Die Expansion der Libysch-Arabischen Streitkräfte Khalifa Haftars im Süden Libyens verändert die Kräfteverhältnisse im Land und untergräbt die Bemühungen der Vereinten Nationen (VN), den gewaltsamen Konflikt politisch zu lösen. Indem Haftar an Macht gewinnt, schwindet seine Bereitschaft für Zugeständnisse. Zentrale Akteure in Westlibyen sehen ihn nun als existentielle Bedrohung an. Bisher hat sich die Einheitsregierung in Tripolis Haftar gegenüber ambivalent verhalten, obwohl er sie offen ablehnt. Verbündete wie auch Gegner Haftars werden sie jetzt dazu drängen, Position zu beziehen. Die neue Konstellation birgt erhöhtes Eskalationspotenzial. Ohne eine stabile Kräftebalance wird es keine Verhandlungslösung geben können.
Im Januar und Februar 2019 übernahmen Haftars Kräfte im Süden Libyens die Städte Sabha und Ubari sowie zwei der größten Ölfelder des Landes: Sharara und El Fil. Sie fanden in der Bevölkerung breite Unterstützung und trafen kaum auf nennenswerten Widerstand. Lokale bewaffnete Gruppen liefen entweder zu Haftar über oder verhielten sich ruhig. Haftars erstaunliche Erfolge im Süden erklären sich in erster Linie daraus, dass die Einheitsregierung die Region lange vernachlässigt hat. Da Unsicherheit grassiert und öffentliche Dienstleistungen kollabiert sind, begrüßte es ein Großteil der lokalen Bevölkerung, dass Haftar die Ordnung wiederherzustellen versprach. Sein Vormarsch bewegte die Einheitsregierung dazu, einen Kommandeur für die südliche Militärregion zu ernennen und Kräfte aus dem Norden mit dem Schutz des Ölfelds Sharara zu beauftragen. Doch diese Maßnahmen schlugen fehl, denn sie drohten einen politischen Konflikt im Süden hervorzurufen, während Haftar versprach, die langersehnte Stabilität herbeizuführen.
Haftars Übernahme des Kernlandes der Provinz Fezzan ist die erste wesentliche Veränderung in der Machtbalance, seitdem er im Juni 2017 in die Region Jufra im Zentrum Libyens expandierte. Von da ab herrschte ein fragiler Status quo. Haftar war nicht in der Lage, weiter vorzustoßen; und die Einheitsregierung war gelähmt von der Konkurrenz ihrer unterschiedlichen – meist westlibyschen – Interessengruppen. In dieser Periode war Libyen zwar formell weiterhin zwischen zwei Regierungen gespalten, denen sich jeweils eine Zentralbank und eine Armeeführung zuordneten. Tatsächlich aber waren beide Lager durch ambivalente Beziehungen verbunden. Haftar ließ Ölexporte von Häfen im Osten des Landes zu, obwohl die Einnahmen der Zentralbank in Tripolis zuflossen. Die Einheitsregierung bezahlte die Gehälter zahlreicher Angestellter der Regierung im Osten, darunter auch Militärs in den Verbänden Haftars. Indessen blieben die VN bei ihren Bemühungen um Haftars Einbindung in eine gemeinsame Exekutive mit der Aufgabe konfrontiert, zwischen dessen Maximalforderungen und dem Bewusstsein der Einheitsregierung zu vermitteln, dass allein sie internationale Anerkennung genoss.
Haftars Expansion im Süden hat diesen Zustand beendet. Er besitzt nun die Oberhoheit über nahezu die gesamte libysche Erdölproduktion und den Großteil des Staatsgebiets außerhalb Tripolitaniens. Libysche und internationale Akteure bewerten jetzt seine Chancen neu, in Tripolis die Macht zu ergreifen. Zugleich dürfte in der veränderten Konstellation der seit langem stockende, von den VN geführte politische Prozess endgültig scheitern. Haftars Weigerung, sich ziviler Gewalt unterzuordnen, war lange ein Haupthindernis für ein politisches Abkommen gewesen. Da die gegenwärtige Dynamik weitere militärische Veränderungen erwarten lässt, ist Haftar nun noch weniger kompromissbereit. Westlibysche Kräfte, die seine Machtübernahme als existentielle Bedrohung ansehen, hegen jetzt noch größere Vorbehalte gegen seine Integration in eine Einheitsregierung. Denn dies würde Haftar Zugang zu staatlichen Ressourcen eröffnen, mit denen er seine militärische Macht weiter ausbauen könnte. In dieser Situation vermag kein Abkommen seine Macht glaubwürdig einzuschränken. Militärische Entwicklungen werden nun Verhandlungen in den Hintergrund treten lassen.
