Erwartungsgemäß hat die Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi die Parlamentswahl gewonnen, die im April und Mai 2019 in Indien abgehalten wurde. Nicht erwartet wurde aber, dass die BJP ihre absolute Mehrheit noch ausbauen würde. Dieser deutliche Erfolg ist in erster Linie der Person des Premierministers zu verdanken. Modi hat damit ein klares Mandat für ein »neues Indien«, das künftig wohl stärker von den Werten der hinduistischen Mehrheit geprägt sein wird. Die damit verbundenen innenpolitischen Auseinandersetzungen könnten auch zur Herausforderung für die Grundlagen der indischen Demokratie werden.
Wahlen in Indien halten oft Überraschungen bereit. 2014 hätte niemand für möglich gehalten, dass die BJP eine eigene absolute Mehrheit der Sitze erzielt. Ebenso unwahrscheinlich schien es, dass sie diesen Erfolg 2019 sogar noch übertreffen würde.
Nach Ansicht vieler Experten hatte die erste Regierung Modi nur eine gemischte Bilanz vorzuweisen. Einem Wirtschaftswachstum von 6–7 Prozent und niedriger Inflation standen hohe Arbeitslosigkeit und Probleme im ländlichen Raum gegenüber. Die gesellschaftliche Polarisierung hatte sich verschärft. Von 2014 bis 2017 hatten religiös motivierte Ausschreitungen um 28 Prozent zugenommen.
Die BJP stellte ihren Wahlkampf ganz auf die Person des Premierministers ab. Modi konzentrierte sich weniger auf wirtschaftliche Erfolge, sondern eher auf nationalistische Themen. Nach dem Terroranschlag in Kaschmir und den Luftschlägen gegen Pakistan im Frühjahr 2019 präsentierte sich Modi als starker Führer, der entschlossen gegen Terrorismus vorgeht. Durch seinen Aufstieg vom Teeverkäufer zum Regierungschef verkörpert er für viele einen Neuanfang jenseits der althergebrachten Parteien und Dynastien, der Korruption und Kastenzugehörigkeit. So gaben 32 Prozent der BJP-Anhänger an, dass sie nicht für die Partei gestimmt hätten, wäre Modi nicht Premierminister.
Der Erfolg der BJP
Bei der Wahl 2019 gewann die BJP 303 Sitze, 21 mehr als fünf Jahre zuvor; die von ihr geführte National Democratic Alliance (NDA) errang 352. Dagegen konnte die Kongresspartei nur 52 Mandate für sich verbuchen, ihr Wahlbündnis United Progressive Alliance (UPA) holte 91 Sitze.
Partei |
Anzahl |
Bharatiya Janata Party (BJP) |
303 |
Indian National Congress (INC) |
52 |
Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) |
23 |
Yuvajana Sramika Rythu Congress Party (YSR) |
22 |
All India Trinamool Congress (AITC) |
22 |
Shivsena (SS) |
18 |
Janata Dal (United) |
16 |
Biju Janata Dal (BJD) |
12 |
Bahujan Samaj Party (BSP) |
10 |
Telangana Rashtra Samithi (TRS) |
9 |
Samajwadi Party (SP) |
5 |
Andere Parteien und unabhängige Kandidaten |
50 |
Gesamt |
542* |
* Die Gesamtzahl der Sitze liegt bei 543. In einem Wahlkreis wurde die Wahl verschoben.
Die Wahl zeichnete sich durch eine Reihe von Rekorden aus. So erreichte die Wahlbeteiligung einen Spitzenwert von über 67 Prozent. Der Frauenanteil im neuen Parlament ist so hoch wie nie, auch wenn er nur 14,4 Prozent beträgt. Andere Rekorde sind weniger erfreulich. Es war die bislang teuerste Wahl, und die BJP profitierte überdurchschnittlich von der neuen Wahlkampffinanzierung. Das neue Parlament wird das reichste der Geschichte sein. Während das Durchschnittseinkommen in Indien unter 10 000 Rupien im Monat (2018) liegt, besitzen 88 Prozent der Abgeordneten ein Vermögen von mehr als 10 Millionen Rupien. Auch hat sich die Kriminalisierung der Politik fortgesetzt. 29 Prozent der Abgeordneten werden schwerer Verbrechen beschuldigt, wie Mord, Vergewaltigung und Entführung.
