Lieferketten rückten jüngst durch die Corona-Krise ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zeigen einmal mehr, wie komplex die globale Arbeitsteilung über mehrere Staaten hinweg gestaltet ist. Aktuelle deutsche und europäische Gesetzesinitiativen streben mehr verbindliche Pflichten für endverbrauchende Unternehmen an, was Menschenrechte und Nachhaltigkeit in Lieferketten betrifft. Ziel ist eine nachhaltige Erzeugung in anderen Ländern. Gerade für die Landwirtschaft sollten aber neben diesen explizit auf Lieferketten bezogenen Ansätzen auch die Handels-, Investitionsschutz- und Agrarpolitik der Europäischen Union (EU) verbessert werden. Nur das Zusammenspiel aller Ansätze kann landwirtschaftliche Lieferketten so beeinflussen, dass die speziellen Nachhaltigkeitsprobleme dieses Sektors berücksichtigt werden. Schließlich wirken übliche Ansätze, die Lieferketten isoliert betrachten, lediglich in Richtung des Importstroms in die EU. Damit nehmen sie Entwicklungsländer nur in ihrer traditionellen Rolle als Zulieferer von Agrarrohstoffen wahr und blenden Optionen für mehr eigene Wertschöpfung und künftige Entwicklung aus.
Rahmenwerke wie die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Vereinten Nationen (VN) rufen dazu auf, nachhaltigere Produktions- und Konsummuster, Agrar- und Ernährungssysteme sowie menschenwürdige Arbeitsbedingungen und den Schutz der natürlichen Ressourcen umzusetzen, in integrierten und partnerschaftlichen Ansätzen unter Einbeziehung verschiedener Akteure.
Eine neue politische Dynamik dafür, Unternehmen als Akteure stärker einzubinden, entwickelte sich 2019 durch die großflächigen Waldrodungen in Brasilien. Diese begleiteten das Verhandlungsende des EU-Mercosur-Handelsabkommens, das wie alle EU-Handelsabkommen inzwischen Nachhaltigkeitsregelungen enthalten soll, deren Schärfe in der Regel aber begrenzt ist. Um das öffentliche Gut Wald und das Klima zu schützen, ohne auf die Unterstützung der brasilianischen Regierung angewiesen zu sein, wurden Alternativen debattiert. Übliche Lieferkettenansätze etwa greifen am Ort des Endverbrauchs solcher Produkte ein, deren Erzeugung in entfernten, politisch souveränen Staaten Nachhaltigkeitsrisiken verursacht.
Sie sehen vor, dass endverbrauchende Unternehmen für die Umsetzung von Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsstandards entlang der gesamten Lieferkette zuständig sind, die viele Akteure, oft in unterschiedlichen Ländern, vereint. Diese Ketten umfassen etwa Primärerzeugung, Transport, Verarbeitung und Verkauf. Je nach Ausgestaltung werden die Unternehmen am Ende der Kette dazu verpflichtet oder es wird ihnen nur empfohlen, Risiken zu beobachten, Lösungen zu ihrer Vermeidung zu finden und für Verletzungen von Standards zu haften (siehe Tabelle). Hauptmotiv für die anderen Akteure in der Lieferkette, Standards einzuhalten, ist ihr ökonomisches Interesse, sich den Absatz bei großen Endunternehmen und in großen Absatzmärkten zu sichern.
Entsprechende schon genutzte Regelwerke für Lieferketten unterscheiden sich hinsichtlich anvisierter einzelner Nachhaltigkeitsziele, adressierter Sektoren, der Anreizstruktur und des Verpflichtungsgrades (siehe Tabelle): Bislang dominieren freiwillige Regelungen, der Fokus liegt auf Menschenrechten, weniger auf Nachhaltigkeit. Hierfür bieten die VN-Leitprinzipien »Wirtschaft und Menschenrechte« von 2011 die Basis in Form sogenannter »Sorgfaltspflichten« für Unternehmen. Auch die Leitsätze der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für multinationale Unternehmen sind freiwillig; sie nutzen ausschließlich für Menschenrechtsverletzungen Beschwerdestellen. Breiter angelegt sind Agraransätze der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der VN mit den »Freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung« oder den »Freiwilligen Leitlinien für die verantwortungsvolle Landnutzung«, indem sie verschiedene Nachhaltigkeitsziele zusätzlich zu Menschenrechten in den Blick nehmen.