Konflikt im Süden
Trotz Haftars Erfolgen bleibt der Süden umstrittenes Gebiet. Seine Autorität in den neu gewonnenen Städten ist noch schwach. Er hat bislang nur in begrenztem Umfang Truppen in den Süden verlegt. Stattdessen setzte er vor allem auf die Kooperation oder Käuflichkeit lokaler bewaffneter Gruppen. Die Bevölkerung des Südens ist schwer bewaffnet. Haftar wird bei der Verfolgung politischer Gegner umsichtiger vorgehen müssen, als er das im Osten Libyens getan hat.
Das größte Hindernis für Haftars uneingeschränkte Herrschaft über den Süden bilden Teile der Ethnie der Tubu. Um ihren Kooperationswillen zu beweisen, hatten bewaffnete Gruppen der Tubu ihre Stellungen in Sabha Haftars Verbänden übergeben, was Letztere jedoch als »Eroberung« dieser Positionen darstellten. Bei der Übernahme Sabhas stützten sich Haftars Verbände zudem auf Milizen der Awlad Suleiman, die seit 2012 mehrmals mit bewaffneten Gruppen der Tubu offene Konflikte ausgetragen hatten. Für Verstimmung unter Tubu-Führern sorgte auch die Darstellung der Haftar unterstützenden Medien, es gehe bei der Offensive darum, »tschadische Banden« zu bekämpfen. Zwar waren tschadische und sudanesische Gruppen in den letzten Jahren tatsächlich zu einem Faktor wachsender Unsicherheit im Süden geworden. Der Begriff »tschadische Banden« hatte aber schon in den Konflikten in Sabha seit 2012 als Code für – sowohl libysche als auch tschadische – Tubu gedient. Die Formulierung kann kaum für bare Münze genommen werden – schließlich ist Haftar selbst führender Kommandeur tschadischer und sudanesischer Kämpfer in Libyen.
Haftars Strategie für die Übernahme Sabhas empörte daher auch viele Tubu, die ihn zuvor unterstützt hatten. Bewaffnete Gruppen der Tubu leisteten entsprechend hartnäckigen Widerstand gegen die Verbände Haftars in Murzuq. Ungewiss bleibt, ob Haftar Uneinigkeit in den Reihen der Tubu ausnutzen kann, um diesen Widerstand zu überwinden. Sollte er die Unterstützung einflussreicher Tubu-Kommandeure gewinnen, könnten seine Gegner und die mit ihnen assoziierten tschadischen Kämpfer gezwungen sein, sich in die Nachbarstaaten Niger oder Tschad abzusetzen – was sich destabilisierend auf diese Länder auswirken würde. Sollte sich der Konflikt dagegen entlang ethnischer Linien verhärten, würde das seine Intensität steigern und verhindern, dass Haftar die Kontrolle über die Südgrenze erringt. Haftars Gegner in Westlibyen könnten den Widerstand der Tubu unterstützen: So erwägen Kommandeure in Misrata einen Vorstoß in die Region Jufra, um Haftar den Nachschub für den Süden abzuschneiden. Eine solche Offensive wäre mit der Gefahr breitflächiger Eskalation verbunden.
Szenarien
Ein weiteres Vorrücken Haftars im Süden hätte weitreichende Folgen für Westlibyen. Haftar konnte bislang in den großen Bevölkerungszentren des Nordwestens kaum Fuß fassen und stand noch keinem der militärischen Schwergewichte Libyens gegenüber: weder den bewaffneten Gruppen Misratas und Zintans noch jenen der Amazigh-Städte oder den Milizen in Tripolis. Diese Kräfte und die Gemeinschaften, aus denen sie kommen, lehnen die Machtübernahme durch einen Militärherrscher meist vehement ab. Sie haben Haftars Expansion im Süden mit wachsender Besorgnis verfolgt und bereiten sich nun auf die Abwehr möglicher Vorstöße Haftars nach Tripolitanien vor.
