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Offene strategische Autonomie der EU im Bereich Arzneimittel

Überwindung von Importabhängigkeiten bei Antibiotika durch EU-Behörde HERA

SWP-Aktuell 2022/A 75, 05.12.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A75

Research Areas

Die Covid-19-Pandemie und der Ukrainekrieg haben die Abhängigkeit der Europäischen Union (EU) von einzelnen Handelspartnern deutlich gemacht. Eine der Aufgaben der 2021 von der Kommission neu eingerichteten Generaldirektion für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) soll es daher sein, zur »offenen strategischen Autonomie« der EU beizutragen, indem Importabhängigkeiten bei Arzneimitteln identifiziert und beseitigt werden. Die Arbeit von HERA reiht sich da­mit in aktuelle Bemühungen der EU zur Reduzierung konzentrierter Importrisiken ein. Drei Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung: Identifikation von Abhängigkeiten, Wege zur deren Überwindung und Einbettung in die globale Gesundheitsgovernance.

Im März 2020 riefen die Vereinten Natio­nen (UN) ebenso wie andere Organisationen und Staaten zu Solidarität im Kampf gegen Covid-19 auf. Im selben Monat führten den­noch zahlreiche Staaten Exportbeschränkungen für Gesundheitsgüter ein. So be­grenzte Indien die Ausfuhr von Arznei­mitteln wie Antibiotika und Paracetamol. China und die USA limitierten die Ausfuhr von Schutzausrüstung und Beatmungs­geräten. Neben dem Schutz der Bevölkerung werden derartige Restriktionen auch als geopolitische Instrumente eingesetzt. Als Reaktion stellten die EU und Mitgliedstaaten wie Deutschland die Ausfuhr von Schutzausrüstungen unter Genehmigungsvorbehalt – selbst innerhalb der EU.

Handelsbeschränkungen stellen im Regime der Welthandelsorganisation (WTO) keine Seltenheit dar. Beim Handel mit Ge­sundheitsgütern sind sie aber von beson­derer Tragweite, da die dadurch herbei­geführten Lieferengpässe und Preissteigerungen selbst stabile Gesundheitssysteme belasten und die Versorgung im globalen Süden stark gefährden. Zudem bedrohen Restriktionen im Handel mit Gesundheitsgütern den EU-Binnenmarkt, weil Staaten sich zum Schutz ihrer Bevölkerung zu uni­lateralen Handlungen gezwungen fühlen können. Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass dieser Fall auch eintreten kann. HERA soll diesen Entwicklungen entgegenwirken und die Versorgung in der EU krisenfest machen.

Errichtung von HERA

Die Pandemie hat gezeigt, dass ein koordi­niertes Vorgehen auf europäischer Ebene notwendig ist, um Gesundheitskrisen zu be­gegnen. Mit Blick auf die deutlich geworde­nen Abhängigkeiten und die Fragilität von Lieferketten wird es eine zentrale Aufgabe von HERA sein, die Versorgung der Bevöl­kerung mit Gesundheitsgütern zu sichern.

Die Errichtung von HERA basiert auf einem Beschluss der EU-Kommission vom 16. September 2021. Institutionell ist HERA als Generaldirektion angelegt und dem Kommissionsmitglied für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit unterstellt. Im Unterschied zu einer Agentur ist HERA da­mit weniger autonom von der EU-Kommis­sion. Im Kern soll HERA ein einheitliches und koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten in zwei »Arbeitsmodi« – Vorsorge und Krisenreaktion – sicherstellen. Die Mitgliedstaaten sind zwar über das »HERA-Board« und den »HERA-Beirat« direkt an der Wahrnehmung der Aufgaben beteiligt, aber dies ist ihr einziger unmittelbarer Einfluss, da die Einrichtung und Budgetierung von Generaldirektionen über die Kommission erfolgen. Dies erzeugt ein besonderes Span­nungs­feld, denn die Gesundheitspolitik und das Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten sind durch Artikel 168 Absatz 5 des Ver­trags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) von Harmonisierungen ausgenommen. Auch wenn das Mandat von HERA nicht auf Rechtsangleichung ausgerichtet ist, hätte die Gründung einer Agentur anstelle einer Generaldirektion die Bedenken der Mitglied­staaten reduzieren können und mehr Trans­parenz gegenüber dem Europäischen Parlament (EP) und dem Rat geschaffen.

