Unter dem Leitgedanken »Leave no one behind« hat sich die Weltgemeinschaft mit der Agenda 2030 zum Ziel gesetzt, die Lebensbedingungen armer und marginalisierter Gruppen zu verbessern. Zu ihnen gehören in vielen Fällen auch Geflüchtete und Migranten. In den für die Umsetzung der Agenda 2030 maßgebenden Zielen nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) werden sie allerdings kaum berücksichtigt. Als Folge dessen wächst die Gefahr, dass sich bestehende Benachteiligungen verstetigen oder stärker ausprägen. Fünf Jahre nach Verabschiedung der SDGs ist die Bilanz ernüchternd: Noch immer fehlen in den meisten Ländern nach Migrationsstatus disaggregierte Daten, die notwendig sind, um Veränderungen in der Lebenssituation migrantischer Bevölkerungsgruppen nachvollziehen und überprüfen zu können. Im Kontext ihres umfassenden Engagements für die Umsetzung der SDGs sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Geflüchtete und Migranten im Follow-Up und Review der Agenda 2030 systematisch berücksichtigt werden.
Die Zahl der Migranten und Geflüchteten (sowohl der grenzüberschreitenden Flüchtlinge als auch der Binnenvertriebenen) steigt weltweit an. Viele von ihnen leben lange Zeit in prekären Verhältnissen, ohne Zugang zu adäquater Grundversorgung oder Bildung und ohne Möglichkeit politischer Teilhabe. Die Agenda 2030 – das universelle Rahmenwerk für eine nachhaltige Entwicklung – zielt auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen armer und marginalisierter Gruppen ab. Von Beginn an waren Geflüchtete und Migranten explizit einbegriffen. Dem aus den SDGs abgeleiteten Indikatorenkatalog wurde ein Passus vorangestellt, der eine Disaggregierung aller personenbezogenen Indikatoren unter anderem nach Einkommen, Geschlecht, Alter und Migrationsstatus fordert. Unklar blieb aber, wie der immense Bedarf an Daten gedeckt werden könnte, die hierfür erforderlich sind. Gerade im Migrationsbereich wurde der Anspruch einer umfassenden Disaggregierung bisher kaum beachtet, und die Fachdebatte über die migrationspolitische Relevanz der Agenda 2030 verengte sich auf die wenigen SDGs, die einen direkten Migrationsbezug haben. Neben dem zentralen Ziel 10.7, eine geordnete, reguläre, sichere und verantwortliche Migration zu erleichtern, zählen hierzu der Ausbau transnationaler Stipendienprogramme, der Schutz der Arbeitsrechte von Migranten und die Senkung der Kosten für Geldüberweisungen in Herkunftsländer. Diese Fokussierung auf migrationsbezogene Einzelaspekte blendet aus, dass Migranten und Geflüchtete als marginalisierte Bevölkerungsgruppe bei allen SDGs mitgedacht werden sollten.
Mangelnde Berücksichtigung in Follow-Up und Review
Mit Blick auf die Agenda 2030 wurde ein strukturierter Review-Prozess eingerichtet, in dessen Rahmen Fortschritte und Hürden bei der Umsetzung der SDGs dokumentiert und auf Ebene der Vereinten Nationen (VN) diskutiert werden. Referenzmaßstab für die Erstellung der Review-Dokumente ist ein umfangreicher Katalog an Indikatoren, den die beteiligten Staaten ausgehandelt haben. Mit seiner Hilfe soll die Umsetzung der insgesamt 169 Unterziele überprüft werden. Bei diesem ausgeklügelten Verfahren besteht allerdings die Gefahr, dass Gruppen und Aspekte, die nicht explizit von den Indikatoren erfasst werden, statistisch unsichtbar bleiben. Eben dies ist in Bezug auf Migranten und Geflüchtete zu beobachten.
Veranschaulichen lässt sich das am Beispiel von SDG 11.1, das allen Menschen Zugang zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum verschaffen soll. Dieses Ziel ist insbesondere für irreguläre Migranten und Geflüchtete, die häufig in prekären Unterkünften ohne adäquate Grundversorgung leben, von großer Bedeutung. Der entsprechende Indikator berücksichtigt die Situation dieser Bevölkerungsgruppe aber nicht separat. Etwaige migrationsspezifische Benachteiligungen bleiben daher hinter statistischen Mittelwerten verborgen; für Regierungen ergibt sich aus Ziel 11.1 keinerlei Handlungsdruck, die Wohnverhältnisse von Migranten und Geflüchteten zu verbessern.
Für die SDGs und den Mechanismus ihrer Überprüfung gilt wie für jeden anderen Politikbereich: Es zählt nur, wer gezählt wird. Daher ist die systematische Berücksichtigung migrantischer Bevölkerungsgruppen in Follow-up und Review der Agenda 2030 dringend nötig. Dies wiederum erfordert die Erhebung von nach Migrationsstatus disaggregierten Daten, anhand derer die gegenwärtige Lebenssituation analysiert, Maßnahmen zur Verbesserung konzipiert und Veränderungen nachvollzogen werden könnten.
