Die vorgezogenen Parlamentswahlen haben Frankreich politisch durcheinandergewirbelt. Kein politisches Bündnis hat einen klaren Regierungsauftrag erhalten. Welche Folgen hat die politische Instabilität für die Innen-, Europa- und Außenpolitik des Landes?
Die Koordination haben Ronja Kempin und Paweł Tokarski übernommen.
Zwei fundamentale Erkenntnisse lassen sich aus den Parlamentswahlen in Frankreich ziehen: Erstens waren weder die Bevölkerung noch die demokratischen Parteien des Landes willens, dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) die Macht zu überlassen. Zweitens hat die Bevölkerung deutlich gemacht, dass sie sich eine pluralistischere Repräsentation wünscht. Der gängigen Praxis vertikaler Machtausübung hat sie eine klare Absage erteilt. Damit ist eine der Grundfesten der V. Republik erschüttert.
Für die politische Klasse des Landes ist der Wählerauftrag „unnatürlich“. In den letzten siebzig Jahren hat sich in Frankreich eine Kultur der politischen Konfrontation, nicht aber der Kooperation etabliert. Den Wahlbündnissen stehen nun drei Möglichkeiten offen. Die erste bestünde darin, eine Koalitionsregierung zu bilden. Das dürfte lange dauern, und die politischen Schnittmengen innerhalb und zwischen den Bündnispartnern der Linken und des Zentrums sind klein. Daher wird eine Zusammenarbeit nur wenige gemeinsame Initiativen auf den Weg bringen. Eine Koalitionsregierung wird das Land eher verwalten als neu gestalten. Die zweite Option – eine Minderheitsregierung – würde das Land politisch weiter destabilisieren. Eine solche Konstellation liefe Gefahr, dauerhaft an der Nationalversammlung zu zerschellen. Aufgrund ständiger Misstrauensvoten aus den Reihen der Abgeordneten würden die Regierungen schnell wechseln. Auch hier bliebe die politische Handlungsfähigkeit auf der Strecke. Als Drittes wäre eine „technische“ Regierung denkbar, in der Minister ohne Parteizugehörigkeit die laufenden Geschäfte führen und einige einvernehmliche Reformen umsetzen würden. Dieser Konstruktion fehlt es aber an demokratischer Legitimität. Sie kann bestenfalls eine Übergangslösung sein.
Somit dürfte das Wahlergebnis, das keiner politischen Strömung eine eindeutige Mehrheit und damit einen klaren Regierungsauftrag verschafft hat, Frankreich in eine Periode des Stillstandes und der politischen Instabilität versetzen. Langfristig davon profitieren dürfte die Wahlverliererin, Marine Le Pen. Zwar wurde sie binnen einer Woche von der Position der vermeintlichen Wahlsiegerin auf den dritten Platz verwiesen. Ungeachtet dessen ist es ihr aber gelungen, das Wahlergebnis ihrer Partei in den vergangenen zwei Jahren deutlich zu verbessern und die Zahl der RN-Abgeordneten in der Nationalversammlung von 89 auf 143 zu steigern.
Frankreichs politisches System befindet sich in einer Übergangsphase. Die V. Republik endet in einem Zustand zwischen Unberechenbarkeit und Lähmung. Ein neues System ist (noch) nicht in Sicht.
Obwohl die Finanzmärkte offensichtlich erleichtert darüber sind, dass der Rassemblement National bei den französischen Parlamentswahlen nur den dritten Platz belegt hat, wird die wirtschaftliche Unsicherheit anhalten, Aussichten für das Wirtschaftswachstum im Jahr 2024 verschlechtern sich. Infolgedessen werden Frankreichs öffentliche Finanzen noch stärker unter Druck geraten.
Die Haushaltslage war bereits vor den Wahlen angespannt. Die EU-Kommission prognostizierte für 2024 ein Defizit von 5,3 Prozent und eine Staatsverschuldung von 112,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, mit steigender Tendenz. Auf den Finanzmärkten herrschte jedoch keine Nervosität, vertraute man doch auf die Stabilität der staatlichen Institutionen, die Bemühungen der aufeinanderfolgenden Regierungen, Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, und auf das Engagement des Eurosystems und der Geschäftsbanken auf dem französischen Anleihemarkt. Die ersten beiden Faktoren entfallen nun, und die Finanzmärkte werden die französische Politik genau beobachten. Die Realität wird die ehrgeizigen Ausgabenpläne des Nouveau Front Populaire (NFP) schnell durchkreuzen. Entscheidend wird sein, ob die künftige parlamentarische Koalition einen Kurs der finanzpolitischen Stabilität einschlägt oder einen der Konfrontation mit Brüssel und den Finanzmärkten. Mit Letzterem ist eher nicht zu rechnen, denn die wachsende Verschuldung und die Kosten des Schuldendienstes werden Frankreich dazu zwingen, umgehend die Staatsausgaben zu reduzieren.