Das Profil von HERA umfasst im »Vorsorge-Modus« fünf Aufgaben: (1) Überwachung und Abschätzung möglicher Gefahren und Entwicklung von Gegenmaßnahmen, (2) For­schungsförderung, (3) Wissens- und Kompe­tenzförderung bei Vorsorge und Reaktion, (4) Beschaffung, Bevorratung und Ver­teilung medizinischer Güter, (5) »Bewältigung von Marktherausforderungen« und Stärkung der »offenen strategischen Autonomie«.

Das Budget zu Erfüllung dieser Aufgaben beläuft sich auf sechs Milliarden Euro für sechs Jahre. Im Vergleich zum Etat der Bio­medical Advanced Research and Development Authority (BARDA) in den USA, die 2022 1,6 Milliarden US-Dollar zur Verfügung hat, bewegt sich die finanzielle Ausstattung von HERA gemessen am BIP auf ähnlichem Niveau, wobei die USA eine geringere Bevöl­kerung haben und BARDA ein schmaleres Aufgabenportfolio hat. Die Finanzierung er­folgt über den Mehrjährigen Finanzrahmen 2022–2027 und NextGenerationEU. Für die Stärkung der »offenen strategischen Auto­nomie« bei der Herstellung von Gesundheits­gütern wurden für das Jahr 2022 165,3 Mil­lionen Euro bereit­gestellt.

Der Auftrag von HERA fügt sich dabei in die Gesamtstrategie der EU-Handelspolitik ein, mehr »offene strategische Autonomie« zu erreichen, wie sie in der Trade Policy Review formuliert wurde. Die angestrebte offene strate­gische Autonomie ist dabei definiert als die Fähigkeit, unabhängig Ent­scheidungen zu treffen und eigene Inter­essen und Werte zu berücksichtigen. Das »offen« weist darauf hin, dass es zu keiner Entkopplung kommen soll, sondern der freie und faire Handel mit Partnern stets im Vordergrund steht. Im Gesundheitsbereich ergeben sich ähnliche Zielkonflikte und Probleme wie allgemein beim Umbau der Lieferketten. Diese sind im Folgenden auf Basis der identifizierten Abhängigkeiten zu analysieren.

Identifikation von Abhängigkeit

Ein zentraler Bestandteil der Arbeit von HERA wird es zunächst sein, Abhängig­keiten zu ermitteln. Bereits 2020 hat das EP auf die geopolitische Dimension der Medi­kamentenimporte hingewiesen, da bei­spielsweise 60 bis 80 Prozent der API (Active Pharmaceutical Ingredients) auf China und Indien entfallen. Zudem ergeben sich laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medi­zinprodukte (BfArM) schon deutliche Liefer­engpässe bei versorgungsrelevanten Wirk­stoffen.

Während alle medizinischen Güter in diesem Zusammenhang von Interesse sind, sollte ein spezieller Fokus auf Antibiotika-API gelegt werden. Denn diese können ak­tuell kaum kostendeckend in der EU her­gestellt werden, weshalb es wenig Anreize für ein Reshoring dieser Produktionssparte gibt. Das Problem liegt daher weniger in der Schaffung von Produktionskapazitäten, sondern vielmehr darin, dass Investitionen durch hohe Lohnkosten und niedrige (Fest)­preise unrentabel sind. Zudem gibt es schon jetzt Lieferengpässe und Entwicklungsbedarf im Lichte zunehmender antimikrobieller Resistenzen (AMR). Dies ist besonders bri­sant, da Antibiotika auf allen Stufen der konservativen und operativen medizinischen Behandlung verwendet werden.

Den Daten von UN Comtrade zufolge hat sich die Menge der Antibiotika-Importe der EU seit 2001 leicht reduziert. Dies entspricht auch dem Befund des Europäischen Zen­trums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), wonach der Ge­brauch von Antibiotika in der Human­medizin in der EU rückläufig ist. Gleiches gilt auch für den Importüberschuss.

