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Migration und die Agenda 2030: Es zählt nur, wer gezählt wird

Migranten und Geflüchtete in den Zielen nachhaltiger Entwicklung

SWP-Aktuell 2020/A 55, 24.06.2020, 4 Pages

doi:10.18449/2020A55

Research Areas

Unter dem Leitgedanken »Leave no one behind« hat sich die Weltgemeinschaft mit der Agenda 2030 zum Ziel gesetzt, die Lebensbedingungen armer und marginalisierter Gruppen zu verbessern. Zu ihnen gehören in vielen Fällen auch Geflüchtete und Migranten. In den für die Umsetzung der Agenda 2030 maßgebenden Zielen nach­haltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) werden sie allerdings kaum berücksichtigt. Als Folge dessen wächst die Gefahr, dass sich bestehende Be­nachteiligungen verstetigen oder stärker ausprägen. Fünf Jahre nach Verabschiedung der SDGs ist die Bilanz ernüchternd: Noch immer fehlen in den meisten Ländern nach Migrationsstatus disaggregierte Daten, die notwendig sind, um Veränderungen in der Lebenssituation migrantischer Bevölkerungsgruppen nachvollziehen und überprüfen zu können. Im Kontext ihres umfassenden Engagements für die Umsetzung der SDGs sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Geflüchtete und Migranten im Follow-Up und Review der Agenda 2030 systematisch berücksichtigt werden.

Die Zahl der Migranten und Geflüchteten (sowohl der grenzüberschreitenden Flücht­linge als auch der Binnenvertriebenen) steigt weltweit an. Viele von ihnen leben lange Zeit in prekären Verhältnissen, ohne Zugang zu adäquater Grundversorgung oder Bildung und ohne Möglichkeit poli­tischer Teilhabe. Die Agenda 2030 – das universelle Rahmenwerk für eine nach­haltige Entwicklung – zielt auf eine Ver­besserung der Lebensbedingungen armer und marginalisierter Gruppen ab. Von Beginn an waren Geflüchtete und Migranten explizit einbegriffen. Dem aus den SDGs abgeleiteten Indikatorenkatalog wurde ein Passus vorangestellt, der eine Disaggre­gierung aller personenbezogenen Indika­toren unter anderem nach Einkommen, Geschlecht, Alter und Migrationsstatus for­dert. Unklar blieb aber, wie der immense Bedarf an Daten gedeckt werden könnte, die hierfür erforderlich sind. Gerade im Migra­tionsbereich wurde der Anspruch einer umfassenden Disaggregierung bisher kaum beachtet, und die Fachdebatte über die migrationspolitische Relevanz der Agenda 2030 verengte sich auf die wenigen SDGs, die einen direkten Migrationsbezug haben. Neben dem zentralen Ziel 10.7, eine geord­nete, reguläre, sichere und verantwortliche Migration zu erleichtern, zählen hierzu der Ausbau transnationaler Stipen­dienprogramme, der Schutz der Arbeitsrechte von Migranten und die Senkung der Kosten für Geldüberweisungen in Herkunfts­länder. Diese Fokussierung auf migrationsbezogene Einzelaspekte blendet aus, dass Migranten und Geflüchtete als marginalisierte Bevölkerungsgruppe bei allen SDGs mitgedacht werden sollten.

Mangelnde Berücksichtigung in Follow-Up und Review

Mit Blick auf die Agenda 2030 wurde ein strukturierter Review-Prozess eingerichtet, in dessen Rahmen Fortschritte und Hürden bei der Umsetzung der SDGs dokumentiert und auf Ebene der Vereinten Nationen (VN) diskutiert werden. Referenzmaßstab für die Erstellung der Review-Dokumente ist ein umfangreicher Katalog an Indikatoren, den die beteiligten Staaten ausgehandelt haben. Mit seiner Hilfe soll die Umsetzung der ins­gesamt 169 Unterziele überprüft werden. Bei diesem ausgeklügelten Verfahren be­steht allerdings die Gefahr, dass Gruppen und Aspekte, die nicht explizit von den In­dikatoren erfasst werden, statistisch un­sichtbar bleiben. Eben dies ist in Bezug auf Migranten und Geflüchtete zu beobachten.