Aus ökonomischer Sicht markiert die Wahl auch symbolisch das Ende von Emmanuel Macron als Reformer. Angesichts eines zersplitterten Parlaments ist kaum vorstellbar, dass Reformen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit umgesetzt werden; es sei denn, die Finanzmärkte würden sie erzwingen. Der kurze und chaotische Wahlkampf hat dazu beigetragen, dass sich die Qualität der öffentlichen Debatte über wirtschaftliche Themen in Frankreich weiter verschlechtert hat. Die Schwerpunkte der Diskussion haben sich von der politischen Mitte noch mehr nach extrem links und rechts verschoben. In ihren Wahlprogrammen boten die Parteien wieder einmal typische Wahlgeschenke an wie Steuersenkungen, Sozialtransfers oder die Rücknahme früherer Wirtschaftsreformen, die unter dem Motto „Stärkung der Kaufkraft der Bürger“ propagiert wurden. Strukturelle Probleme wie Bildungsqualität, Produktivitätssteigerung oder Innovationsförderung kamen kaum zur Sprache. Die französische Wirtschaftspolitik wird zunehmend protektionistisch und etatistisch. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die nächsten Regierungen die Integration des Binnenmarkts enthusiastisch vorantreiben oder neue EU-Handelsabkommen mit Drittstaaten abschließen wollen. All dies wird Paris zu einem noch schwierigeren und unberechenbareren Partner für Berlin machen.
Die Bundesregierung hat erleichtert auf den Ausgang der Parlamentswahlen in Frankreich reagiert. Wäre der rechtsextreme Rassemblement National an die Regierung gelangt, hätte das die deutsch-französische Zusammenarbeit schwer belastet. Seit Jahren äußert sich Marine Le Pen deutschlandkritisch. Das Programm ihrer Partei schreibt fest, bilaterale Vereinbarungen rückgängig zu machen, allen voran in der Rüstungskooperation.
Die deutsch-französischen Beziehungen werden sich aber auch unter den neuen politischen Gegebenheiten verändern. In Frankreich können sich die Fachministerien und die Nationalversammlung mehr Geltung verschaffen. Im semipräsidentiellen System Frankreichs ist der Staatspräsident mit überaus starken exekutiven und legislativen Kompetenzen ausgestattet. Das Parlament ist vergleichsweise schwach. Dort verfügt die Partei des Präsidenten gemeinhin über eine absolute Mehrheit. Die Rolle des Parlaments ist darauf reduziert, die Gesetzesvorschläge des Elysée-Palastes abzusegnen.
Weil die politischen Systeme unterschiedlich sind, herrscht eine Asymmetrie in den deutsch-französischen Beziehungen. Kommt es in Frankreich zu einer Koalitionsregierung, wäre das Land mit einer neuen Form der Cohabitation konfrontiert: einer „halben Cohabitation“. Darin könnten die französischen Ressorts freier agieren, während die Gestaltungsoptionen des Elysée-Palastes geschmälert wären. Eine solche Konstellation eröffnet deutschen Bundesministerien neue, direkte Wege für intensivere bilaterale Zusammenarbeit. Die stärkere Autonomie der französischen Ministerien ließe sich rasch nutzen, um gemeinsame Initiativen voranzutreiben. Auf parlamentarischer Ebene erhielte die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung mehr Gewicht. Der Bedeutungszuwachs der Assemblée Nationale bietet diesem Gremium neue Möglichkeiten, die politische Agenda in beiden Ländern zu beeinflussen. Der Deutsche Bundestag sollte diese Chance ergreifen.