Verpflichtende Vorgaben dagegen sind selten und existieren in der EU etwa für alle Sektoren in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. In Belgien und Finnland befinden sich ähnliche Vorhaben in Vorbereitung, desgleichen ein deutsches Lieferkettengesetz. Laut Koalitionsvertrag soll eine gesetzliche Verpflichtung den »Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte« begleiten, wenn aktuelle freiwillige Ansätze als nicht ausreichend angesehen werden. Für Ende August wurde ein interministerielles Eckpunktepapier zu Details der Gesetzesinitiative erwartet, dessen Veröffentlichung wegen Uneinigkeit in der Bundesregierung verschoben wurde. Unklar scheinen noch die Größe der einzubeziehenden Unternehmen, das Ausmaß der Haftung sowie deren Reichweite, also bis zu welchem Akteur die Verantwortung reichen kann.
In Deutschland befürchten die Unternehmen, die die freiwilligen Regelungen bereits umsetzen (einer Unternehmerbefragung zufolge sind das 20 Prozent), Wettbewerbsnachteile durch fehlende Verbindlichkeit für alle. Wettbewerbseffekte sprechen darüber hinaus statt für eine rein nationale für eine europäische Regelung, wie sie der Justizkommissar der EU für 2021 vorschlägt. Er folgt damit einem Vorhaben des Kommissars für Umwelt, Meere und Fischerei, das allerdings begrenzt ist auf die Umweltziele Klima- und Waldschutz in entwaldungsfreien Lieferketten. Das Europäische Parlament bereitet derzeit einen Vorschlag hierzu für eine erste Plenarlesung im Herbst vor. Es soll neben Menschenrechts- auch andere Nachhaltigkeitsziele und neben der Landwirtschaft weitere Sektoren berücksichtigen.
Sowohl die EU als auch Deutschland sind große Verbrauchsregionen für landwirtschaftliche Produkte; damit können Lieferkettenpflichten für hier ansässige Unternehmen prinzipiell erhebliche Wirkung haben. Gleichzeitig sind sie bedeutende Lieferregionen für Agrarprodukte und wirken also nicht nur am End-, sondern auch am Startpunkt landwirtschaftlicher Lieferketten. Gerade diese Doppelposition bietet Spielraum dafür, den besonderen Herausforderungen in der Landwirtschaft zu begegnen, indem neben den importbezogenen Lieferkettenregeln exportrelevante Maßnahmen zum Tragen kommen können.
Besonderheiten im Agrarsektor
Die Landwirtschaft ist Ausgangspunkt für die neuen EU-Initiativen zur Entwaldungsfreiheit, die maßgeblich von Entwicklungen in diesem Sektor abhängt. Darüber hinaus weist sie weitere Besonderheiten auf.