Veranschaulichen lässt sich das am Bei­spiel von SDG 11.1, das allen Menschen Zugang zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum verschaffen soll. Dieses Ziel ist insbesondere für irreguläre Migranten und Geflüchtete, die häufig in prekären Unterkünften ohne adäquate Grundversorgung leben, von großer Bedeu­tung. Der entsprechende Indikator berück­sichtigt die Situation dieser Bevölkerungsgruppe aber nicht separat. Etwaige migra­tionsspezifische Benachteiligungen bleiben daher hinter statistischen Mittelwerten ver­borgen; für Regierungen ergibt sich aus Ziel 11.1 keinerlei Handlungsdruck, die Wohn­verhältnisse von Migranten und Geflüchteten zu verbessern.

Für die SDGs und den Mechanismus ihrer Überprüfung gilt wie für jeden ande­ren Politikbereich: Es zählt nur, wer ge­zählt wird. Daher ist die systematische Berücksichtigung migrantischer Bevölkerungsgruppen in Follow-up und Review der Agenda 2030 dringend nötig. Dies wieder­um erfordert die Erhebung von nach Migra­tionsstatus disaggregierten Daten, anhand derer die gegenwärtige Lebenssituation ana­lysiert, Maßnahmen zur Verbesserung kon­zipiert und Veränderungen nachvollzogen werden könnten.

Datenbedarf und potentielle Datenquellen

Im Zuge der großen politischen und media­len Aufmerksamkeit für die Themen Migra­tion und Flucht sind Forderungen nach einer Verbesserung der Datenlage omnipräsent – ihr ist etwa die erste Zielsetzung des Globalen Pakts für Sichere, Geordnete und Reguläre Migration gewidmet. In der öffent­lichen Debatte steht dabei die möglichst lückenlose Erfassung von Migrationsbewegungen im Vordergrund. Für die Umsetzung der Agenda 2030 sind dagegen sozioöko­nomische Daten zur Lebenssituation migran­tischer Bevölkerungsgruppen ausschlag­gebend. Bislang werden solche Daten aber in kaum einem Land systematisch erhoben. Allerdings gibt es eine Reihe von Daten­sätzen, die relevante Informationen enthal­ten. Diese unterscheiden sich in ihrer Reich­weite und Fähigkeit, verschiedene Arten von Informationen zu erfassen. Daher bilden sie jeweils nur einen Teil der Realität ab.

Zensusdaten, also die Ergebnisse von Volkszählungen, können eine wichtige Quelle sein, um die Größe der migrantischen Bevölkerung und ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung zu messen. Sie liefern jedoch keine detaillierten Informationen über die Gründe für Migration oder den Lebensstandard von Migranten. Zudem wer­den Geflüchtete nur in Ausnahmefällen berücksichtigt. Dem Vorteil der flächen­deckenden Erhebung steht der Nachteil der großen Zeitabstände entgegen – Zensus­daten werden meist nur alle zehn Jahre erhoben.

Daten aus nationalen Verwaltungsregis­tern eignen sich deutlich besser zur Erfas­sung kontinuierlicher Migrationsbewegungen, sind aber oft nicht länderübergreifend vergleichbar. Binnenvertriebene und irre­guläre Migranten kommen in Verwaltungsregistern in der Regel nicht vor.

Stichprobenerhebungen können migrantische Bevölkerungsgruppen gezielt berück­sichtigen. Zudem bieten sie die Möglichkeit, Informationen über die Ursachen und Fol­gen von Migration und Flucht zu liefern und einen Einblick in die Lebenssituation von irregulären Migranten oder Binnen­vertriebenen zu vermitteln, die sonst statis­tisch oft unsichtbar bleiben. Allerdings geht die Durchführung von Stichprobenerhebungen mit vielfältigen Herausforderungen einher – das betrifft etwa die Wahrung von Anonymität –, und die Ergebnisse sind meist nicht repräsentativ. Zudem sind die so generierten Datensätze in vielen Fällen nicht öffentlich zugänglich, da sie in der Regel von nichtstaatlichen Akteuren erho­ben werden.