Gelingt es Deutschland, zügig auf diese politische Gewichtsverschiebung in Frankreich zu reagieren, ließen sich Streitthemen möglicherweise frühzeitig entschärfen. In Frankreich lehnt etwa die Neue Volksfront die Maastricht-Kriterien ebenso strikt ab wie Freihandelsabkommen. Stattdessen fordert sie eine Reindustrialisierung und eine gezielte Förderung von Schlüsselindustrien in Europa. Gleichzeitig dürfte eine französische Koalitionsregierung neue Gelegenheiten der Zusammenarbeit bieten. Die Übereinstimmungen scheinen von feministischer Außenpolitik über die Umsetzung des Green Deals der EU bis zur Erweiterungspolitik zu reichen. Auch eine Stärkung des Weimarer Dreiecks wäre möglich, nicht zuletzt mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine.
Gewaltig ins Stottern geriete der Motor allerdings, wenn die Regierungslage in Frankreich instabil bleibt. Dann wäre Deutschland gefordert, zusammen mit anderen Partnern die EU voranzubringen. Es hat dann die Hauptlast der politischen und finanziellen Kosten der EU-Integration zu tragen.
Die absehbar schwierige Regierungsbildung in Paris wird für Frankreichs Stellung innerhalb der EU-Institutionen eine Schwächung bedeuten und für die EU das Aufkommen eines zusätzlichen Veto-Spielers. Im Regelfall nimmt der Präsident die zentrale Rolle in der französischen Europapolitik und der Vertretung in den EU-Institutionen ein. Im Falle einer Cohabitation ist diese Aufgabe geteilt, ihre Ausübung allerdings rechtlich kaum geregelt und in der Vergangenheit eher Resultat politischer Aushandlungsprozesse gewesen, mit einem Vorteil beim Premierminister.
Am deutlichsten zeigt sich dies im Ratssystem: Auf oberster politischer Ebene, im Europäischen Rat, vertritt der Präsident weiterhin Frankreich; in allen Ratsformationen auf Ministerebene und den vorbereitenden Ratsarbeitsgruppen, einschließlich des Ausschusses der Ständigen Vertreter, ist es hingegen die französische Regierung. Bei der Definition der französischen Position zu grundlegenden EU-Entscheidungen im Europäischen Rat wird Emmanuel Macron also eine geschwächte Rolle spielen. In früheren Cohabitationen wurden die Präsidenten Mitterrand und Chirac auch bei EU-Verhandlungen im Europäischen Rat in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt. Bei der EU-Gesetzgebung und den meisten Beschlüssen zur Außen- und Sicherheitspolitik (etwa Sanktionen) oder zum EU-Haushalt aber wird die – gewichtige – Stimme Frankreichs im Rat der EU von der noch zu bildenden Regierung bestimmt.
Ein erster Test der Bereitschaft zur Verständigung wird die Nominierung des nächsten französischen Kommissionsmitglieds sein. Diese steht nach der Abstimmung über Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin im EU-Parlament an. Das EU-Recht schreibt nur vor, dass die Nominierung vom jeweiligen Mitgliedstaat erfolgt, die französische Verfassung macht dazu ebenfalls keine Vorgaben. Bei früheren Cohabitationen hatte Frankreich noch zwei Kommissionsposten, die zwischen dem Präsidenten und der Regierung aufgeteilt werden konnten. Dies ist nun nicht mehr der Fall. Allerdings hat sich Präsident Macron Medienberichten zufolge bereits dafür ausgesprochen, Thierry Breton erneut zu nominieren. Die Besetzung des wichtigen Kommissionspostens dürfte daher Teil der komplexen Regierungsbildung werden.
Relevant werden könnte zuletzt auch die Mehrheitsbildung in der Assemblée Nationale. Denn größere Reformvorhaben wie etwa die Nutzung von Passerelle-Klauseln zur Ausweitung des Anwendungsbereichs qualifizierter Mehrheiten, die Anpassung von EU-Eigenmitteln oder die Ausgabe von EU-Anleihen, wie für den Wiederaufbaufonds, erfordern die Zustimmung nationaler Parlamente. Üblicherweise kann der französische Präsident hier auf EU-Ebene Ratifizierungen mit der eigenen Mehrheit weitgehend garantieren. Künftig ist er von einem Arrangement mit den Parlamentsfraktionen abhängig.
