In Algerien konkurrieren drei Lager um die Gestaltungshoheit im Übergangsprozess: Bouteflika mit seiner Entourage, die Protestierenden und verdrängte Eliten, die auf ihr Comeback hoffen. Dies ist ein Spiel auf Zeit, wie Isabelle Werenfels darlegt.
Kurz gesagt, 21.03.2019 Research AreasIn Algerien konkurrieren drei Lager um die Gestaltungshoheit im Übergangsprozess: Bouteflika mit seiner Entourage, die Protestierenden und verdrängte Eliten, die auf ihr Comeback hoffen. Dies ist ein Spiel auf Zeit, wie Isabelle Werenfels darlegt.
Seit vier Wochen protestieren in Algerien Millionen friedlich gegen Präsident Abdelaziz Bouteflika und seine Entourage. Anfangs ging es in erster Linie darum, eine fünfte Amtszeit des gesundheitlich schwer angeschlagenen Präsidenten zu verhindern. Mit der Ankündigung des Präsidentenlagers, die für April vorgesehenen Wahlen abzusagen und eine Nationale Konferenz zur Erarbeitung einer Verfassung zu initiieren, hat sich die Stoßrichtung der Proteste verändert. Sie richten sich nun primär gegen eine Verlängerung der vierten Amtszeit Bouteflikas, die am 28. April enden müsste, sowie gegen den vom Präsidenten vorgeschlagenen Übergangsprozess.
Dass das Lager um Präsident Bouteflika angesichts der massiven und anhaltenden Proteste unter großem Handlungsdruck steht, ist augenfällig. Aber auch zwei weitere Lager beteiligen sich an einem Wettlauf um die Gestaltungshoheit über den künftigen politischen Prozess: Die Protestierenden und die von Bouteflika und seiner Entourage im vergangenen Jahrzehnt an den Rand gedrängten Eliten, die nun auf ihr Comeback hoffen.
Trotz des Handlungsdrucks spielt das Bouteflika-Lager auf Zeit, wohl in der Hoffnung, dass sich zumindest ein Teil der Protestierenden mit den vom Präsidenten gemachten »Konzessionen« – dem Verzicht auf eine erneute Kandidatur und der Aussicht auf einen gesteuerten, voraussichtlich limitierten Reformprozess – zufrieden gibt. Überdies versucht das Präsidentenlager zu demobilisieren, indem es vor Manipulation von außen warnt, die islamistische Gefahr und Syrien-Szenarien beschwört – alles Versuche, kollektive Ängste vor Destabilisierung zu schüren, die seit dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren tief verwurzelt sind.
Diese Rechnung dürfte so leicht nicht aufgehen. Dafür sprechen die anhaltenden Proteste sowie die Tatsache, dass immer mehr Angehörige der Eliten und regimenahe Organisationen, die eine fünfte Amtszeit anfänglich noch trugen, die Demonstranten nun unterstützen – ob aus Überzeugung oder Opportunismus sei dahingestellt.
Inwieweit bzw. wie lange der aktuell wohl mächtigste Mann Algeriens, Generalstabschef und Vize-Verteidigungsminister Ahmed Gaïd Salah, noch zum Präsidenten hält, ist ebenfalls offen. Je länger er zu ihm steht, desto stärker wird er selbst zur Zielscheibe. Sollten die Proteste unvermindert weitergehen, ist seine Distanzierung von Bouteflika wahrscheinlich. Ein Eingreifen der Armee zur Unterstützung Bouteflikas dürfte dagegen innerhalb des Militärs auf Widerstand stoßen. Sympathien einzelner Mitglieder der Sicherheitskräfte für die Proteste sind offenkundig. Sprechchöre der Demonstranten wie »das Volk und die Armee sind Brüder« dürften auch als Appell an die Armee zu verstehen sein, eine konziliante Haltung einzunehmen.
