Das Auswärtige Amt (AA) erarbeitet neue Afrikapolitische Leitlinien für die Bundesregierung. Im Interview mit Megatrends Afrika erklärt Christoph Retzlaff, Beauftragter des AA für Subsahara-Afrika und den Sahel, warum das gerade jetzt notwendig ist.
Megatrends Afrika (MTA): Warum braucht Deutschland neue Afrikapolitische Leitlinien? Warum überarbeitet die Bundesregierung sie und warum gerade jetzt?
Christoph Retzlaff (CR): Es ist offensichtlich, dass sich die Welt und auch Afrika seit der letzten Auflage der Afrikapolitischen Leitlinien 2019 und dem erstmaligen Erscheinen im Jahr 2014 verändert haben: die COVID-19-Pandemie, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die zunehmende Systemkonkurrenz mit China und die Umwälzungen in der Sahel-Region waren hier einschneidende Entwicklungen. Neu ist auch das gestiegene Bewusstsein für die gewachsene Bedeutung des afrikanischen Kontinents – nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Teilen der Welt. Ich würde gerne eine Zahl nennen: Seit Dezember 2021 gab es über 50 Besuche von deutschen Ressortvertretern auf politischer Ebene in Afrika – Staatssekretärin, Staatssekretär, Ministerin, Minister oder Bundeskanzler. Diese Dichte an Austausch mit unseren afrikanischen Partnern haben wir so noch nicht gehabt und das liegt natürlich an der Bedeutungszunahme Afrikas. Denn weltweit wächst die Erkenntnis, dass wir globale Probleme – Stichworte Klimakrise, Migration und Pandemiebekämpfung – nur mit Partnern aus dem globalen Süden, einschließlich mit afrikanischen Staaten, lösen können.
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sehen wir auch verstärkt einen globalen Systemwettbewerb, vor allem zwischen Russland und China auf der einen Seite und dem Westen auf der anderen Seite. Diesen Systemwettbewerb müssen wir ernst nehmen. Wir werden ihn nur dann erfolgreich bestehen, wenn wir durch Zusammenarbeit russische und chinesische Narrative widerlegen, die nach dem Motto “the West against the rest“ funktionieren. Stattdessen müssen wir unseren Austausch mit dem sogenannten globalen Süden und insbesondere mit afrikanischen Partnern verstärken, um globale Partnerschaften zu schließen – zur Verteidigung unserer gemeinsamen internationalen Ordnung auf Basis der VN-Charta, der Demokratie, beim Kampf gegen die Klimakrise, aber auch um solche Themen anzugehen, die unseren Partnern im Süden besonders auf dem Herzen brennen. Das ist aus meiner Sicht ganz zentral.
Hinzu kommt, dass Afrika der „jüngste Kontinent“ ist, und im Jahre 2050 40 Prozent der unter 18-Jährigen dort leben werden. Welche Bedeutung das für Wertschöpfung und Märkte hat, brauche ich nicht zu erklären. Dies ist auch vor dem Hintergrund des gebotenen wirtschaftlichen De-Riskings gerade mit Blick auf China und der wirtschaftlichen Chancen, die Afrika bietet, sehr wichtig. Wir müssen maßgeschneiderte und überzeugende Angebote an die afrikanischen Partner für eine zukunftsgerichtete Zusammenarbeit machen. Wir haben viel anzubieten, mehr als andere. Kurzum: Wir werden erfolgreich sein, wenn wir das bessere Angebot machen: „Make the better offer!“ ist der Schlüssel!
Vor diesem Hintergrund haben die Afrikapolitischen Leitlinien zwei wesentliche Funktionen: Zum einen geben sie der Afrikapolitik der Bundesregierung einen strategischen und kohärenten Rahmen, um sicherzustellen, dass alle Ressorts an einem Strang ziehen. Zum anderen haben sie natürlich auch eine kommunikative Funktion nach außen, weil sie in die afrikanische und die deutsche Öffentlichkeit hineinwirken und das afrikapolitische Handeln der Bundesregierung und Deutschlands erklären sollen. Dafür müssen sie die Welt abbilden, wie sie jetzt ist.
MTA: Die Bundesregierung hat eine Reihe von Strategieprozessen angestoßen und neue Schwerpunkte gesetzt: feministische Außenpolitik, China-Strategie, Nationale Sicherheitsstrategie. Weitere Strategievorhaben wurden angekündigt. Wie sehen Sie die deutsche Afrikapolitik und die neuen Leitlinien im Lichte dieser Prozesse?
CR: Die Vielzahl von Strategieprozessen, die zum Teil abgeschlossen, zum Teil noch nicht abgeschlossen sind, sind Ausdruck einer Welt, die tiefgreifende Veränderungen durchläuft. Diese Veränderungen müssen wir in unserem außenpolitischen Handeln berücksichtigen, wenn wir den Wandel mitgestalten wollen – und das ist natürlich unser Anspruch. Die Nationale Sicherheitsstrategie ist das gemeinsame Dach aller anderen Strategien und Leitlinien, die sich ebenfalls aufeinander beziehen und Hand in Hand greifen.