Eine zunehmende Abhängigkeit der EU aus wachsenden Importmengen ist daher zu verneinen. Allerdings weisen die Daten zum Importüberschuss auch darauf hin, dass die EU derzeit in jedem Fall von Anti­biotika-Import abhängig ist. Um festzustellen, ob es sich bei diesen Abhängigkeiten um kon­zentrierte Risiken handelt, die das Potential haben, die offene strategische Autonomie zu beschränken, müssen die entsprechenden Handelspartner betrachtet werden. Wichtig bei dieser Analyse ist die Unter­scheidung zwischen FPP (Finished Pharmaceutical Product) und API, dem Wirkstoff. Die nachfolgende Untersuchung klammert FPP aus und beleuchtet nur API, da diese das Schlüsselelement für die Her­stellung der Antibiotika in der EU sind.

Offene strategische Autonomie im Be­reich Antibiotika erfordert zunächst die Identifikation von Abhängigkeiten beim Import von Antibiotika-API. Grafik 1 (S. 4) zeigt die Gesamtmenge der Antibiotika-API-Importe (für humane und veterinäre Nut­zung, HS 2941), verteilt auf die fünf größten Handelspartner des Jahres 2021, seit 2001. (Die Replikationsmaterialien für Grafik 1 und 2 sind abrufbar unter https://doi.org/ 10.7802/2492.) Ein Rest, der keinen Part­nern zugeordnet werden kann, wird nicht berücksichtigt. Die Grafik zeigt deutlich eine zunehmende Konzentration im Handel mit China. Während im Jahr 2001 rund 37 Prozent aller Importe aus China stamm­ten, hat sich dieser Anteil auf circa 79 Pro­zent mehr als verdoppelt. Selbst wenn der unzuordenbare Rest an Importen mitberück­sichtigt wird, bewegt sich der Anteil immer noch bei etwa 66 Prozent. Dagegen liegen die USA auf Platz zwei mit nur etwa 6 Pro­zent Importanteil weit dahinter. Diese waren vor 20 Jahren mit 48 Prozent noch der größte Partner. Es existiert somit eine außer­ordentlich starke Importkonzentration beim Handel mit Antibiotika-API auf China.

Die Darstellung unterstreicht zudem die Notwendigkeit, auf die tatsächliche Menge der Importe zu blicken und nicht auf den Wert. Berücksichtigt man nur den Wert, würden 2021 nur etwa 28 Prozent auf China entfallen. Die Betrachtung des Wertes führt damit zu einer durch Preisunterschiede verzerrten Darstellung, die Abhängigkeiten maskiert. Ähnlich werden Abhängigkeiten unterschätzt, wenn die Einfuhren von Antibiotika-FPP beachtet werden: Hier ist China immer noch der wichtigste Import­partner, aber nur mit circa 24 Prozent.

Wege zu offener strategischer Autonomie bei Antibiotika

In Anknüpfung an den Auftrag von HERA wird in der Mitteilung der Kommission zur Arzneimittelstrategie ausdrücklich die offe­ne strategische Autonomie erwähnt. Drei Ansätze werden darin benannt, die zur Ver­ringerung der Abhängigkeiten führen sol­len: (1) Produktion in Europa, (2) Diversi­fizierung von Wertschöpfungs- und Liefer­ketten und (3) Bevorratung.

Dabei ist noch weitgehend unklar, wel­che genauen Maßnahmen durch HERA er­grif­fen werden sollen, um die in der Arznei­mittelstrategie genannten Ziele zu verwirk­lichen. Nachfolgend soll daher in Anleh­nung an Initiativen in anderen Bereichen skizziert werden, wie der Weg zur offenen strategischen Autonomie im Bereich Anti­biotika realisiert werden könnte.

Aufbau europäischer Kapazitäten

Bereits Anfang 2022 hat die Kommission mit dem European Chips Act im Bereich der Halbleitertechnik ein Vorhaben angestoßen, das auf den Aufbau europäischer Kapazitäten setzt. Der Vorschlag der Kommission zum Kapazitätsaufbau enthält drei »Säulen« und hat bereits zur Errichtung erster Ferti­gungsstätten geführt.

Grafik 1

Die erste Säule besteht in der Schaffung eines Rahmens zur Erhöhung der Produk­tionskapazitäten. Zu diesem Zweck werden Mittel aus dem InvestEU-Fonds bereitgestellt, um primär kleine und mittlere Unternehmen (KMU) zu unterstützen und Investoren anzuziehen.