Vom Verbleiben Bouteflikas im Amt hat die Protestbewegung bislang profitiert. Der Mangel an substantiellen Konzessionen sorgt weiter für Mobilisierung und die Zielscheibe Bouteflika für eine gewisse Einheit. Aber auch hier wächst der Zeit- und Handlungsdruck. Denn erstens versucht die Regierung äußerst proaktiv, zivilgesellschaftliche Akteure in die Nationale Konferenz einzubinden und damit die Protestbewegung zu spalten. Bislang mit wenig Erfolg. Aber vor dem Hintergrund einer stark fragmentierten Gesellschaft und einer strategischen Verteilung des Erdöl- und Erdgasreichtums haben zumindest in der Vergangenheit derlei Spaltungs- und Kooptationsbemühungen der Regierung meist funktioniert.
Zweitens kann die Bewegung auf Dauer der Regierung nur etwas entgegensetzen, wenn sie einen eigenen Plan für einen Übergangsprozess auf den Tisch legt. Dies wird erschwert durch unterschiedliche Vorstellungen der Akteure: Einige wollen nur das Verschwinden des Präsidentenlagers, andere der gesamten Elite und wieder andere wollen ein fundamental neues politisches System. Folglich unterscheiden sich die vielen Vorschläge, die kursieren, in ihrer Reformtiefe, aber auch in der Frage, welche islamistischen Akteure partizipieren dürfen. Um diese Kakophonie einzufangen und im politischen Prozess der Post-Bouteflika-Ära eine Rolle spielen zu können, bedürfte es einer Führung, die breit gestützt wird. Bislang zeichnet sich eine solche nicht ab. Die »traditionelle« Opposition kann hier kaum einspringen. Sie hat es nicht geschafft, die junge Generation zu mobilisieren, und versucht jetzt, Trittbrett zu fahren. Ob es neu entstandenen Kollektiven zivilgesellschaftlicher Akteure gelingt, die Bewegung zu strukturieren, ist unklar. Das kollektive Führungsmodell könnte aber verfangen: Es wurde bereits im Unabhängigkeitskrieg 1954-1962 praktiziert.
Die lachenden Dritten im Konflikt zwischen Präsidentenlager und »der Straße« sind vorläufig die Gegner des Präsidenten innerhalb des Regimes. Letzteres setzt sich aus wiederstreitenden klientelistischen Netzwerken zusammen, in denen sich Militärs, Politiker, Verwaltungseliten und Wirtschaftsakteure finden. Im vergangenen Jahrzehnt ist es dem Präsidenten gelungen, konkurrierende Elitennetzwerke zu schwächen, etwa durch Umstrukturierungen im Sicherheitsapparat. Einige algerische Beobachter vermuten gar, dass die Proteste von dort unterstützt werden. Belege dafür gibt es nicht.
Je länger die Proteste dauern, desto lauter werden jedoch auch die Stimmen, die sich gegen das gesamte System und dessen Eliten richten. Allerdings sind diese weit verzweigten Seilschaften des dritten Lagers nur schwer zu fassen. Hier finden sich unter anderen ehemalige Minister, Kader von Bouteflikas FLN-Partei, Militärs und Wirtschaftseliten, die sich mit dem Präsidenten überworfen haben und durchaus gewisse politische und wirtschaftliche Reformen anstreben. Gleichzeitig haben auch diese Akteure von der Intransparenz und Informalität des aktuellen Systems profitiert und dürften von der Sorge um materielle und Statusverluste getrieben sein. Ihr Interesse ist es – im Gegensatz zum Protestlager – an der Nationalen Konferenz teilzunehmen und die Post-Bouteflika-Ära in ihrem Sinne zu gestalten. Zur Ruhe kommen dürfte Algerien damit nicht. Denn eine wiederkehrende Parole der Protestierenden lautet: »Aus Altem kann man nichts Neues schaffen«.
A Conversation with Isabelle Werenfels