MTA: Richten wir den Blick nochmal nach innen: Das Auswärtige Amt hat die Federführung in diesem Prozess und doch sind es die Leitlinien für die gesamte Bundesregierung. Welchen Stellenwert hat die Ressortabstimmung, insbesondere mit dem BMVg, dem BMWK und dem BMZ? Wie bewerten Sie die afrikapolitische Kohärenz deutscher Außenpolitik und welche Herausforderungen sehen Sie in der praktischen Umsetzung?
CR: Der Titel „Afrikapolitische Leitlinien der Bundesregierung“ sagt es ja schon: Es ist ausdrücklich kein Ressortpapier. Die Leitlinien haben den Anspruch, die afrikapolitischen Grundsätze und Prioritäten der Bundesregierung zu formulieren. Sie geben also den strategischen Rahmen vor. Hauptziel des Konzepts ist dabei, die Kohärenz zwischen den Ressorts herzustellen. Durch die intensive deutsche Reisediplomatie ist unser gestiegenes Engagement in Afrika sichtbar geworden. Umso wichtiger ist es, mit diesem Engagement auf gemeinsame strategische Ziele hinzuarbeiten, Synergieeffekte zu schaffen und sich gut abzustimmen. Die Herausforderung liegt in der konkreten Umsetzung und Ausgestaltung dieser Politik. Diese Frage können natürlich nicht alleine die Leitlinien lösen. Dafür braucht es dann auch andere Instrumente, zum Beispiel gute Koordinierung durch regelmäßige Ressortabstimmungen, die wir als AA leiten. Gute Abstimmung ist wichtig, insbesondere dann, wenn man es – wie in der deutschen Afrikapolitik – mit vielen motivierten Akteurinnen und Akteuren zu tun hat.
MTA: Inwieweit ist bei diesem Leitlinienprozess auch die Einbeziehung von Stimmen aus der Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft geplant?
CR: Sehr wichtig. Wir wollen ganz bewusst auch Stimmen jenseits der Bundesregierung einholen, auch von afrikanischen Partnern. Dieser Blog ist ein Beispiel: Er soll eine Plattform für eine Vielzahl an Akteurinnen und Akteuren bieten, Beiträge zu liefern und sich darüber kritisch auszutauschen. Wir wollen uns und unserer Afrikapolitik auch den Spiegel vorhalten. Dazu brauchen wir Ideen, Anregungen und eine Debatte, die alte Weisheiten in Frage stellt. Uns ist es ein ganz besonderes Anliegen, dass wir viele unterschiedliche Stimmen hören.
MTA: Welche Bedeutung haben die Leitlinien für die ganz konkrete Zusammenarbeit mit afrikanischen Partner*innen?
CR: Das Wesentliche ist, dass die Leitlinien unsere gemeinsamen Ziele und Grundsätze formulieren, priorisieren und Transparenz nach außen schaffen, damit unsere afrikanischen Partnerinnen und Partner wissen, woran sie sind. Dabei ist es uns zum einen wichtig, mit der Welt zu arbeiten, wie sie ist und nicht, wie wir sie uns gerne wünschen würden. Zum anderen wollen wir afrikanische Interessen sehr viel konkreter und noch besser berücksichtigen, als wir das in der Vergangenheit getan haben. Dabei wollen wir nicht bloß auf Staaten und Regierungen schauen. Deshalb beziehen wir zum Beispiel auch afrikanische Partnerinnen und Partner aus der Zivilgesellschaft mit ein. So wird es uns noch besser gelingen, maßgeschneiderte Angebote zu machen. Wir sind sehr gespannt und freuen uns auf den Prozess.
MTA: Einerseits sprechen wir immer wieder über die Diversität der Entwicklungen auf dem Kontinent, andererseits erstellt die Bundesregierung nun ein Schlüsseldokument mit den Afrikapolitischen Leitlinien gegenüber einem ganzen Kontinent. Ist dies kein Widerspruch?
CR: Das ist ein berechtigter Punkt. Afrikapolitische Leitlinien auf 20 oder 25 Seiten können natürlich nicht die Diversität des afrikanischen Kontinents abbilden. Ich selber war in den letzten zwölf Monaten, wenn ich richtig mitgezählt habe, in 16 afrikanischen Ländern unterwegs und habe mir da ein gutes Bild machen können von den Unterschieden. Wir geben mit den Leitlinien den strategischen Rahmen und die übergeordneten Ziele für unsere Afrikapolitik vor. Es ist dann Aufgabe der bilateralen, konkreten Afrikapolitik, diesen Unterschieden und unterschiedlichen Ausgangslagen und Interessen gerecht zu werden.