Die Fonds, die HERA zur Verfügung ste­hen, könnten in ähnlicher Weise genutzt werden, um analoge Anreize in der Arznei­mittelherstellung zu schaffen, damit die wenigen verbleibenden Produktionsstätten nicht ebenfalls abwandern und neue auf­gebaut werden bzw. Produktion rückverlagert wird (Reshoring). Da vor allem die Ren­tabilität ein Kernproblem darstellt, müssen die Herstellung so finanziell unterstützt oder Preiserhöhungen so kompensiert wer­den, dass die Fertigung lukrativ ist und die Antibiotika-FPP gleichzeitig bezahlbar bleiben. Hier gibt es Anknüpfungspunkte für das IPCEI (Important Project of Common European Interest) im Gesundheitsbereich, das einen gemeinsamen Regelungsrahmen für die Finanzierung innovativer industrieller Tätig­keiten bietet.

Neben den grundsätzlichen Problemen, die aus dem Umbau von Liefer- und Wert­schöpfungsketten erwachsen, ist das Re­shoring nach Europa vor allem mit hohen Kosten verbunden. Jede Initiative zur Rück­verlagerung von Produktion muss daher das Spannungsverhältnis auflösen, das zwischen (Fest)preisen für Arzneimittel, dem Gebot ihrer Bezahlbarkeit und den höheren Pro­duktionskosten in Europa besteht. Dazu sind staatliche Eingriffe in den Markt nötig. Deren Wirkungen müssen genauestens be­obachtet werden, da Spillover-Effekte die Versorgung in anderen Nicht-EU-Staaten gefährden könnten.

Um Investitionen anzuziehen, muss zu­dem auf Planungssicherheit geachtet und eine lange Laufzeit festgeschrieben werden. Darüber hinaus bedarf es eines Investitions-Screenings um keine neuen Abhängig­keiten von ausländischen Investitionen zu schaffen. Zudem ist zu prüfen, ob Unternehmen feste Abnahmequoten für produzierte Anti­biotika-FPP zugesagt werden können, die dann in die Bevorratungsstrategie oder WHO-Hilfsprogramme fließen.

Eine weitere Säule des European Chips Acts bildet ein Koordinierungsmechanismus, unter anderem zur Überwachung von Eng­pässen. Während für die zuvor genann­te Säule noch kein Äquivalent im Bereich von Medikamenten existiert, wurde das Auf­gabenspektrum der Europäischen Arznei­mittel-Agentur (EMA) bereits auf die Über­wachung von Lieferengpässen ausgeweitet. Dazu richtete die Behörde eine Executive Steering Group on Shortages and Safety of Medicinal Products (MSSG) ein, die eine Liste kritischer Arzneimittel erstellt, Angebot und Nachfrage überwacht und Berichte und Empfehlungen zur Bekämpfung von Engpäs­sen vorlegt. Hier wird es zu intensiver Zu­sammenarbeit mit HERA kommen müssen.

Die letzte Säule besteht darin, mittels öffentlich-privater Partnerschaften und Mischfinanzierung den Aufbau von Pilot­anlagen und Kompetenzzentren zu lancie­ren. Angesichts zunehmender antimikro­bieller Resistenzen ist es empfehlenswert, dass man auf dem Weg zur offenen strate­gischen Auto­nomie auch die Stärkung von For­schung und Entwicklung im Blick be­hält. Öffentlich-private Partnerschaften und Förderstrukturen könnten hier Anreize setzen, um die wenig lukrative Entwicklung neuer Wirkstoffe anzustoßen und Investi­tionsrisiken zu verringern. Zur Vermeidung von Parallelstrukturen bietet sich eine Zu­sammenarbeit mit der IHI (Innovative Health Initiative) und der INCATE-Initiative (Incubator for Antibacterial Therapies in Europe) und mit der Globalen Partnerschaft für Forschung und Entwicklung neuer Anti­biotika (GARDP) an, die auch bereits vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) unterstützt wird.

Diversifizierung im Handel

Die Rückverlagerung von Produktion kann gelingen, aber nur wenn der enorme Preis­druck dies zulässt. Daher kommt der Diver­sifizierung im Handel eine entscheidende Bedeutung zu. Auch hier lohnt ein Blick auf andere EU-Initiativen. Die jüngsten und wohl relevantesten sind der geplante Criti­cal Raw Materials Act (CRMA) und die be­reits existierende Europäische Rohstoff­allianz (ERMA).