Der Erfolg der BJP 2019 ist vielleicht eine stärkere Zäsur in der politischen Entwicklung Indiens als ihr Wahlsieg 2014. Mit der Wiederholung dieses Erfolgs hat sich die BJP endgültig als wichtigste nationale Partei etabliert.
So dominiert sie erneut in den bevölkerungsreichen nordindischen Bundesstaaten. Dies erstaunte umso mehr, als sie bei Landtagswahlen im Dezember 2018 dort drei Bundesstaaten verloren hatte. Zudem hat sie ihren Vormarsch in andere Landesteile fortgesetzt und in wichtigen Bundesstaaten im Osten wie Westbengalen und Odisha Sitze dazugewonnen. Nur im Süden, in Andhra Pradesh, Tamil Nadu und Kerala, ist die BJP bislang nicht vertreten. Überdies hat sie ihren Stimmenanteil von 31 Prozent (2014) auf über 37 Prozent (2019) ausgebaut. Die von ihr angeführte NDA erzielte insgesamt 45 Prozent.
Für die Kongresspartei ist das Wahlergebnis ähnlich niederschmetternd wie fünf Jahre zuvor. Sie gewann nur sieben Sitze mehr als 2014. Dieses Debakel hat eine Diskussion über die Zukunft ihres Vorsitzenden Rahul Gandhi entfacht, dem es nicht gelang, die Partei organisatorisch und inhaltlich neu aufzustellen. Sein Kontrahent, BJP-Chef Amit Shah, hat hingegen regionale Allianzen geschmiedet und nicht gezögert, BJP-Abgeordnete gegen Kandidaten mit besseren Wahlaussichten auszutauschen.
Auch die anderen Oppositionsparteien hatten Modi und der BJP nichts entgegenzusetzen. Das Wahlbündnis der Kastenparteien Bahujan Samaj Party (BSP) und Samajwadi Party (SP) in Uttar Pradesh, wo 80 Parlamentssitze vergeben wurden, konnte die Dominanz der BJP im größten Bundesstaat nicht brechen. Die etablierten kommunistischen Parteien gewannen zusammen nur fünf Sitze und werden damit auf nationaler Ebene weitgehend bedeutungslos sein. Starke Regionalparteien wie DMK, YSR oder AITC haben auf Bundesebene nur wenig Gewicht.
Die Wahl 2019 hat auch die Gewissheiten vieler Experten erschüttert. So waren wirtschaftliche Aspekte wie Arbeitslosigkeit offenbar nicht ausschlaggebend für die Wahlentscheidung. Zudem hatten Themen wie Säkularismus und Minderheitenschutz keine Chance gegen das selbstbewusste hindu-nationalistische Narrativ und die starke Führungspersönlichkeit Modi. Der große Stimmenzuwachs der BJP legt nahe, dass ihr Narrativ auch jenseits politisch relevanter Kastenidentitäten Anklang im Wahlvolk gefunden hat.
Das neue Indien
Modis Indien könnte allerdings eine ideologische und institutionelle Herausforderung für die indische Demokratie bilden. Die Wahl wurde auch als Entscheidung über die »Seele Indiens« stilisiert, die nach dem Erfolg der BJP künftig wohl stärker im Sinne der Hindu-Mehrheit definiert wird.