Frankreich ist die zweitgrößte Volkswirtschaft in der Eurozone und einer der größten Staatsschuldenmärkte der Welt. Laut dem nationalen Statistikinstitut INSEE lag die Verschuldung des französischen Staates Ende 2023 bei 3,1 Billionen Euro. Politische Unsicherheit wird die Kosten für den Schuldendienst hochtreiben. Angesichts seiner Größe ist die Stabilität des französischen Schuldenmarktes entscheidend für die gesamte Eurozone. Ein Mangel an Vertrauen könnte schnell auf andere Länder der Eurozone übergreifen, vor allem auf Italien, das derzeit mit hoher Staatsverschuldung zu kämpfen hat. Deshalb wird es darauf ankommen, ob die stärkste politische Kraft in der Nationalversammlung, der Nouveau Front Populaire, im Falle einer Regierungsbeteiligung ihren Widerstand gegen die EU-Haushaltsregeln aufrechterhalten oder aufgeben wird. Wichtig wird auch sein, wer künftig Frankreichs Wirtschafts- und Finanzministerium leitet. Am 9. Juli 2024 schlug die Europäische Kommission vor, ein Defizitverfahren gegen Frankreich und sechs weitere Länder der Eurozone einzuleiten. Das würde Verhandlungen mit Brüssel über die Verabschiedung eines Ausgabenkürzungsplans erfordern. Diese Sparmaßnahmen könnten sich als sehr schwierig erweisen, da die Erwartungen der Öffentlichkeit völlig andere sind. Es wird unmöglich sein, Wahlversprechen wie neue Ausgaben oder Steuersenkungen zu erfüllen, ohne das kürzlich ausgehandelte System der EU-Fiskalregeln zu sprengen.
Die wirtschaftspolitische Ausrichtung der künftigen Regierung wird auch für die Europäische Zentralbank (EZB) von Bedeutung sein. Das Instrument zur Intervention am Schuldenmarkt (Transmission Protection Instrument, TPI) kann nur aktiviert werden, wenn die Regierung die Empfehlungen der Europäischen Kommission beherzigt und eine nachhaltige makroökonomische und fiskalische Politik verfolgt. In jedem Fall ist das Eurosystem durch sein Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme, APP) auf dem französischen Schuldenmarkt präsent. Das Eurosystem reinvestiert weiterhin die Kapitalrückzahlungen aus fällig werdenden Wertpapieren, die im Rahmen des APP erworben wurden, einschließlich französischer Staatsanleihen. Eine mögliche Konfrontation zwischen Paris und Brüssel über die Haushaltspolitik könnte zum Problem für die EZB werden, die dann politisch handeln müsste, um Druck auf Frankreich auszuüben. Die Risiken eines politischen Chaos an der Seine würden auf die gesamte Eurozone ausstrahlen. Es ist zu hoffen, dass alle an der politischen Auseinandersetzung in Frankreich beteiligten Parteien das erkennen.
Die unerwartete Niederlage des Rassemblement National (RN) bei den französischen Parlamentswahlen hat vorerst verhindert, dass sich in Frankreich radikale Vorhaben in der Migrations- und Sicherheitspolitik durchsetzen und Paris offen mit EU-Recht bricht. Es ist aber vollkommen ungewiss, wie eine neue Regierungskoalition oder Minderheitsregierung mit diesen zentralen Streitthemen umgehen wird.
Macron und seine Partei Renaissance sind auf nationaler Ebene weitgehend mit ihrem Versuch gescheitert, die Debatte über Zuwanderung und innere Sicherheit durch einen rechtskonservativen Kurs zu entschärfen. Der RN und andere politische Akteure rechts der Mitte konzentrieren sich propagandistisch unbeirrt auf die angeblich existenzielle Bedrohung Frankreichs durch Zuwanderung, während die Parteien des Nouveau Front Populaire (NFP) gehalten sind, durch die Betonung von Diversität und die Ablehnung von Rassismus innere Widersprüche zu überbrücken. So fordert der NFP die Aufhebung des französischen Einwanderungsgesetzes, das Macron und Renaissance nach langen Auseinandersetzungen erst im Januar dieses Jahres verabschiedet haben. Zudem befürwortet das Linksbündnis die Einführung eines klimabedingten Schutztitels, ein Agendapunkt, der den scharfen Gegensatz zum Rechtskonservatismus unterstreicht.