Allerdings sind die Städte Westlibyens politisch gespalten. Sie beherbergen jeweils mehrere bewaffnete Gruppen. Solche konkurrierenden Akteure werden ihre Position gegenüber Haftar nicht nur daran ausrichten, welche Chancen sie ihm einräumen, die Macht zu ergreifen, sondern auch an den Vorteilen, die sie sich vor Ort von ihrer Positionierung erhoffen. Lokale Positionswechsel sind potentiell von großer Bedeutung: In Zintan etwa steht das Gros der Kräfte Haftar gegenwärtig feindlich gegenüber; die öffentliche Meinung in der Stadt ist jedoch geteilt.
Gruppen aus den unterschiedlichen Städten konkurrieren in Tripolis um Einfluss. Dort droht ständig die Gefahr einer Eskalation. Politische und militärische Akteure beäugen sich kritisch und verdächtigen sich gegenseitig, mit Haftar zu konspirieren.
In dieser Lage sind zwei Szenarien denkbar. Im ersten schließen westlibysche Kräfte die Reihen gegen die Bedrohung, die von einer Expansion Haftars in Richtung Tripolis ausgeht. In Gesprächen mit Akteuren in Tripolis und Misrata im Februar 2019 war diese Tendenz schon erkennbar. Doch wäre dies kein einfaches Unterfangen. Insbesondere die Milizen von Tripolis liefern sich mit den bewaffneten Gruppen Misratas einen Machtkampf um die Verteilung von Pfründen in der Hauptstadt. Anlass für eine Einigung der Kräfte in Tripolitanien könnte sein, dass Haftar die Kontrolle über eine Stadt erringt, von der aus er Tripolis bedrohen kann – etwa Tarhuna oder Zawiya. Sollten sich die Kräfte Tripolitaniens darauf einigen, Haftar Widerstand zu leisten, wäre die Einheitsregierung gezwungen, ihm gegenüber einen härteren Kurs einzuschlagen. Im Gegenzug könnte Haftar die Erdölexporte blockieren und der Zentralbank in Tripolis damit die Einnahmen vorenthalten.
Im zweiten Szenario schließt sich eine zusehends größere Anzahl von Akteuren in Westlibyen dem Lager Haftars an. Da sie erwarten, dass er die Macht ergreift, möchten sie auf diese Weise eine Stellung in der neuen Machtstruktur ergattern. Das könnte geschehen, wenn sich in mehreren Städten Kräfte auf die Seite Haftars stellen, ohne gleich die Kontrolle über diese Städte zu gewinnen. Die Folge dürften wachsende Spannungen innerhalb und zwischen Gemeinschaften sein. Für die Einheitsregierung würde es zudem schwieriger, eine klare Position gegenüber Haftar zu beziehen. Die Regierung würde vermutlich die Unterstützung wichtiger militärischer Kräfte in Tripolitanien verlieren.
Haftar wird auf das zweite Szenario hinarbeiten. Er dürfte versuchen, langsam vorzurücken, indem er Uneinigkeit unter seinen Gegnern ausnutzt und sich Loyalität erkauft. Außerhalb Ostlibyens hat Haftar eine direkte Konfrontation mit anderen Kräften meist vermieden. So hat er seine Gegner gezwungen, zu reagieren und die Rolle der Aggressoren zu übernehmen.
Eine weitgehend friedliche Übernahme ganzer Landstriche wie im Süden ist in Westlibyen jedoch ausgeschlossen. Die bewaffneten Gruppen im Süden haben sich seit 2011 meist opportunistisch mit unterschiedlichen Lagern assoziiert, Haftars Einzug stellte nur für wenige lokale Akteure eine existentielle Bedrohung dar. Im Westen dagegen gibt es in mehreren Städten bedeutende militärische Kräfte, die tief ins soziale Gewebe eingebettet sind. Sie gehen auf den Krieg gegen das Qadhafi-Regime 2011 zurück und lehnen autoritäre Herrschaft ab. Sie müssen befürchten, dass sie nach einer Machtübernahme Haftars harter Repression ausgesetzt wären. Und schließlich würde ein Vorrücken Haftars in Tripolitanien unmittelbar die Machtfrage aufwerfen. Jeder Versuch Haftars, die Kontrolle über Tripolis zu erlangen, hätte deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit einen großflächigen und langwierigen Konflikt zur Folge.