Die ERMA ist ein von der EU subventioniertes globales Netzwerk aus Firmen, In­vestoren, Forschungseinrichtungen, Behör­den und Organisationen. Ein Ziel der Alli­anz ist es, Lieferketten durch den Aufbau von Investitionskanälen zu stabilisieren und zu diversifizieren. Diese Kanäle werden zwischen europäischen Unternehmen und solchen in Drittländern eingerichtet, indem Investi­tionsmöglichkeiten aufgezeigt und Kapital­geber und Unternehmen über eine Raw Materials Investment Platform (RMIP) zusammengebracht werden.

Übertragen auf die Herstellung von Anti­biotika würde dies bedeuten, mit finanzieller Unterstützung der EU eine Plattform zu etablieren, die Stakeholder zusammenführt und neue Liefer- und Wertschöpfungsketten eröffnet. Mittels einer solchen Plattform könnten in Drittländern neue Zulieferer für die Herstellung von Ausgangsstoffen für Antibiotika gefunden und Wertschöpfungs- und Lieferketten mit Hilfe von Investitionen stabilisiert werden, ähnlich wie in der Minerals Security Partnership (MSP). Eine aufwendigere Möglichkeit wäre es, direkt in Drittländern – in denen Antibiotika auch gegebenenfalls benötigt werden – den Auf­bau von Kapazitäten zu unterstützen.

Im Zusammenhang mit der Diversifizierung von Liefer- und Wertschöpfungsketten wird zunehmend das »friend-shoring« dis­kutiert, sprich die Verlagerung in befreundete oder vertrauenswürdige Länder. Zwar kann dieser Ansatz die Versorgungssicherheit erhöhen und auch die MSP ist von ihm inspiriert; doch ist zu bedenken, dass sich das politische Klima in Staaten schnell ändern kann und Lieferketten einer steten dynamischen Anpassung nicht zugänglich sind. Es bedarf daher auch einer grundsätzlichen Diversifizierung.

Mit Blick auf den Bereich der kritischen Rohstoffe könnte, äquivalent zu der alle drei Jahre erscheinenden Critical Raw Mate­rials List, eine regelmäßig aktualisierte Liste zu kritischen Medikamenten geführt wer­den, in deren Kontext nicht nur Engpässe bewertet, sondern auch Marktkonzentratio­nen aufdeckt und alter­native Präparate berücksichtigt werden. Anknüpfen könnte diese Initiative an die von der EMA bereits zusammengestellte Liste der Critical Medi­cines for Covid-19 und die Listen zu knap­pen Gütern aufgrund von Lieferengpässen durch Produktionsmängel.

Bevorratung von Gütern

Die dritte und letzte Komponente der Arznei­mittelstrategie, bei deren Umsetzung HERA eine Rolle spielen wird, ist die Bevor­ratung von Gütern. Aufgrund ihrer guten Haltbarkeit eignen sich Antibiotika-FPP besonders für die Bevorratung. Dabei müs­sen die Verantwortlichen jedoch stets das Ineffizienzrisiko im Auge behalten, das mit den Kosten der Vorratshaltung einhergeht, und Verschwendung, etwa durch Ablauf des Verfallsdatums, verhindern. Unter Berück­sichtigung dieser Risiken könnten Paralle­len zu schon bestehenden Bevorratungs­strate­gien gezogen und bereits angestoßene Initiativen um die Einlagerung von Anti­biotika erweitert werden. Einen direkten Anknüpfungspunkt bildet dabei der EU Civil Protection Mechanism und die daran angegliederten Reserven für Katastrophenfälle (rescEU). Bereits im Zuge der Pandemie wurden mittels rescEU Vorräte an medizinischer Ausrüstung innerhalb der EU auf­gebaut und zur Verfügung gestellt.

Aktuell werden vor allem medizinische Masken, Handschuhe und Schutzkittel, aber auch mehrere Tausend Beatmungsgeräte vorgehalten. Diese Reserven sind derzeit auf neun EU-Mitgliedstaaten verteilt. Sowohl in Bezug auf die Anschaffung als auch die Lagerung und Logistik wird die Bevorratung vollständig von der EU-Kommission getra­gen. Die Mitgliedstaaten sind nur für die Beschaffung zuständig. Diese Verfahren aus dem Zivilschutzmechanismus lassen sich gut um Antibiotika erweitern, die von Mit­gliedstaaten beschafft, dezentral gelagert und bei Mangel verteilt werden könnten. Empfehlenswert wäre hier jedoch eine Ent­kopplung von Katastrophenfällen im Sinne von Krankheitsausbrüchen. Vielmehr ist das Fehlen von Antibiotika aufgrund des Zusammenbruchs von Lieferketten oder geopolitischer Krisen an sich als Katastrophenfall einzustufen, so dass der Mechanismus schon hier ausgelöst werden sollte.