Derweil stellt der Umgang mit Antisemitismus und dem politischen Islam die innere Sicherheit Frankreichs mehr denn je in Frage. Insbesondere bei La France insoumise sind Aussagen zu vernehmen, die andernorts als eindeutig antisemitisch bewertet würden, während die französische Rechte immer schärfer den „Islamo-Gauchisme“ skandalisiert, sprich eine vermeintliche Allianz zwischen Islamismus und linker Ideologie. Eine weitere Zuspitzung droht, wenn bei den Olympischen Spielen in diesem Sommer terroristische Anschläge verübt werden – oder je nachdem, was demnächst im Nahen Osten geschieht.
Der NFP wird auf EU-Ebene kaum in der Lage sein, den überwiegend restriktiven Migrationspakt in seinem Sinne anzupassen. Es ist aber damit zu rechnen, dass die neue EP-Fraktion „Patrioten für Europa“ die europapolitische Debatte weiter nach rechtsaußen treiben wird. Jordan Bardella wird als gescheiterter Anwärter auf das Amt des französischen Ministerpräsidenten die Bühne als Vorsitzender der drittgrößten Fraktion im Europäischen Parlament nutzen wollen.
Die Schlappe des RN und die jüngsten Wahlergebnisse in Skandinavien und Großbritannien könnten dennoch als Indiz dafür genommen werden, dass sozioökonomische Themen gegenüber kulturellen und demografischen wieder im Aufwind sind. Dies gilt es in Deutschland aufmerksam zu verfolgen, wo ebenso intensiv über die richtige Strategie für den Umgang mit Migration und Rechtspopulismus gestritten wird.
Da jedwede französische Regierungspolitik den gesellschaftlich sensiblen Agrarsektor auch handelspolitisch immer schon geschützt hat, sind in diesem Politikkomplex unabhängig von der Regierungsbildung kaum Änderungen zu erwarten.
Ein agrarpolitisches Ziel hat durch die in diesem Jahr besonders heftigen Bauernproteste in Frankreich noch an Bedeutung gewonnen: die Sicherung der landwirtschaftlichen Einkommen. Seit 2018 sollen Branchenvereinbarungen zwischen Erzeugern, Verarbeitern und Lebensmittelhandel kostendeckende Auszahlungspreise gegen steigende Produktionskosten absichern, wie jüngst etwa bei Strom und Futter. Die Parteien sind uneins darüber, ob und wie stark der Staat Preise absichern sollte. Umweltregelungen versteht der Rassemblement National eher als Wettbewerbsbelastung und unterstützt beispielsweise Wasserspeicherbecken, die bei immer häufiger auftretenden Dürren Ernteverlusten entgegenwirken sollen. Der Nouveau Front Populaire, der größere ökologische Ambitionen hat, lehnt diese Becken wegen der Grundwasserbelastung ab. Alle Parteien aber verfechten das nicht näher definierte Leitbild der „Ernährungssouveränität“, die Staatspräsident Macron mehrfach in seiner zweiten Rede zur Zukunft Europas an der Sorbonne erwähnte.
In der Handelspolitik ist Frankreichs kritische Haltung seit langem bekannt: Ernährungssouveränität meint hier politische Autonomie im Sinne der Behauptung eigener Interessen und Sorgen um Ernährungsbelange gegenüber dem Ausland. Es geht aber auch um den Schutz der eigenen Produktion gegen Wettbewerber. Die Positionen der Parteien reichen von kompletter Ablehnung neuer Abkommen bis hin zu deren Konditionalisierung in dem Sinne, dass eigene Produktionsregeln eingehalten werden.
Wie sich diese Position auf Europas Agrar- und Handelspolitik auswirken wird, hängt vom sich neu ausrichtenden Brüsseler Gefüge ab: Die alte EU-Kommission verstand Handelsabkommen als wichtiges Mittel, um das neuerdings betonte Ziel wirtschaftlicher Sicherheit zu erreichen. Neben Frankreich haben viele andere Mitgliedstaaten solche Abkommen bislang abgelehnt, etwa das EU-Mercosur-Abkommen. Ob sich dem französischen Widerstand weitere Gleichgesinnte anschließen, was Verhandlungen zusätzlich erschweren würde, wird sich zeigen.
Gleiches gilt für eine gemeinsame Agrarpolitik nach 2027, die eine neue EU-Kommission 2025 anstoßen wird. Sie muss Green-Deal-Anforderungen und den auch in Brüssel erkennbaren Fokus auf Einkommens- und Produktionsschutz ausbalancieren – alles mit Blick auf einen künftigen Beitritt des Agrarriesen Ukraine. Frankreich profitiert mit 9 Milliarden Euro (2021) am meisten von der aktuellen EU-Agrarpolitik. Seine Staatsverschuldung ist hoch, gleichzeitig finden es die Regierenden wichtig, Landwirt:innen finanziell zu unterstützen. Reformimpulse, die Gestalt und Budget ändern, wird es aus Frankreich daher kaum geben.