Was nun?
Westliche Regierungen sind während der jüngsten Entwicklungen in Libyen auffällig wortkarg geblieben. Zu einem Zeitpunkt, als Haftar erstmals eine realistische Chance zu haben scheint, die Macht zu ergreifen, möchten sie ihre Beziehungen mit ihm nicht belasten. Frankreich unterstützt Haftars Offensive im Süden und hat gemeinsame kritische Erklärungen westlicher Regierungen dazu verhindert. Die Verlautbarungen der VN-Unterstützungsmission in Libyen schwanken zwischen gedämpfter Besorgnis und offener Unterstützung.
Diese laxe Einstellung gegenüber bedeutenden Veränderungen im militärischen Kräftegleichgewicht macht eine größere Eskalation in Westlibyen wahrscheinlicher. Zudem schmälert sie die Chancen einer Verhandlungslösung, da sie das Vertrauen in die Fähigkeit internationaler Akteure untergräbt, für die Umsetzung eines politischen Abkommens zu bürgen. Sie verrät auch ein irriges Verständnis von Realpolitik. Ein Sieg Haftars bleibt unwahrscheinlich und würde einen Konflikt in Tripolitanien bedingen, der an Intensität und Dauer alle Auseinandersetzungen in Libyen seit 2011 übertreffen würde. Sollte es Haftar dennoch gelingen, die Macht zu ergreifen, würde das keine Perspektive langfristiger Stabilisierung eröffnen: Haftar ist 75 Jahre alt, die von ihm geschaffenen Strukturen dürften mit seinem Ableben auseinanderbrechen, da sie hochgradig personalisiert sind und widerstrebende Interessen einschließen – darunter auch die seiner Söhne, die in Haftars Verbänden führende Stellungen innehaben, aber auch weithin unpopulär sind. Mit Haftars Abgang würden zudem die tiefen Gräben zutage treten, die seine Kampagnen im sozialen Gefüge insbesondere im Osten des Landes verursacht haben.
Eine Verhandlungslösung ist derzeit beinahe ebenso unwahrscheinlich wie eine militärische Lösung. Denn sämtliche Akteure – allen voran Haftar – erwarten nun weitere Veränderungen der Kräfteverhältnisse. Um die Chancen einer Einigung zu erhöhen, müssten internationale Akteure dazu beitragen, das Kräftegleichgewicht zu stabilisieren. So müssten sie etwa ernsthaft Druck auf alle Seiten ausüben, damit sie weitere Expansionsversuche und Provokationen unterlassen. Dazu wären nicht nur erneute Bemühungen nötig, ausländische Militärhilfen für Haftar zu unterbinden. Westliche Staaten müssten auch ihre Unterstützung der Einheitsregierung überdenken, falls diese in offenen Konflikt mit Haftar tritt. Eine Verhandlungslösung bedürfte robuster Garantien internationaler Akteure.
Eine Rückkehr an den Verhandlungstisch ist also nur denkbar, wenn westliche Regierungen ihre Haltung ändern. Ein Hindernis für einen solchen Kurswechsel ist ihre Uneinigkeit: die USA sind an Libyen nicht interessiert; zwischen Italien und Frankreich herrscht ein diplomatischer Zwist, der auch in Libyen zum Ausdruck kommt; Paris unterstützt Haftar in Südlibyen im Alleingang. In Anbetracht der möglichen Konsequenzen eines Konflikts in Westlibyen steht für Europa einiges auf dem Spiel – Anlass genug für weit größere Bemühungen um eine gemeinsame Politik mit dem Ziel, eine Eskalation zu verhindern.
Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A12
(Deutsche Übersetzung von SWP Comment 8/2019)