Unterschiede in Regulierungstypen für Nachhaltigkeit in landwirtschaftlichen Lieferketten |
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Kurze, kleinstrukturierte, konzentrierte Ketten und EU-Doppelrolle
Kurze landwirtschaftliche Lieferketten vereinen wenige Akteure, die sich oft auf wenige Länder konzentrieren. Häufig verlaufen sie bei Agrarprodukten in einseitiger Richtung – meist folgt auf die Zulieferung unverarbeiteter Rohstoffe durch Entwicklungsländer die weitere Wertschöpfung in den importierenden entwickelten Ländern wie auch der EU. Die Importkonzentration aus Sicht der EU zeigt sich zum Beispiel darin, dass sie bei Kakaobohnen mit 90 Prozent diesen Rohstoff fast ausschließlich aus Afrika bezieht. Von allen importierten Rohstoffen machen wiederum solche, die wie Soja als Futtermittel in der Tierhaltung eingesetzt werden, einen großen Anteil aus. Umgekehrt exportiert die EU mit circa 40 Prozent vorwiegend verarbeitete Lebensmittelprodukte und damit Güter mit hoher Wertschöpfung. Tendenziell erleichtert eine kurze und auf wenige Länder konzentrierte Kette die Durchsetzung von Lieferkettenpflichten durch endverbrauchende Unternehmen, weil diese nur aus wenigen Regionen Akteure erfassen, kontrollieren und ahnden müssen.
Dagegen erschwert die kleinstrukturierte Primärerzeugung gerade in Entwicklungsländern die Umsetzung von Lieferkettenregelungen, denn das Unternehmen am Ende der Kette muss viele Erzeuger einbinden, wodurch Kosten entstehen. Außerdem ist es für Kleinerzeuger in der Landwirtschaft vor allem in Entwicklungsländern oft zu teuer, alle Pflichten einzuhalten oder dies zu dokumentieren. Als Folge können sie aus dem Markt gedrängt werden, was Einkommensverluste nach sich ziehen kann.
Die EU-Doppelrolle in Lieferketten. Für Regulierungsansätze mit explizitem Fokus auf Lieferketten (wie die aktuellen Gesetzesinitiativen) ist die Importseite entscheidend. Für diese ist die EU insbesondere bei entwaldungsrelevanten Produkten von Bedeutung: Palmöl importiert sie zu fast 50 Prozent aus Indonesien und zu 25 Prozent aus Malaysia, bei Soja stammen fast 50 Prozent aus den USA und 35 Prozent aus Brasilien. Aber auch auf der Exportseite hält die EU große Marktanteile bei Grundnahrungsmitteln, was sich in den Absatzländern etwa auf die Versorgung auswirken kann. So kommen fast 50 Prozent aller gesamtafrikanischen Milchimporte und 30 Prozent aller Geflügelimporte aus der EU.
Besondere Nachhaltigkeitsziele
Im Sommer 2019 definierte die Europäische Kommission eine Palette sogenannter entwaldungs- und damit klimarelevanter »Risikoprodukte«, bei denen land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse wie Soja, Fleisch, Palmöl, Mais, Kaffee und Kakao dominieren. Daneben wirkt sich der Agrarsektor in besonderer Weise auch auf weitere Nachhaltigkeitsdimensionen aus:
(1) Das Menschenrecht auf Nahrung. Produktion und Verbrauch von Agrarprodukten sind unmittelbar mit dem Menschenrecht auf Nahrung verbunden. Konzepte zu dessen Schutz werden seit über 50 Jahren von der FAO (weiter)entwickelt. Sie setzen sowohl am End- als auch am Startpunkt landwirtschaftlicher Lieferketten an. Das Recht auf Nahrung kann demnach mittels eigener Produktion, Importen und Exporten gestärkt werden, folglich auch durch unterschiedliche Politikfelder wie Handels-, Agrar- und Investitionsschutzpolitik (siehe Tabelle).
Am Ende der Lieferkette – und damit in der Handelsposition des Imports – können in versorgungsschwachen Entwicklungsländern oftmals erst günstige Nahrungsmittelimporte das Recht auf Nahrung gewährleisten. Gleichzeitig können Importe riskant sein, wenn sie die teurere lokale Produktion verdrängen. Letzteres kann negative Einkommenseffekte für Erzeuger haben und dadurch die einheimische Agrarwirtschaft kontinuierlich schwächen. Bei akuten Versorgungsengpässen lassen sich solche Auswirkungen oft nur noch durch Importe schnell beheben, sofern genügend Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen auf dem Weltmarkt vorhanden sind.