MTA: In den vergangenen ein, zwei Jahren, ist es deutlicher geworden, dass in Afrika viele Veränderungen stattfinden, auch gegenüber dem internationalen System und externen Partnern. Manchmal wird westlichen Partnern Doppelmoral vorgeworfen, etwa im Zuge der Covid-Krise und in der Migrationsfrage. Wird das in den Leitlinien einen Niederschlag finden? Werden bestimmte Zielkonflikte in irgendeiner Form zumindest transparent gemacht? Oder ist das zu viel verlangt für solch ein Dokument?
CR: Es ist wichtig, auf diese tatsächlichen oder vermeintlichen Widersprüche einzugehen und auch Vorhaltungen zu vermeintlichen Doppelstandards, die Sie erwähnt haben, aktiv aufzugreifen. Wir haben die Afrikapolitischen Leitlinien ja noch nicht geschrieben. Ich habe sie hier nicht als Entwurf in der Schublade liegen, sondern wir wollen sie in einem inklusiven Prozess erarbeiten. Ich finde, das sind Punkte, die wir ernst nehmen müssen. Wir sehen ja auch ein ganz neues afrikanisches Selbstbewusstsein in der internationalen Politik. Ein Beispiel: die afrikanische Friedensinitiative zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dass afrikanische Präsidenten und Staats- und Regierungschefs sich zu einem Krieg in Europa positionieren und in die Ukraine und anschließend nach Russland reisen, ist neu und unterstreicht, dass die internationale Architektur, sprich VN-Sicherheitsrat, G20 und so weiter, nicht mehr die Kräfteverhältnisse im 21. Jahrhundert widerspiegelt. Daraus leitet sich der Vorwurf der Doppelmoral ja auch teilweise ab. Als Bundesregierung haben wir uns dazu klar positioniert: Wir unterstützen die Mitgliedschaft der Afrikanischen Union in G20 und auch zwei ständige Sitze afrikanischer Staaten im VN-Sicherheitsrat.
MTA: Wo liegen denn aus Ihrer Sicht derzeit die Stärken des deutschen Engagements auf dem afrikanischen Kontinent? Was macht Deutschland schon richtig gut und wo bestehen Herausforderungen?
CR: Unsere Stärke ist zunächst einmal, dass wir sehr viel in Afrika machen. Ich habe die zahlreichen Reisen auf politischer Ebene seit September 2021 erwähnt. Aber wir machen schon seit Jahrzehnten viel, in der Entwicklungszusammenarbeit sogar sehr viel mehr, als die meisten anderen, aber auch darüber hinaus. Auch in den Bereichen Stabilisierung und humanitäre Hilfe sind wir sehr aktiv. Ich glaube, dass das deutsche Engagement in Afrika besonders geschätzt wird, weil man unsere Verlässlichkeit schätzt und uns oft gesagt wird, Deutschland habe keine „versteckte Agenda“ in Afrika. Das sind auf jeden Fall schon zwei Punkte, mit denen wir sehr gut arbeiten können. Gemeinsam mit unseren Partnern in der EU, „like minded“ wie die USA und Kanada und vielleicht auch anderen können wir unseren afrikanischen Partnern starke Angebote machen, die unseren Werten und Interessen entsprechen und gegenüber anderen Wettbewerbern überzeugen. Aber klar ist auch: Wir stehen unseren afrikanischen Partnern nur zur Seite. Sie sitzen im Führerhaus bei der Überwindung der vielen Herausforderungen, die es in Afrika gibt, sozial, humanitär, politisch, wirtschaftlich und so weiter. Unsere Leitlinien müssen daher anschlussfähig sein für unsere Partner. Deswegen werden wir natürlich auch mit diesen reden im kommenden Schreibprozess.
MTA: Gibt es Aspekte, die Ihnen auf dem Herzen liegen?
CR: Was mir sehr wichtig ist, dass wir uns noch klarer über die gestiegene Bedeutung Afrikas und über das gestiegene Selbstbewusstsein der afrikanischen Partnerinnen und Partner werden, was ich übrigens beides sehr richtig und positiv finde. Wir würden die Diskussion darüber gerne in eine Richtung bringen, dass sie die Afrikapolitik und das Afrikabild in der deutschen Öffentlichkeit auf den neuesten Stand bringt. Für mich heißt das insbesondere: weg von einer „Wir müssen Afrika helfen“-Agenda hin zu einer Agenda, die lautet: Afrika wird eines der Gravitationszentren in der multipolaren Weltordnung des 21. Jahrhundert und wir brauchen die afrikanischen Staaten als Partner, um globale Probleme gemeinsam zu lösen. Also: weg von einer Hilfe-Agenda, hin zu einer aktiven, global politisch gestaltenden Partnerschaft.
Christoph Retzlaff sprach am 14. August 2023 mit Dr. Denis Tull und Julia Fath von Megatrends Afrika.
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