Datenbedarf und potentielle Datenquellen
Im Zuge der großen politischen und medialen Aufmerksamkeit für die Themen Migration und Flucht sind Forderungen nach einer Verbesserung der Datenlage omnipräsent – ihr ist etwa die erste Zielsetzung des Globalen Pakts für Sichere, Geordnete und Reguläre Migration gewidmet. In der öffentlichen Debatte steht dabei die möglichst lückenlose Erfassung von Migrationsbewegungen im Vordergrund. Für die Umsetzung der Agenda 2030 sind dagegen sozioökonomische Daten zur Lebenssituation migrantischer Bevölkerungsgruppen ausschlaggebend. Bislang werden solche Daten aber in kaum einem Land systematisch erhoben. Allerdings gibt es eine Reihe von Datensätzen, die relevante Informationen enthalten. Diese unterscheiden sich in ihrer Reichweite und Fähigkeit, verschiedene Arten von Informationen zu erfassen. Daher bilden sie jeweils nur einen Teil der Realität ab.
Zensusdaten, also die Ergebnisse von Volkszählungen, können eine wichtige Quelle sein, um die Größe der migrantischen Bevölkerung und ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung zu messen. Sie liefern jedoch keine detaillierten Informationen über die Gründe für Migration oder den Lebensstandard von Migranten. Zudem werden Geflüchtete nur in Ausnahmefällen berücksichtigt. Dem Vorteil der flächendeckenden Erhebung steht der Nachteil der großen Zeitabstände entgegen – Zensusdaten werden meist nur alle zehn Jahre erhoben.
Daten aus nationalen Verwaltungsregistern eignen sich deutlich besser zur Erfassung kontinuierlicher Migrationsbewegungen, sind aber oft nicht länderübergreifend vergleichbar. Binnenvertriebene und irreguläre Migranten kommen in Verwaltungsregistern in der Regel nicht vor.
Stichprobenerhebungen können migrantische Bevölkerungsgruppen gezielt berücksichtigen. Zudem bieten sie die Möglichkeit, Informationen über die Ursachen und Folgen von Migration und Flucht zu liefern und einen Einblick in die Lebenssituation von irregulären Migranten oder Binnenvertriebenen zu vermitteln, die sonst statistisch oft unsichtbar bleiben. Allerdings geht die Durchführung von Stichprobenerhebungen mit vielfältigen Herausforderungen einher – das betrifft etwa die Wahrung von Anonymität –, und die Ergebnisse sind meist nicht repräsentativ. Zudem sind die so generierten Datensätze in vielen Fällen nicht öffentlich zugänglich, da sie in der Regel von nichtstaatlichen Akteuren erhoben werden.
Hürden bei der Verbesserung der Datenlage
Es gibt eine Reihe von Initiativen zur Verbesserung entwicklungsrelevanter Daten, die eng mit dem SDG-Prozess verbunden sind – unter anderem die Netzwerke Paris21 und Global Partnership for Sustainable Development Data sowie die Group on the Data Revolution der VN. Parallel widmen sich diverse Institutionen speziell der Verbesserung der Datenlage zu Flucht und Migration, die aber keinen direkten Bezug zum SDG-Prozess haben – etwa das Global Migration Data Analysis Centre der Internationalen Organisation für Migration oder das Joint Data Center on Forced Displacement von VN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und Weltbank. Aufgrund der mangelnden Integration dieser migrationsspezifischen Dateninitiativen in den übergreifenden SDG-Prozess ist ihr Beitrag zum Review und Follow-Up der Agenda 2030 aber begrenzt. Zusätzlich zu der unzulänglichen Koordination dieser Prozesse erschweren drei Faktoren die Verbesserung der Datenlage im Bereich Migration. Erstens mangelt es in den meisten Ländern an personellen und finanziellen Ressourcen, um entsprechende Daten zu sammeln und zu analysieren. In diesem Sinne hebt SDG 17.18 die Notwendigkeit hervor, in Entwicklungsländern Kapazitäten für die Datensammlung auszubauen. Zweitens lassen sich die in unterschiedlichen Ländern erhobenen migrationsbezogenen Daten kaum miteinander vergleichen – trotz konkreter Empfehlungen der VN zu einer schrittweisen Harmonisierung gibt es bisher keine international gültige Definition unterschiedlicher Arten von Migration. Solange aber die Migrationsstatistiken nicht vereinheitlicht werden, sind die Größe der migrantischen Bevölkerung und Veränderungen ihres Wohlergehens schwer zu messen. Und drittens fehlt in vielen Ländern aus Angst vor Reputationsverlusten oder internationaler Kritik der politische Wille, die oftmals schlechten Lebensbedingungen migrantischer Bevölkerungsgruppen offenzulegen.
Dekade der Umsetzung – aber wie?