Auch auf der Exportseite und damit in Richtung typischer Zulieferung von Agrarrohstoffen aus Entwicklungsländern in die EU können Versorgungsrisiken entstehen. Wird die Anbaufläche für Exporte immer größer, schrumpft diejenige für den eigenen Verbrauch, zum Teil durch Enteignung. So wuchs die Anbaufläche für Palmöl in Indonesien und Malaysia in den letzten 30 Jahren stetig; dies wird als ursächlich für ein Drittel des Waldverlustes angesehen. Weiterhin kann der Druck, die Produktion zu intensivieren, steigen und zu unökologischem und gesundheitsschädlichem Einsatz von Pestiziden führen. Diesen Risiken für das Recht auf Nahrung steht indes der Nutzen der Exporterlöse gegenüber, die Versorgungsrisiken abfangen können, wenn sie für den Zukauf von Nahrungsmitteln verwendet werden.
(2) Der Anteil von Kinderarbeit ist in der Landwirtschaft mit über 60 Prozent aller bekannten Fälle am größten, fast 100 Millionen Kinder sind laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) betroffen. Vor allem der Anteil kleiner Kinder bis zu 5 Jahren ist mit einem Drittel erschreckend hoch. Am weitesten verbreitet ist Kinderarbeit im Agrarsektor in Afrika. Dieser birgt auch mit die gefährlichsten Arbeitsrisiken für Kinder in Form von Unfällen und unsachgemäßem Einsatz von Pestiziden. Mögliche Treiber sind Armut und fehlende Einkommensmöglichkeiten der Eltern.
Hebel der EU für mehr Nachhaltigkeit in Lieferketten
Eine Studie der EU-Kommission zur Zukunft von Unternehmerpflichten vom Februar 2020 hat unterschiedliche Optionen zur Regulierung von Lieferketten entwickelt und hebt hervor, wie bedeutsam es ist, bereits bestehende Ansätze zu kombinieren. Dabei beschränkt sie sich aber auf Ansätze mit explizitem Fokus auf Lieferketten. Erst ihre engere Einbindung in andere Politikfelder wie Agrar-, Handels- und Investitionspolitik ermöglicht es der EU, die spezifischen Nachhaltigkeitsziele am Start- und Endpunkt internationaler Lieferketten zu berücksichtigen. Nur alle diese Ansätze zusammen, begleitet durch entwicklungspolitische Unterstützung, können den Charakter von Lieferketten grundlegend ändern, statt sie lediglich in ihrer derzeitigen Form zu verbessern.
Agrarpolitik
Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU kann über Produktions- und Verbrauchseffekte auf internationale Lieferketten einwirken. Die aktuelle Neuausrichtung der GAP für die Phase ab 2021 sollte entsprechende Risiken für Nachhaltigkeit und Menschenrechte beachten. Die kürzlich von der EU-Kommission als Teil des Europäischen Green Deal für diese Phase vorgeschlagene »From Farm to Fork«-Strategie, die auch für die GAP relevant ist, betont zumindest generell die externe Bedeutung der europäischen Lieferketten. Indes fehlen noch konkrete Maßnahmen, wie diese nachhaltiger werden können.
Das Restrisiko für Exportdruck abbauen. Das traditionelle GAP-Risiko gerade für Entwicklungsländer resultierte aus politisch vergünstigten Exporten, die Anbieter aus Entwicklungsländern vom Weltmarkt und vor allem von ihren eigenen lokalen Märkten verdrängen können. Dies kann Armut, Hunger und Kinderarbeit noch ansteigen lassen. Bisherige Reformen führten zu von der laufenden Produktion stärker entkoppelten Subventionen (siehe SWP-Aktuell 27/2018). Allerdings haben die EU-Mitgliedstaaten begrenzt immer noch die Möglichkeit, alte, gekoppelte Subventionen zu nutzen. Bis auf Deutschland machen alle Länder davon Gebrauch. Diese produktionsstimulierenden Zahlungen sollten abgeschafft werden.