Neben den aufgezeigten Synergieeffekten bietet eine institutionelle Verortung der Bevorratung von Pharmazeutika im EU-Zivil­schutzmechanismus zudem die Mög­lich­keit, Antibiotika in Katastrophenfällen schnell in Drittländer verbringen zu kön­nen. Dies würde ebenfalls die Tür öffnen für die nötige Einbettung der Strategien der EU in die globale Gesundheitsgovernance.

Einbettung in globale Gesundheitsgovernance

Zwar ist das Streben nach größerer strate­gischer Autonomie unabdingbar für die Wahrung der Werte und Interessen der EU, doch muss die Union darauf achten, diese da­bei nicht gleichzeitig zu untergraben. Als zivile und normative Macht wäre eine Ent­kopplung von internationalen Partnern in der globalen Gesundheitsgovernance nicht mit dem Selbstbild der EU und ihrem er­klärten Ziel vereinbar, eine »offene« strate­gische Autonomie zu erlangen. Vielmehr kann es nur darum gehen, konzentrierte Importrisiken zu überwinden und dieses Streben in die geopolitische Strategie der EU, vor allem mit Blick auf die Beziehungen zu China, einzubetten.

Aufgrund des wachsenden Einflusses Chinas in Asien und Afrika hat die EU be­reits begonnen, die Beziehungen zum afrika­nischen Kontinent zu stärken und zu­letzt einen 300-Milliarden-Euro-Investitions­plan im Rahmen der Global-Gateway-Ini­tiative auf den Weg gebracht. Während die strategische Konkurrenz mit China in Afrika besonders im Bereich Infrastruktur und Kre­ditvergabe zutage tritt, ergeben sich auch im Gesundheitsbereich zunehmend Verflechtungen zwischen afrikanischen Staa­ten und China. Diese beziehen sich auf die Überwachung und Behandlung von Krankheiten und die Lieferung von Gesund­heitsgütern, wie Antibiotika-FPP.

Grafik 2

Um diese Verflechtungen zu beleuchten, zeigt Grafik 2 das Exportvolumen bei Anti­biotika-FPP (HS 300410 und 300420) zwi­schen China und der EU auf der einen und afrikanischen Staaten auf der anderen Seite. Während das Volumen der EU seit 2001 mit Schwankungen relativ stabil ist, haben sich die chinesischen Exporte deutlich erhöht. Mit Blick auf die geopolitischen Strategien der EU und die Arbeit von HERA müssen daher Abhängigkeiten von Drittländern ebenfalls berücksichtigt werden. Zudem sind die Ver­flechtungen anderer Staaten des globalen Südens zu untersuchen.

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, wie die von HERA herbeizuführende Diversifizierung der Antibiotika-Versorgung in die globale Gesundheitsgovernance ein­gebettet werden kann: (1) Zusammenarbeit mit Drittländern, in denen eventuell Anti­biotika benötigt werden, und (2) Einbindung der Tätigkeiten von HERA in WHO-Hilfsprogramme.

Wenn auch die vollständige Produktion von Antibiotika in Drittländern, die sonst Antibiotika-FPP durch Entwicklungszusam­menarbeit erhalten würden, schwierig sein dürfte, so könnten diese Staaten dennoch in die Liefer- und Wertschöpfungsketten einbezogen werden. Dabei wird es auch nötig sein, das WTO Pharma Agreement aus­zuweiten. Möglich wäre auch die Ein­bindung der EDCTP (European and Devel­oping Countries Clinical Trials Partnership).

