungen für KI-generierte Inhalte zu verschärfen. Unklar ist, ob hierfür weitere rechtliche Auflagen geschaffen werden sollen. Neue Enthüllungen zu russischer Einflussnahme auf Medien in zahlreichen Mitgliedstaaten, zuletzt etwa die sogenannte Doppelgänger-Kampagne, unterstreichen die Dringlichkeit effektiver Gegenmaßnahmen.
Die Bedeutung dieses Themenfeldes spiegelt sich in der designierten finnischen Vizepräsidentin der Kommission, Henna Virkkunen, wider, deren Verantwortungsbereich technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie umfassen soll. Nicht nur im Umgang mit verschiedenen globalen Unternehmen (neben X unter anderem mit TikTok und Telegram) und mit »Foreign Information Manipulation and Interference« sind die Herausforderungen vielfältig, sondern auch bei der Umsetzung der neuen Regularien in den Mitgliedstaaten. Beispielsweise hat Ungarn beim EuGH Klage gegen das Europäische Medienfreiheitsgesetz eingelegt.
In diesem Kontext gilt es zu vermeiden, das Rechtsstaatlichkeitsproblem der EU zu externalisieren, indem ausländische Einflussnahme überbetont wird – zumal ein Großteil der in der EU verbreiteten Desinformation seinen Ursprung innerhalb der Union hat. Ferner hat die im Vorfeld der Europawahlen verabschiedete Initiative zum Schutz der Demokratie gezeigt, dass bei Initiativen zu diesem Thema besonderes Augenmaß geboten ist: Was ursprünglich als Reaktion auf schwerwiegende Korruptionsvorwürfe gegenüber einigen Europaabgeordneten intendiert war und die Lobbyaktivitäten von Drittstaaten in der EU regulieren sollte, wurde in der Außenwahrnehmung und auch von europäischen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen teilweise kritisiert. So wurde die Meinung geäußert, solche Initiativen könnten repressive Gesetze zur Kontrolle der Zivilgesellschaft wie etwa in Russland, Georgien oder Ungarn legitimieren, da diese einer ähnlichen Logik folgten.
Handlungsempfehlungen
Die strategische Agenda des Europäischen Rates vom Juli 2024 erklärte die Verteidigung der europäischen Werte – einschließlich der Rechtsstaatlichkeit – zur Priorität. Als nächster Schritt steht an, einen gemeinsamen Ansatz für die drei Kommissar:innen für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit (McGrath), technische Souveränität, Sicherheit und Demokratie (Virkkunen) sowie Haushalt, Betrugsbekämpfung und öffentliche Verwaltung (Serafin) auszuformulieren. Wichtig ist, dass dieser sich nicht in einer Vielzahl an Einzelmaßnahmen verliert und Zuständigkeiten nicht verwischt.
Die neue Kommission sollte ihr derzeit schärfstes Schwert zur Sanktionierung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit, die finanzielle Konditionalisierung, konsequent einsetzen. Das Konditionalitätsregime für den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen (ab 2028) weiterzuentwickeln und auszuweiten, kann nur gelingen, wenn die Kommission alle Zweifel an der politischen Unabhängigkeit des Verfahrens ausräumen und ihr dann größerer Entscheidungsspielraum zugestanden werden kann.
Schon jetzt sollte die Kommission, wenn kritische nationale Entwicklungen zu beobachten sind, neue Vertragsverletzungsverfahren veranlassen, inklusive Anträgen auf einstweilige Verfügungen des EuGH. Aktuell betrifft dies die Justizreformen in der Slowakei und das Büro zum Schutz der Souveränität in Ungarn. Es wäre zu begrüßen, wenn Deutschland und weitere Mitgliedstaaten derartige Vertragsverletzungsverfahren unterstützen oder selbst anstrengen würden. Dabei könnte auch die Handlungsfähigkeit und Sicherheit der EU als Erwägungsgrund dienen, mit Blick auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Artikel 4 Absatz 3 EUV) und die internationalen Ziele der EU (Artikel 21 EUV).
Vor allem muss eine klare politische Linie verfolgt werden, wenn EU-Grundwerte missachtet werden. Eine möglichst breite Koalition von EU-Institutionen und Mitgliedstaaten sollte deutlich auf weitere diplomatische Provokationen Viktor Orbáns reagieren. Alle diplomatischen Optionen zur Abgrenzung gegenüber offenen Gegner:innen der EU-Grundwerte sollten ausgeschöpft werden.
Ebenso sinnvoll wäre es, im Rat der Innenminister:innen die Einführung von Binnengrenzkontrollen gegenüber Ungarn zur Abstimmung zu bringen, wenn das Land daran festhält, russischen und belarussischen Staatsangehörigen vereinfachten Zugang zu nationalen Aufenthaltstiteln zu gewähren. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, die europapolitischen Auswirkungen diverser Forderungen zu bedenken, die in den stark polarisierten Debatten in Deutschland zu Grenzschutz und Asyl zu hören sind.
Die polnische Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2025 sollte dafür genutzt werden, die EU-Politik zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit als politische Priorität für die gesamte Legislaturperiode zu verstetigen. Die viel beschworene Gefahr ausländischer Einflussnahme sowie die zunehmende Anerkennung, dass sich rechtsstaatliche Defizite auf den Binnenmarkt auswirken, könnten die Mitgliedstaaten dazu ermuntern, sich stärker für Rechtsstaatlichkeit zu engagieren.
Dabei darf allerdings nicht der Kern des Problems aus den Augen verloren werden: die EU-interne Erosion von Rechtsstaatlichkeit und der mangelnde politische Wille, dieser Entwicklung entschieden entgegenzutreten. Auch hinsichtlich der weiteren Entwicklung Italiens und der französischen Präsidentschaftswahlen 2027 ist Wachsamkeit mit Blick auf den Erhalt der Gewaltenteilung und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gefragt. Die letzten Jahre haben verdeutlicht, dass einzelne Mitgliedstaaten diejenigen Entscheidungssituationen im Rat, in denen es auf Einstimmigkeit ankommt, systematisch instrumentalisieren können, um sich den normativen Verpflichtungen der EU-Mitgliedschaft zu entziehen. Weiteren derartigen Versuchen sollte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln begegnet werden, wobei auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit jenseits der EU-Entscheidungsverfahren nicht außer Acht zu lassen sind.
Als Teil einer langfristigen Perspektive in der EU-Rechtsstaatlichkeitspolitik gilt es schließlich, im Rahmen der EU-Erweiterungspolitik Anforderungen an eine demokratische und rechtsstaatliche Transformation etwas anders zu formulieren als bisher üblich: Die Anforderungen sollten sich stärker nicht nur auf die institutionelle, sondern auch auf die gesellschaftliche Ebene beziehen, um diese besser gegen Rückschritte abzusichern. Als ersten Schritt könnte Deutschland sich hier dafür einsetzen, dass die Beitrittsländer von Anfang an bei denjenigen Maßnahmen des angekündigten »European Democracy Shield« einbezogen werden, die die Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt stellen.
Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Leonie Kristina Trebeljahr ist Forschungsassistentin des Direktors der SWP.
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DOI: 10.18449/2024A50