Präsident Macron hat im Laufe des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eine Wende in der französischen Haltung zur EU-Erweiterung vollzogen. Traditionell gehört Frankreich zum erweiterungsskeptischen Lager und sieht Referenda über die Aufnahme neuer Länder vor. Aus Sorge um seinen bestimmenden Einfluss auf Richtung und Tempo des Integrationsprozesses stand Paris bei früheren Erweiterungsrunden wiederholt auf der Bremse. Im Mai 2023 stellte sich Macron jedoch an die Spitze der Befürworter einer schnellen Erweiterung – bewirkt hat diesen Sinneswandel der Krieg. Jetzt ist mit einer halben Rolle rückwärts zu rechnen.
Die geopolitische Argumentation und die explizit antirussische Stoßrichtung der nächsten Erweiterung teilen weder der Rassemblement National und diejenigen Republikaner, die mit ihm alliiert sind, noch die linkspopulistische La France insoumise. Sie alle lehnen die Erweiterung ab, auch weil sich die Kräfteverhältnisse in der EU weiter nach Berlin und zum östlichen Europa hin verschieben würden.
Eine Koalition ohne La France insoumise würde zwar die Weichenstelllungen für die Aufnahme der Westbalkan-Länder sowie der Ukraine und Moldau akzeptieren, dürfte aber die sozialen und wirtschaftlichen Kosten für Frankreich hoch veranschlagen. Gerade erst haben die EU-Staaten eine schrittweise Integration der Beitrittsländer vereinbart. Diese sollen schon vor der Mitgliedschaft zügig privilegierte Zugänge zum Binnenmarkt oder zu EU-Geldern erhalten. Eingedenk der Proteste der Gelbwesten und der Bauern wird die neue französische Regierung den heimischen Markt vor Konkurrenz aus den Beitrittsländern schützen wollen – ob bei Waren, Dienstleistungen oder Arbeitskräften. Es ist absehbar, dass Frankreich in den Beitrittsverhandlungen und bei den praktischen Integrationsschritten die Kosten eher kurz- als mittelfristig kalkulieren und seine nationalen Interessen hart vertreten wird. Dennoch muss es nicht zu aufsehenerregenden politischen Blockaden kommen, da die Europäische Kommission die schrittweise Integration so technokratisch wie möglich gestalten und damit der politischen Ebene entziehen will.
Bis zu den Präsidentschaftswahlen 2027 dürften ohnehin kaum Entscheidungen über den Abschluss von Beitrittsverhandlungen anstehen, wohl aber über deren Eröffnung mit Georgien und Bosnien-Herzegowina. Ebenso könnten Fragen zur Zollunion mit Ankara neu auf die Tagesordnung kommen. Bei Grundsatzentscheidungen und bei Uneinigkeit wird der Europäische Rat als letzte Entscheidungsinstanz angerufen. Dann wäre Macron gefragt, der sich ungewohnterweise mit „seiner Regierung“ abstimmen müsste. Für Berlin wird Paris ein noch schwierigerer Partner, wenn es gilt, die Agenda Erweiterung und Reform durchzusetzen.
Im Laufe der letzten Monate hat Präsident Emmanuel Macron mit Blick auf den Krieg in der Ukraine eine immer entschlossenere Linie verfolgt. Vor den Europawahlen Anfang Juni versprach er zum Beispiel, Militärausbilder in die Ukraine zu entsenden, und schloss dabei nicht aus, dass irgendwann Bodentruppen folgen könnten. Damit hat er zwar seine Gemeinsamkeiten mit einigen östlichen und nördlichen EU-Mitgliedstaaten gestärkt, gleichzeitig aber die EU- und die Nato-Staaten gespalten.