Zudem bietet es sich an, die Zusammenarbeit mit der WHO im Rahmen des Auf­baus europäischer Produktionskapazitäten und der geplanten Bevorratung medizini­scher Güter in der EU zu vertiefen. So könn­ten Abnahmequoten der EU für innereuropäisch produzierte Antibiotika ein Instrument sein, um die Attraktivität des Stand­orts zu erhöhen, wobei die so erworbenen Antibiotika im Rahmen von WHO-Program­men oder im Katastrophenfall im Rahmen von rescEU in Drittländer verbracht werden könnten. Hier ergäbe sich für die EU die Chance, als »Notapotheke« ihre Rolle in der globalen Gesundheit auszubauen.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Die neugeschaffene EU-Behörde HERA nimmt bei der Reformierung der europäischen Gesundheitsarchitektur eine zentrale Rolle ein. Ein Ziel dieser Neuausrichtung ist es, die offene strategische Autonomie bei Arzneistoffen zu vergrößern. Während das Ziel relativ klar vorgegeben ist, ist der Weg dahin kaum ausbuchstabiert. Die aktuelle Überarbeitung des allgemeinen EU-Arznei­mittelrechts, die gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen und die Planung des Auf­baus von Anreizstrukturen für die Erfor­schung neuer Antibiotika bil­den nur den Anfang. Mit Blick auf die Möglichkeiten der EU und die zu entwickelnden Strategien empfehlen sich folgende Maßnahmen:

  • Identifikation von Abhängigkeiten: Die kon­zentrierten Importabhängigkeiten im Gesundheitsbereich müssen umfassend und detailliert analysiert werden. Im Zuge der vorausgehenden Ausführungen ist bereits eine starke Importabhängig­keit von China im Bereich Antibiotika-API deutlich gemacht worden. Weitere Analy­sen dürfen sich dabei nicht nur auf den Wert der Importe konzentrieren, sondern müssen vor allem auch die Warenmenge in den Blick nehmen. Ebenso ist zwischen API und FPP zu unterscheiden. Darüber hinaus müssen auch einzelne Kompo­nen­ten für die Produktion berücksichtigt werden, wie etwa Nährmittel.

  • Wege zur Autonomie: Aufbau von Kapazi­täten, Importdiversifizierung und Bevorratung erscheinen als geeignete Maßnah­men zur Reduzierung strategischer Ab­hängigkeiten. Bei der konkreten Aus­gestaltung empfiehlt es sich, Handlungs­optionen aus ähnlichen Initiativen zu übernehmen. Es bieten sich dabei besonders der European Chips Act, der Critical Raw Materials Act, die Europäische Roh­stoffallianz und der EU Civil Protection Mechanism an.

  • Einbettung in globale Gesundheitsgovernance: Im Streben nach strategischer Autonomie kann es schnell zur Entkopplung von Partnern und Prozessen in der glo­balen Gesundheitsgovernance kommen. Diese Entkopplung kann vermieden wer­den, indem Wertschöpfungs- und Lieferketten mit Drittländern, die derzeit oft von China abhängig sind, aufgebaut und die neu geschaffenen Kapazitäten und Vorräte der EU in Hilfsprogramme ein­gebettet werden.

Neben der Forcierung dieser Punkte ergeben sich für die deutsche Bundesregierung kon­krete Handlungsempfehlungen: Zum einen sollte sie vom bisherigen Handelsmodell im Arzneimittelbereich Abstand nehmen, ins­besondere durch Standortverlagerungen in die EU und Diversifizierung im Waren­verkehr. Das existierende Modell von güns­tigen Arzneimittelimporten aus einzelnen Staaten, die als »Apotheke der Welt« fun­gieren, muss aus geopolitischen Gründen schnellstmöglich überwunden werden. Da­zu kann auch das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigte Ge­setz zur Überwindung von Lieferengpässen einen wichtigen Beitrag leisten. Eine Ein­bindung in die Strategien der EU ist hier­bei aber in jedem Fall notwendig. Dazu sollte ergänzend auch der Posten des IPCEI in zukünftigen Etats erhöht werden. Zum anderen muss die Bundesregierung ein Kon­zept für den Umgang mit Preissteigerungen entwickeln. Die notwendige Diversifizierung ist mit beträchtlichen Kosten verbun­den. Teuerungen müssen kommuniziert und mit Blick auf die aktuellen Preissteigerungen umfassend abgefedert werden.

Michael Bayerlein ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU/Europa. Er arbeitet im Projekt »Die globale und europäische Gesundheitsgovernance in der Krise«, das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert wird.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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