Risiken durch Klima- und Importdruck verhindern. Die FAO schätzt den Anteil der Rinderhaltung an den globalen Klimagasemissionen auf circa 14 Prozent. Werden nicht alle Kosten angerechnet, werden mehr Tiere gehalten, als es für die Wohlfahrt optimal wäre. Folgen sind unmittelbare Klimaschäden mit möglichen Nachteilen für das Recht auf Nahrung aufgrund von Naturereignissen wie Dürren und Überschwemmungen. Diese gelten weltweit neben Konflikten als die wichtigste Ursache für Hunger. Diese politisch »zu hoch« getriebene Tierhaltung wirkt sich entlang der Lieferketten aus, indem sie den Bedarf an Futter auch für die EU steigert. Zumindest den Eiweißanteil des Futters muss die EU überwiegend als Soja importieren. Hierfür ist sie also ein attraktiver Absatzmarkt, der jedoch mit dem Risiko verbunden ist, dass sich die Flächennutzung in Zulieferländern hin zu vermehrtem Sojaanbau verändert.
Als ein Lösungsansatz wird zurzeit in Deutschland aus Tierwohlgründen über das Tierwohlsiegel diskutiert, eine preis- oder gebührenbezogene Maßnahme, die Fleischpreise erhöhen (damit potentiell den Konsum reduzieren), aber auch Landwirte und Landwirtinnen für die Kosten entschädigen kann. Alternativ ist eine Steuerbelastung (oder zumindest ein Abbau des geringeren deutschen Mehrwertsteuersatzes für Fleisch) vorstellbar, die für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz sozialpolitisch begleitet werden muss.
Innovativ könnten »Nachhaltigkeitssubventionen« sein. Zum Beispiel ließe sich die seit Langem bestehende Subventionierung in der EU für Ökolandbau und Agrarumweltmaßnahmen auf Kriterien nachhaltiger, entwaldungsfreier Vorleistungen wie Futter ausdehnen. Darüber könnten Landwirte und Landwirtinnen, die als nachhaltig zertifiziertes Soja verfüttern, ihre höheren Kosten ausgleichen. Ob dies einer »grünen« Maßnahme im Sinne der von der Welthandelsorganisation (WTO) aufgestellten Regeln für Agrarsubventionen entspricht, wäre zu prüfen, aber für den Fall denkbar, dass ohne Anreizkomponente nur Kosten ausgeglichen werden. Basis hierfür sind gute Zertifizierungskriterien, wie sie etwa als »produktbezogene ökologische Fußabdrücke« inklusive Landnutzungseffekten bereits für Futter- und andere Produkte entwickelt werden, nämlich im Rahmen des gleichnamigen Pilotprojekts der EU-Kommission.
Europäischer Verbrauch allein kann jedoch globale Probleme nicht lösen, da es in international verflochtenen Lieferketten zu Substitutionseffekten kommt. So können sich Zulieferer andere Abnehmerregionen suchen, die Nachhaltigkeitsrisiken bleiben bestehen. Auch könnten andere Fleischanbieter auf dem EU-Markt, die dann günstiger als die strenger regulierten europäischen sind, weiterhin den weltweiten Futterbedarf schüren und die nachhaltiger arbeitenden europäischen Landwirte aus dem Wettbewerb drängen. Zwar könnten unilaterale innereuropäische Ansätze eine Signalfunktion erfüllen und Erfahrungen liefern, dennoch sind internationale Ansätze im internationalen Handels- und Investitionsregelwerk wichtiger.
Handel und Investitionen
Kontraproduktiven Substitutionseffekten kann man prinzipiell an der Grenze begegnen mittels internationaler Regelung der Handels- oder Investitionspolitik, die außerdem europäische Produkte durch höhere Standards schützt. Etablierte Regeln bieten dafür unterschiedlichen Spielraum und Durchsetzungsstärke und setzen sowohl auf Import- als auch auf Exportseite an.