Ideologischer Taktgeber im Hintergrund ist das Nationale Freiwilligenkorps (Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS), dem auch Modi entstammt. Der RSS vertritt das Konzept »Hindutva«, dem zufolge die Werte der Hindu-Mehrheit das politische System bestimmen sollen. Diese religiöse Konnotation schlug sich im Wahlprogramm der BJP nieder, etwa in Forderungen nach dem Bau eines Tempels in der Stadt Ayodhya, nach der Einführung eines einheitlichen Zivilrechts sowie nach der Abschaffung der verfassungsrechtlichen Sonderstellung von Jammu und Kaschmir. Zudem bildet der RSS das organisatorische Rückgrat der BJP und ist damit maßgeblich für ihren Wahlerfolg verantwortlich.
Der erfolgreiche Populismus des Regierungschefs folgt bekannten Strategien. Seit 2014 gibt es eine starke Zentralisierung der Macht auf das Büro des Premierministers. Modi unterhält einen direkten Draht zu hohen Bürokraten in den Ministerien. Seine erste Pressekonferenz überhaupt besuchte er am Ende seiner ersten Amtszeit, beantwortete dort aber keine Fragen. Stattdessen setzt er auf unmittelbare Kommunikation mit seinen Anhängern, sei es über Radio, Twitter, seine eigene App oder andere soziale Medien. Modi pflegt zudem einen Anti-Eliten-Diskurs, der sich nicht nur gegen die Gandhi-Dynastie der Kongresspartei richtet, sondern zunehmend auch gegen Delhis elitäre Zirkel.
Mit der neuen Machtfülle wird wohl auch die Aushöhlung staatlicher Institutionen fortschreiten, die seit 2014 zu beobachten ist. Die einst als unabhängig angesehene Wahlkommission zog in der Wahl 2019 viel Kritik auf sich, weil sie Verstöße von Regierungsmitgliedern gegen den Wahlkodex oft spät oder nur milde tadelte. Gegenstand politischer Auseinandersetzungen waren auch schon die Zentralbank, die Bundespolizei- und die Statistikbehörde.
Setzt sich der Siegeszug der BJP auf Landesebene fort, könnte sie 2021 auch eine Mehrheit im Oberhaus erreichen, dessen Zusammensetzung von den Landesregierungen bestimmt wird. Dann wäre der Weg für tiefgreifende Verfassungsänderungen frei, zum Beispiel im Hinblick auf den Säkularismus, also die religiöse Neutralität des Staates in Indien. Spätestens an diesem Punkt könnte es zu Konflikten mit dem Obersten Gericht kommen. Eine Kontroverse könnte aber auch schon früher einsetzen, sollte die Regierung Modi erneut versuchen, das Verfahren der Besetzung von Richterposten zu ändern.
Alte und neue politische Herausforderungen
Modis neues Mantra »Unterstützung, Entwicklung, Vertrauen für alle« und sein Appell für ein »inklusives Indien« sollen die Angst religiöser Minderheiten vor einer Dominanz der Hindus mildern. Neben den Themen Zivilrecht, Ayodhya und Kaschmir gibt es noch andere Bereiche, in denen die BJP einen Wandel will. Der neue Innenminister, BJP-Parteichef Amit Shah, hatte im Wahlkampf Einwanderer aus Bangladesch als »Termiten« bezeichnet und angekündigt, ein nationales Bürgerregister einzurichten. Ein solches Register war 2018 bereits in Assam eingeführt worden, um gegen illegal eingewanderte Muslime aus Bangladesch vorzugehen. Die Regierung könnte auch versuchen, über ihre nationalen Sozialprogramme mehr Einfluss auf die Bundesstaaten zu erhalten.