Fünf Jahre nach Verabschiedung der SDGs gilt der bis 2030 verbleibende Zeitraum auf VN-Ebene nun als »decade of action and delivery« – als Dekade der Umsetzung. Mehr und mehr setzt sich die Einsicht durch, dass die Erhebung von Daten, die nach Migrationsstatus disaggregiert sind, eine essentielle Voraussetzung für die Überprüfung und Umsetzung der Agenda 2030 darstellt. So wünschenswert es wäre, diese Voraussetzung für alle SDG-Indikatoren zu schaffen: Der damit einhergehende technische und administrative Aufwand würde die Ressourcen und Kapazitäten nationaler Institutionen überfordern. Einen gangbaren Weg aus diesem Dilemma hat die Inter-Agency and Expert Group on SDG Indicators aufgezeigt: Sie empfiehlt eine Sammlung von nach Migrationsstatus disaggregierten Daten hinsichtlich einer überschaubaren Anzahl von SDGs, die für migrantische Bevölkerungsgruppen von besonderer Relevanz sind. Priorität für Migranten haben der Zugang zu staatlichen Grundleistungen in Bildung und Gesundheitsversorgung, Arbeit und der Schutz von Arbeitnehmerrechten, Antidiskriminierungsmaßnahmen, die Eindämmung xenophober Gewalt und der Zugang zu Information. Für Geflüchtete stehen Grundbedürfnisse und Wohnen, Einkommensmöglichkeiten und wirtschaftliche Selbständigkeit sowie politische und Bürgerrechte im Vordergrund. Unter den derzeitigen Umständen wäre eine solche Schwerpunktsetzung ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber sollte aber nicht das langfristige Ziel vergessen werden, in allen Bevölkerungsdaten den Migrationsstatus standardisiert zu erfassen, um Benachteiligungen erkennen und ihnen entgegenwirken zu können.
Empfehlungen für die deutsche Politik
Um zu gewährleisten, dass Migranten und Geflüchtete bei der Umsetzung der Agenda 2030 systematisch berücksichtigt werden, sind nach Migrationsstatus disaggregierte sozioökonomische Daten unerlässlich. Im Interesse einer Verbesserung der Datenlage sollte sich die Bundesregierung in Kooperation mit ihren europäischen Partnern auf folgende Aspekte konzentrieren.
Migrationsdefinitionen harmonisieren und offenlegen. Migrationsdaten lassen sich über Ländergrenzen und Migrationstypen hinweg nur vergleichen, wenn die rechtlichen und administrativen Definitionen harmonisiert werden, die den jeweiligen nationalen Datenerhebungsprozessen zugrunde liegen. Solange eine solche Harmonisierung nicht erreicht ist, sollten die verwendeten Definitionen zumindest offengelegt werden, um die Interpretation der verfügbaren Daten zu erleichtern. Bei Neuerhebungen sollten jene Definitionen und Methoden angewandt werden, die die VN-Statistikkommission und die Expert Group on Refugee and Internally Displaced Persons Statistics (EGRIS) empfehlen.
Datenerhebung gezielt unterstützen. Das Wissen über die sozioökonomische Lage der migrantischen Bevölkerungsgruppen muss durch gezielte Datenerhebungen gemehrt werden. Hierzu sollten die personellen und finanziellen Kapazitäten der nationalen Statistikbehörden in Partnerländern systematisch gestärkt werden. Besonders relevant ist dies mit Blick auf Binnenvertriebene und irreguläre Migranten: Diese machen einen großen Anteil der migrantischen Bevölkerung aus, die Datenlage ist für beide Gruppen aber hochgradig lückenhaft.
Synergien zwischen Dateninitiativen stärken. Die bereits existierenden Initiativen zur Verbesserung der Datenlage im Bereich Migration und Flucht geben Anlass zu Hoffnung. Hier gilt es, Doppelungen zu vermeiden und Synergien zu stärken. Zudem sollten Brücken geschlagen werden zwischen den vielfach noch jungen Zentren für migrationsspezifische Daten und übergeordneten, eng mit dem SDG-Prozess verbundenen Dateninitiativen wie Paris21.
Migrationsexpertise im SDG-Review-Prozess ausbauen. Um künftig Veränderungen in der Lebenssituation von Migranten und Geflüchteten stärker zu berücksichtigen, sollte Migrationsexpertise systematischer als bisher in den Review-Prozess eingebunden werden. Die Bundesregierung könnte dies in unterschiedlichen Kontexten anregen – etwa bei den halbjährlichen Zusammenkünften des Netzwerks Partners for Review und den von der Abteilung für Wirtschaft und Soziales der VN (UNDESA) organisierten Treffen zur Vorbereitung der Reviews, die jährlich in New York beim High-level Political Forum stattfinden.
Dr. Anne Koch ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Dr. Jana Kuhnt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in dem Forschungsprogramm »Transformation politischer (Un-)Ordnung«.
Der Text dieses SWP-Aktuells erscheint auch als Publikation des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) in der Reihe »Analysen und Stellungnahmen«. Die Publikation wurde im Rahmen von Forschungsprojekten erstellt, die mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) realisiert wurden.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A55