(1) Handelsregeln, die das Menschenrecht auf Nahrung schützen, konkretisieren. Nach Artikel XI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) rechtfertigen Versorgungsrisiken ansonsten nicht erlaubte Handelsbeschränkungen und ‑verbote explizit für Nahrungsmittel. Da Auslösekriterien und Fristen nicht geregelt sind, werden Exportverbote – gegenwärtig auch coronabedingt – schnell genutzt; dabei sind diese prinzipiell preistreibend und haben Versorgungsrisiken für andere, importabhängige Länder zur Folge. Auf der Importseite können Schutzzölle den eigenen Sektor in besonderen Bedrohungssituationen abschotten, wie es oft aus Versorgungsgründen zur Ankurbelung der Produktion geschieht. In bilateralen Abkommen verurteilen die schwächeren Partner diese Schutzoption häufig als zu begrenzt. Nur wenige Abkommen verweisen explizit auf das Recht auf Nahrung (wie das EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) mit Westafrika). Dieses ließe sich stärken; darüber hinaus ist generell zu prüfen, ob mehr Schutz in Bezug auf weitere Nachhaltigkeitsrisiken möglich ist, für den aber konkrete Auslösekriterien und Fristen definiert werden müssten. Gleichzeitig ist vor vorschneller Abschottung zu warnen, da oftmals Versorgungssicherung durch günstige Importe sinnvoll ist.
(2) Den geringen Spielraum für Zollanreize ausschöpfen. Bei den Risikoprodukten für Entwaldung hat die EU wenig Spielraum, mit verringerten Zöllen für die Einhaltung von Nachhaltigkeitsanforderungen zu werben: Soja beispielsweise genießt bereits vollständige Zollfreiheit; bei Palmöl hingegen gibt es Spielraum für Zollabbau. Gleiches gilt für alle höherwertig verarbeiteten Produkte wie Kaffeepulver und Schokolade. Das kann für Produzenten relevant sein, denen bisher keine großen EU-Zollpräferenzen gewährt werden, etwa in Südamerika, und zugleich die für Entwicklung und Beschäftigung wesentliche Wertschöpfung steigern.
Grundsätzlich erschwert die WTO solche Anreize für Vorgaben zu Produktionsverfahren, die nicht zu physischen Produktunterschieden führen, wie es bei der Beachtung von Nachhaltigkeit und Menschenrechten meist der Fall ist. Allerdings lassen sich WTO-Ausnahmen nach Artikel XX GATT zur Rechtfertigung nutzen, wie sie möglicherweise künftig auch für die von der EU eingebrachte Idee einer Kohlendioxid(CO2)-Grenzabgabe heranzuziehen wären.
Für individuell vereinbarte Zollpräferenzen bei Einhaltung von Regelungen besteht mehr Spielraum als auf Ebene der WTO. Die EU macht von ihm Gebrauch, etwa gegenüber Entwicklungsländern mit dem erweiterten Allgemeinen Präferenzabkommen (APSplus), von dem aktuell 8 Länder profitieren, die Arbeitsschutznormen der ILO sowie multilaterale Umweltnormen erfüllen. Für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) sind indes zusätzliche Zollanreize insofern ausgeschlossen, als sie ohnehin im Kontext des »Everything but Arms«-Regimes (EBA) komplette Zollfreiheit genießen. Allerdings können hier umgekehrt die Zollpräferenzen ausgesetzt werden, zum Beispiel bei schweren Menschenrechtsverletzungen, wie es jüngst die EU-Kommission für Kambodscha beschloss.