Wirtschaftspolitisch steht die Regierung altbekannten Herausforderungen gegenüber. Trotz des hohen Wirtschaftswachstums werden seit Jahren zu wenig Arbeitsplätze geschaffen. Die 2014 von Modi ins Leben gerufene Initiative »Make in India« hat zwar in der Verteidigungsindustrie einige Erfolge gebracht, doch hat sich der Anteil des verarbeitenden Sektors am Bruttosozialprodukt bislang nicht entscheidend vergrößert. Mit ihrer neuen Mehrheit könnte die Regierung verzögerte Reformvorhaben wieder angehen, etwa den Landerwerb für Unternehmen oder die Arbeitsgesetzgebung. Auch die neue Regierung wird die Exportförderung vorantreiben, wobei für Indien vor allem Dienstleistungen und nicht Güter im Vordergrund stehen.
Allerdings befürwortet der RSS traditionell eher eine protektionistische Wirtschaftspolitik. So hat die Regierung Modi seit 2014 kein Freihandelsabkommen unterschrieben. Der wachsende internationale Trend zu mehr Protektionismus kommt dem RSS daher gelegen.
Der neue Außenminister Subrahmanyam Jaishankar, einst Staatssekretär im Außenministerium, steht wie Modi für eine stärkere internationale Rolle Indiens. Die strategische Partnerschaft mit den USA ist durch bilaterale Handelsstreitigkeiten sowie Washingtons Sanktionen gegen Russland und Iran belastet, die wichtige Partner Indiens sind. Zwar kooperieren die USA und Indien mit Australien und Japan in der Quadrilateralen Initiative (Quad), haben aber eine unterschiedliche Sicht auf das geostrategische Konzept des Indopazifik. Die USA betrachten es als Instrument zur Eindämmung Chinas, während Modi eng mit Beijing zusammenarbeiten will.
Beim informellen Gipfeltreffen im Frühjahr 2018 in Wuhan hat Modi gute persönliche Beziehungen zum chinesischen Präsidenten Xi Jinping aufgebaut. Der »Geist von Wuhan«, der auch eine Folge der schwierigen Beziehungen zu den USA ist, hat das Verhältnis zu China nach der Doklam-Krise 2017 deutlich verbessert. So hat China im Mai 2019 nach vielen Jahren endlich zugestimmt, Masood Azhar, den Führer der pakistanischen Terrorgruppe Jaish-e-Mohammed, in den Vereinten Nationen auf die Liste »globaler Terroristen« zu setzen. Die Gruppe hatte im Februar 2019 einen schweren Anschlag in Kaschmir verübt.
Abzuwarten bleibt, ob die neue Regierung unter Modi die Gesprächsofferten aus Pakistan annimmt. Bisher ist Indien nicht gewillt, Gespräche zu führen, solange es Terroranschläge gibt. Beijings Entscheidung zu Azhar ist zum einen das Signal an Pakistan, dass China dessen Politik der Unterstützung für Terroristen nicht mehr duldet. Zum anderen könnte sie Indien mittelfristig die Chance eröffnen, den Dialog mit Pakistan wieder aufzunehmen.
Ausblick
Deutschland und Europa werden sich darauf einstellen müssen, dass Indien sich infolge des Wahlergebnisses stärker religiös-nationalistisch ausrichten wird. Modis neue Machtfülle gibt ihm ein starkes Mandat, die indische Demokratie gemäß den Vorstellungen der Hindu-Mehrheit umzugestalten. Damit deuten sich alte und neue innenpolitische Konflikte an, etwa über den Säkularismus, den Schutz von Minderheiten oder das Verfahren zur Besetzung des Obersten Gerichts.
Trotz guter politischer und wirtschaftlicher Beziehungen sowie gemeinsamer außenpolitischer Interessen vor allem im Umgang mit China könnten daher neue Reibungspunkte im Verhältnis Indiens zu Deutschland und Europa entstehen. Diese beträfen zum Beispiel die Arbeit westlicher Nichtregierungsorganisationen, die sich für religiöse Minderheiten einsetzen. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen könnten schwieriger werden, falls nicht die liberalen, sondern die protektionistischen Kräfte mehr Einfluss auf die indische Wirtschaftspolitik gewinnen.
Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A33