Hürden bei der Verbesserung der Datenlage

Es gibt eine Reihe von Initiativen zur Ver­besserung entwicklungsrelevanter Daten, die eng mit dem SDG-Prozess verbunden sind – unter anderem die Netzwerke Paris21 und Global Partnership for Sustain­able Development Data sowie die Group on the Data Revolution der VN. Parallel widmen sich diverse Institutionen speziell der Verbesserung der Datenlage zu Flucht und Migration, die aber keinen direkten Bezug zum SDG-Prozess haben – etwa das Global Migration Data Analysis Centre der Inter­nationalen Organisation für Migration oder das Joint Data Center on Forced Dis­placement von VN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und Weltbank. Aufgrund der mangelnden Integration dieser migrationsspezifischen Dateninitiativen in den über­greifenden SDG-Prozess ist ihr Beitrag zum Review und Follow-Up der Agenda 2030 aber begrenzt. Zusätzlich zu der unzulänglichen Koordination dieser Prozesse erschwe­ren drei Faktoren die Verbesserung der Datenlage im Bereich Migration. Erstens mangelt es in den meisten Ländern an per­sonellen und finanziellen Ressourcen, um entsprechende Daten zu sammeln und zu analysieren. In diesem Sinne hebt SDG 17.18 die Not­wendigkeit hervor, in Entwicklungsländern Kapazitäten für die Datensammlung auszubauen. Zweitens lassen sich die in unterschiedlichen Ländern erho­benen migrationsbezogenen Daten kaum miteinander vergleichen – trotz konkreter Empfehlungen der VN zu einer schritt­weisen Harmonisierung gibt es bisher keine inter­national gültige Definition unterschied­licher Arten von Migration. Solange aber die Migrationsstatistiken nicht vereinheit­licht werden, sind die Größe der migran­tischen Bevölkerung und Veränderungen ihres Wohlergehens schwer zu messen. Und drittens fehlt in vielen Ländern aus Angst vor Reputationsverlusten oder internatio­naler Kritik der politische Wille, die oftmals schlechten Lebensbedingungen migran­tischer Bevölkerungsgruppen offenzulegen.

Dekade der Umsetzung – aber wie?

Fünf Jahre nach Verabschiedung der SDGs gilt der bis 2030 verbleibende Zeitraum auf VN-Ebene nun als »decade of action and delivery« – als Dekade der Umsetzung. Mehr und mehr setzt sich die Einsicht durch, dass die Erhebung von Daten, die nach Migra­tionsstatus disaggregiert sind, eine essen­tielle Voraussetzung für die Überprüfung und Umsetzung der Agenda 2030 darstellt. So wünschenswert es wäre, diese Voraussetzung für alle SDG-Indikatoren zu schaf­fen: Der damit einhergehende technische und administrative Aufwand würde die Res­sourcen und Kapazitäten nationaler Insti­tutionen überfordern. Einen gangbaren Weg aus diesem Dilemma hat die Inter-Agency and Expert Group on SDG Indicators aufgezeigt: Sie empfiehlt eine Sammlung von nach Migrationsstatus disaggregierten Daten hinsichtlich einer überschau­baren Anzahl von SDGs, die für migrantische Bevölkerungsgruppen von besonderer Rele­vanz sind. Priorität für Migranten haben der Zugang zu staatlichen Grundleistungen in Bildung und Gesundheitsversorgung, Arbeit und der Schutz von Arbeitnehmer­rechten, Antidiskriminierungsmaßnahmen, die Eindämmung xenophober Gewalt und der Zugang zu Information. Für Geflüchtete stehen Grundbedürfnisse und Wohnen, Einkommensmöglichkeiten und wirtschaftliche Selbständigkeit sowie politische und Bürgerrechte im Vordergrund. Unter den derzeitigen Umständen wäre eine solche Schwerpunktsetzung ein Schritt in die rich­tige Richtung. Darüber sollte aber nicht das langfristige Ziel vergessen werden, in allen Bevölkerungsdaten den Migrationsstatus standardisiert zu erfassen, um Benachteiligungen erkennen und ihnen entgegen­wirken zu können.