Auch für die meisten afrikanischen Länder sind weitere Zollvergünstigungen wegen kompletter Zollfreiheit in den EU-WPAs nicht möglich. Jedoch verhindern mitunter strenge Ursprungsregeln, dass höherwertig verarbeitete Produkte wie Schokolade, die mithilfe von aus Drittstaaten nach Afrika importierten Vorprodukten wie Zucker hergestellt wurden, ebenfalls von der Zollfreiheit profitieren. Um Beschäftigung und Einkommen in höherwertiger und zugleich nachhaltiger Verarbeitung zu unterstützen, könnte man prüfen, ob äquivalent zu Zollanreizen »Nachhaltigkeitsanreize« durch leichtere Ursprungsregeln sinnvoll wären.
(3) Nachhaltigkeitsstandards in bilateralen Abkommen stärken. Seit 2009 enthalten alle EU-Handelsabkommen ein Nachhaltigkeitskapitel mit Menschenrechtsverpflichtung, basierend auf den ILO-Arbeitsnormen und Umweltvorgaben aus internationalen Vereinbarungen. Wenn Menschenrechte verletzt werden, kann das bislang anders als im EBA nicht durch Aussetzen der Zollpräferenzen geahndet werden. Gleichwohl gibt es ein Dialogverfahren, das im Land der Verletzung zumindest eine Mediation auslöst, wonach es zu öffentlich wahrgenommenen Gesprächen unter Beteiligung der Stakeholder kommt.
Der Umsetzungsanreiz könnte verstärkt werden, was aber oft nicht im Interesse des Vertragspartners liegt. Auch das Recht auf Nahrung könnte als eigene Dimension explizit in die Kapitel einbezogen werden; zudem ließe es sich der ohnehin vorgeschriebenen Nachhaltigkeitsbewertung aller EU-Abkommen hinzufügen. Diese beinhaltet bisher überwiegend quantitative Schätzungen, die eher ökonomische Auswirkungen abbilden.
(4) Die Vielzahl bilateraler Partnerschaftsansätze nutzen. Im Veterinärbereich verständigen sich in Äquivalenzabkommen der EU etwa mit den USA, Neuseeland und Kanada die Parteien darauf, ihre unterschiedlichen Standards für ein als gleich akzeptiertes Schutzziel für gesunde Lebensmittel anzuerkennen. Bereits 13 Äquivalenzabkommen der EU erkennen bei Bioprodukten einseitig die Verfahren im Partnerland als denen der EU gleichwertig an. Bei Holzeinfuhren im Rahmen des »Forest Law Enforcement, Governance and Trade«-Programms sind ebenso bilaterale Partnerschaften vorgesehen.
Der Anreiz für die Partnerseite liegt bei all diesen Ansätzen darin, erleichterten Zugang zum vielversprechenden EU-Markt zu erhalten, indem umfangreiche Einzelproduktkontrollen entfallen. Diese Abkommen ließen sich ausdehnen auf andere Nachhaltigkeitskriterien und weitere Produkte.
Ebenfalls auf freiwilliger Basis funktionieren die EU-Importregeln für nachwachsende Rohstoffe, die bei zu zertifizierenden Nachhaltigkeitskriterien in eine Anrechnungsquote der EU für den Kraftverkehr einfließen. Diese Quote sichert die Nachfrage und damit den Preis. Palmöl wurde 2019 als Problem eingestuft, da es für indirekte Landnutzungsänderung verantwortlich sein kann, sodass es bis 2030 aus der Anrechenbarkeit herausfällt, wogegen Hauptlieferant Indonesien bereits bei der WTO klagt. Angelehnt an die Absatzidee könnte man eine »nachhaltige Sojaquote« in Erwägung ziehen, die wiederum geeignete Zertifizierungskriterien verlangt. Auch das in Deutschland diskutierte Tierwohllabel bietet Vorgaben für Futterkriterien, die ebenso auf Importe angewendet werden könnten.