In Anbetracht der Ergebnisse der vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich ist es wahrscheinlich, dass die bisherige Linie infrage gestellt wird. Bereits seit den Europawahlen war Macrons Position auf der politischen Bühne in Frankreich wie in der EU leichter angreifbar. Nach den Parlamentswahlen werden sich seine politischen Verbündeten wohl gezwungen sehen, mit den linken Kräften zusammenzuarbeiten. Letztere sind allerdings gespalten, was die Ukraine, Russland und den Krieg angeht: Während das Programm des Nouveau Front Populaire in diesem Punkt eher die Positionen der Sozialisten und der Grünen widerspiegelt und deshalb teilweise kompatibel ist mit dem bisherigen Macron’schen Ansatz, hat sich La France insoumise (LFI) unter Jean-Luc Mélenchon wiederholt für unmittelbare Friedensverhandlungen ausgesprochen und gab der Nato eine Mitschuld an der russischen Aggression.
Selbst wenn sich ein Teil des Linksbündnisses abspalten sollte, um mit den Parteien des Zentrums eine Regierung zu bilden, wird die Position von LFI (ebenso wie die des Rassemblement National, RN) nicht unwichtig sein. Da die beiden Extreme des politischen Spektrums aus den Wahlen gestärkt hervorgegangen sind, werden sie Druck auf das Zentrum ausüben können – insbesondere bei Themen, bei denen sie ähnliche Standpunkte vertreten. Wie LFI fuhr auch der RN in den Jahren vor der russischen Aggression gegen die Ukraine einen russlandfreundlichen Kurs und zeigte kaum Verständnis für ukrainische Interessen. Auch jetzt sprechen sich beide Parteien gegen einen EU-Beitritt der Ukraine aus.
Von daher ist für die nahe Zukunft eine abgeschwächte Unterstützung für die Ukraine zu erwarten. Sie dürfte eine niedrigere Priorität auf der französischen Agenda einnehmen, außerdem wird der französische Einfluss innerhalb der EU bei diesem Thema wohl sinken. Mittel- bis langfristig könnten einige Elemente der Positionen der extremen Linken bzw. extremen Rechten Eingang in die französische Linie finden, je nachdem, wie sich die politische Entwicklung in Frankreich gestaltet.
In der Biden-Regierung überwiegen derzeit die Kritiker Macrons. Dessen Entscheidung, vorzeitige Wahlen zur Nationalversammlung auszurufen, wurde als politisch riskant betrachtet, da sie das Potential habe, die französische Politik und die Europäische Union zu destabilisieren. Zwar ist der große Schock einer extrem rechten, antieuropäischen Regierung ausgeblieben. Nach dem Wahlerfolg des Linksbündnisses Nouveau Front Populaire und des Präsidenten-Lagers Ensemble blickt die Biden-Regierung jedoch weiter sorgenvoll auf die Langzeitfolgen der Parlamentswahl in Frankreich.
Aus US-Perspektive bleiben Zweifel an der Handlungsfähigkeit Macrons, der – mit einem Drittel weniger Sitze in der Nationalversammlung – als Präsident geschwächt, einer komplizierten Regierungsbildung und monatelangem politischem Stillstand entgegensieht. Zwischen den Koalitionspartnern und auch zwischen Regierung und Präsident sind Konflikte bei den anstehenden Haushaltsverhandlungen wahrscheinlich. Dadurch könnte langfristig die finanzielle Unterstützung der Ukraine leiden.
Da man im Weißen Haus laut Medienberichten schon länger damit gerechnet hat, dass Frankreichs Unterstützung für die Ukraine eher im militärischen Bereich liegen wird als bei Hilfen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, träfe eine solche Entwicklung die proukrainischen Kreise in Washington nicht unerwartet. Mit der komplizierten Haushaltslage in Frankreich – zeitgleich mit dem deutschen Festhalten an der Schuldenbremse – droht jedoch darüber hinaus ein Stillstand bei europäischen Projekten, die dem Aufbau von Verteidigungsfähigkeiten dienen sollten. Das schließt die EU-Initiativen zu einer besseren Koordinierung der Rüstungsproduktion (EDIRPA, ASAP) mit ein. Damit könnte das Ziel der US-Außenpolitik, die Lastenteilung in der Nato zu verbessern und den Europäer:innen mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übertragen, in weite Ferne rücken.
Kommt es in Frankreich zu einer Minderheitsregierung des Linksbündnisses, drohen außerdem Konflikte in außenpolitischen Fragen, wie der militärischen Unterstützung Israels und der Anerkennung eines palästinensischen Staates. Offen ist zudem, inwieweit sich Forderungen der extremen Linken, Friedensverhandlungen mit Russland aufzunehmen, auf die französische Ukraine-Politik auswirken.