Empfehlungen für die deutsche Politik

Um zu gewährleisten, dass Migranten und Geflüchtete bei der Umsetzung der Agenda 2030 systematisch berücksichtigt werden, sind nach Migrationsstatus disaggregierte sozioökonomische Daten unerlässlich. Im Interesse einer Verbesserung der Datenlage sollte sich die Bundesregierung in Koopera­tion mit ihren europäischen Partnern auf folgende Aspekte konzentrieren.

Migrationsdefinitionen harmonisieren und offenlegen. Migrationsdaten lassen sich über Ländergrenzen und Migrations­typen hinweg nur vergleichen, wenn die rechtlichen und administrativen Definitionen harmonisiert werden, die den jeweiligen nationalen Datenerhebungsprozessen zugrunde liegen. Solange eine solche Har­monisierung nicht erreicht ist, sollten die verwendeten Definitionen zumindest offen­gelegt werden, um die Interpretation der verfügbaren Daten zu erleichtern. Bei Neu­erhebungen sollten jene Definitionen und Methoden angewandt werden, die die VN-Statistik­kommission und die Expert Group on Refugee and Internally Displaced Per­sons Statistics (EGRIS) empfehlen.

Datenerhebung gezielt unterstützen. Das Wissen über die sozioökonomische Lage der migrantischen Bevölkerungsgruppen muss durch gezielte Datenerhebungen gemehrt werden. Hierzu sollten die perso­nellen und finanziellen Kapazitäten der nationalen Statistikbehörden in Partner­ländern systematisch gestärkt werden. Be­sonders relevant ist dies mit Blick auf Bin­nenvertriebene und irreguläre Migranten: Diese machen einen großen Anteil der migrantischen Bevölkerung aus, die Daten­lage ist für beide Gruppen aber hochgradig lückenhaft.

Synergien zwischen Dateninitiativen stärken. Die bereits existierenden Initiativen zur Verbesserung der Datenlage im Bereich Migration und Flucht geben Anlass zu Hoffnung. Hier gilt es, Doppelungen zu vermeiden und Synergien zu stärken. Zu­dem sollten Brücken geschlagen werden zwischen den vielfach noch jungen Zentren für migrationsspezifische Daten und über­geordneten, eng mit dem SDG-Prozess ver­bundenen Dateninitiativen wie Paris21.

Migrationsexpertise im SDG-Review-Prozess ausbauen. Um künftig Veränderungen in der Lebenssituation von Migran­ten und Geflüchteten stärker zu berücksich­tigen, sollte Migrationsexpertise systema­tischer als bisher in den Review-Prozess eingebunden werden. Die Bundesregierung könnte dies in unterschiedlichen Kontexten an­regen – etwa bei den halbjährlichen Zusammenkünften des Netzwerks Partners for Review und den von der Abteilung für Wirtschaft und Soziales der VN (UNDESA) organisierten Treffen zur Vorbereitung der Reviews, die jährlich in New York beim High-level Political Forum stattfinden.

Dr. Anne Koch ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Dr. Jana Kuhnt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in dem Forschungsprogramm »Transformation politischer (Un-)Ordnung«.
Der Text dieses SWP-Aktuells erscheint auch als Publikation des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) in der Reihe »Analysen und Stellungnahmen«. Die Publikation wurde im Rahmen von Forschungsprojekten erstellt, die mit Unter­stützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) realisiert wurden.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364