(5) Neben diesen gesetzlich basierten Regelungen existieren privatwirtschaftliche Ansätze auch für viele Risikoprodukte für Entwaldung: So bestehen für Soja oder Palmöl eigene Kriterien, an runden Tischen mit Stakeholdern entwickelt, mit eigenem Monitoring und eigener Zertifizierung. Diese Erfahrungen sollten Eingang finden in ein Lieferkettengesetz, indem solche flexibleren branchenspezifischen Ansätze den generellen an die Seite gestellt werden.
(6) Investitionsregeln in Form von bilateralen Investitionsabkommen (BITs) mit Nachhaltigkeitsbezügen ergänzen die Handelsmaßnahmen. Sie richten sich sowohl an Staaten als auch an Unternehmen (siehe Tabelle), die beide im Fokus der explizit auf Lieferketten bezogenen Ansätze stehen, und sollten daher parallel genutzt werden: Unternehmen können bislang aus politischen Gesetzesänderungen, etwa zu mehr Nachhaltigkeit in Zielstaaten, Ansprüche auf Entschädigung wegen indirekter Enteignung einklagen. Die neueren der über 1 500 Investitionsschutzabkommen der EU und ihrer Mitglieder, beispielsweise mit Vietnam, bieten aber Spielraum dafür, dass politische Reformen im öffentlichen Interesse wie für Umwelt- und Sozialbestimmungen nicht mehr als indirekte Enteignung verklagbar sind. Deswegen sollten die alten Abkommen mit geringerem Spielraum ersetzt werden.
Gesamtstrategie: Flexibler Mix und Fokus auf die Partner
Landwirtschaftliche Lieferketten berühren viele unterschiedliche Nachhaltigkeitsdimensionen und spezielle Aspekte von Menschenrechten. Risiken für diese unterscheiden sich je nach Positionierung von Akteuren und Ländern am Start- bzw. Endpunkt der Lieferketten. Dies erhöht Bedarf und Spielraum dafür, jenseits von klassischen Lieferkettenansätzen Hebel aus verschiedenen Politikfeldern einzusetzen.
Die anvisierten verpflichtenden Lieferkettenregelungen decken dabei nur die Seite der Zulieferung und damit Importe in die EU ab. Hier können sie durchaus eine Lücke füllen, da sie durch die Attraktivität des Absatzmarktes EU und mithilfe der Abnehmerunternehmen einwirken können auf Zulieferregionen. Erfahrungen mit freiwilligen Lieferkettenregelungen sollten genutzt werden, gerade was die besonderen Risiken des Agrarsektors betrifft. Generell delegiert der Unternehmeransatz die Verantwortung für Nachhaltigkeit an private Akteure, von denen einige noch dazu räumlich weit entfernt sind vom Erzeugungsort. Damit sind sie abhängig von der Umsetzungsmöglichkeit privater Akteure vor Ort ebenso wie vom Unterstützungswillen einheimischer politischer Akteure.
Darum sollten bei der Ausformulierung der Details dringend verschiedene Akteure auch aus den Zulieferregionen eingebunden werden. Nur so können die speziellen Schwierigkeiten erkannt und etwa durch entwicklungspolitische Maßnahmen beseitigt werden, sodass Nachhaltigkeit tatsächlich erzielt werden kann.
Schließlich wäre eine Gesamtstrategie aus klassischen und erweiterten Ansätzen zur Regulierung von Lieferketten flexibel genug, um auf Veränderungen in Lieferketten zu reagieren. Prinzipiell kann sich die gegenwärtige Richtung der Lieferketten künftig umkehren: Heutige Zulieferer könnten zu Verarbeitern am Ende von Lieferketten mit größerer Wertschöpfung werden – was für derzeit zuliefernde Entwicklungsländer nicht zuletzt ein Entwicklungsziel sein sollte.
Dr. agr. Bettina Rudloff ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Prof. Dr. Christine Wieck ist Leiterin des Fachgebiets »Agrar- und Ernährungspolitik« am Institut für Agrarpolitik und landwirtschaftliche Marktlehre der Universität Hohenheim in Stuttgart.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A70