Das proukrainische und proeuropäische Lager in Washington beruhigt sich vorerst damit, dass Macron noch fast drei Jahre Präsident bleibt und – voraussichtlich – außen- und sicherheitspolitisch weiter relativ frei agieren kann. Biden muss daher nur indirekte Auswirkungen auf das amerikanisch-französische Verhältnis befürchten sowie auf US-Prioritäten im Rahmen der G7, zu denen Russlandsanktionen und eine robuste Antwort auf Versuche Chinas gehören, wirtschaftlichen Zwang auszuüben. Dennoch bleibt die Unsicherheit über die innenpolitische Instabilität eines der zwei wichtigsten Partnerländer und außenpolitischen Ideengeber der EU.
Der Rechtsruck und die politische Fragmentierung Europas, die aus den Wahlen zum Europäischen Parlament und zur Französischen Nationalversammlung resultieren, haben zunächst Chinas Europa-Narrativ bestätigt: Die EU ist politisch uneins, besitzt kein wirkliches Machtzentrum und hat keine ernstzunehmende strategische Vision. Kurzum: Die EU wie auch Demokratien überhaupt funktionieren nicht.
Die Entwicklungen in Europa und in Frankreich betrachtet China vor dem Hintergrund eigener wesentlicher Interessen mit ambivalenten Gefühlen. Politisch könnte sich Frankreich den Positionen Chinas annähern und die Distanz zu den USA vergrößern. Wirtschaftlich wiederum könnten Frankreich und die EU künftig protektionistischer agieren. Bislang scheint die Bewertung der Ereignisse rund um die Wahlen innerhalb des chinesischen Regimes noch nicht abgeschlossen zu sein. Offizielle Verlautbarungen gibt es nicht. Die Medien berichten lediglich über die Fakten, halten sich aber mit Meinungen zurück.
Auch wenn ein Erfolg des Rassemblement National (RN) ausblieb, hofft China, dass es aus dem Rechtsruck in Frankreich und der Schwächung der liberalen Mitte politischen Profit schlagen kann. Der RN teilt Pekings autoritäre Weltsicht und wird China wohl kaum wegen der Unterdrückung der Uiguren oder der Verletzung von Menschenrechten kritisieren. Auch in der Abneigung gegenüber Amerika und dem Bestreben, sich von ihm abzugrenzen, stehen sich der RN und China nahe. Jean-Luc Mélenchon wiederum, der Anführer der Bewegung La France insoumise, kommt Positionen Putins nahe, fordert Frankreichs Austritt aus der Nato und kritisiert die Unterstützung Taiwans als Verstoß gegen Frankreichs Ein-China-Politik. Eine Distanzierung eines politisch instabilen Frankreichs von den USA und womöglich der Nato würde Amerikas globale Machtposition schwächen. Die erneute Berufung Ursula von der Leyens an die Spitze der EU-Kommission steht zwar für die Fortsetzung einer kritischen EU-China-Politik. Doch ein künftig instabiles, außenpolitisch zerrissenes Frankreich läuft Gefahr, die Handlungsfähigkeit der EU zu beeinträchtigen. Dies könnte es China erleichtern, seine eigenen Interessen durchzusetzen.
Außenwirtschaftspolitisch dürfte eine Stärkung der extremen Rechten und Linken in Frankreich allerdings verschärfte protektionistische Maßnahmen gegenüber China zur Folge haben. Frankreich wird nicht nur im Rahmen der EU auf einen härteren Kurs in der China-Politik drängen; es könnte sogar die Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt einschränken, wenn französische Interessen ihm dies als geboten erscheinen lassen. Insofern bestünde für chinesische Unternehmen sogar die Gefahr, von EU-Standorten nicht mehr nach Frankreich liefern zu können.
Zitiervorschlag 360 Grad gesamt:
Ronja Kempin, Paweł Tokarski (Koord.), Labiles Frankreich – Auswirkungen der vorgezogenen Parlamentswahlen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 12.07.2024 (360 Grad)
Zitiervorschlag einzelner 360 Grad-Beitrag:
Nicolai von Ondarza, „Frankreich in den EU-Institutionen“, in: Ronja Kempin, Paweł Tokarski (Koord.), Labiles Frankreich – Auswirkungen der vorgezogenen Parlamentswahlen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 12.07.2024 (360 Grad)