Die Instrumentalisierung von Flucht und Migration, digitale Attacken auf Wahlen und Infrastrukturen, Hyperschallwaffen, vollautomatisierte bewaffnete Drohnen und gläserne Gefechtsfelder weltweit: Die Vorstellungen über die Formen künftiger Konflikte bestimmen schon heute darüber, wie Staaten ihre Sicherheitsvorsorge gestalten und ihre Sicherheitskräfte ausrüsten. Mutmaßlich greifen rein militärische Konzeptionen dabei angesichts des verstärkt hybriden Charakters von Auseinandersetzungen zu kurz. Daher sollten der angekündigten Nationalen Sicherheitsstrategie komplexe Konfliktbilder zugrunde gelegt werden, die unterschiedliche Aspekte nationaler wie auch internationaler Sicherheit umfassen. Weil solche Konfliktbilder langfristig bindende Beschaffungs- und Organisationsentscheidungen mitbestimmen, ist es notwendig, sich frühzeitig und strukturiert damit auseinanderzusetzen, wie sie entstehen. Kriterien für Konfliktbilder möglichst hoher Güte sind eine wissenschaftsbasierte Vorausschau, parlamentarische und öffentliche Beteiligung sowie ressortgemeinsame Strategieentwicklung.
In die Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie werden unweigerlich Vorstellungen von den Erscheinungs- und Austragungsformen künftiger Konflikte einfließen. Diese Vorstellungen haben insofern Einfluss darauf, welche zivilen wie militärischen Instrumente, Kapazitäten und Wirkmittel beschafft oder wie Entscheidungsstrukturen und Vorsorgefähigkeiten organisiert werden. Glaubt man beispielsweise, dass zukünftige Konflikte vor allem online bzw. digital ausgetragen werden, wird man eher in Cyber-Fähigkeiten und Maßnahmen investieren, die die Resilienz der Zivilbevölkerung im physischen wie auch im virtuellen Raum stärken, als in die Entwicklung klassischer militärischer Plattformen. Konfliktbilder fassen die unterschiedlichen Vorstellungen davon zusammen, wie Auseinandersetzungen und Herausforderungen in der Zukunft aussehen.
Orientierung durch Konfliktbilder
Konfliktbilder basieren auf Annahmen über hypothetische Ereignisse und Entwicklungen in der Zukunft. Eine Vielzahl von Faktoren fließt in sie ein, beispielsweise aktuelle Bedrohungsperzeptionen eines Landes, das Wissen um Ressourcen, Feind- und Selbstbilder, technische Entwicklungen. Auch fiktionale Werke nehmen Einfluss. Dazu gehören etwa Romane wie Tom Clancys Im Sturm, Peter W. Singers und August Coles Ghost Fleet und jüngst Elliot Ackermans und James G. Stavridis’ 2034 oder Filme bzw. Serien wie etwa Star Wars, Star Trek oder Iron Man. Sie spiegeln die Vielfalt hypothetischer Herausforderungen zurück in die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit den vielen denkbaren Zukünften. Die Aneignung all dieser Einflüsse vollzieht sich nicht immer in einem bewussten Prozess, sondern oftmals unterbewusst, weswegen zugrundeliegende Annahmen zu Konfliktbildern gezielt hinterfragt werden sollten. Konfliktbilder beschreiben und verdichten die heterogenen Vorstellungen und bieten damit Orientierung für die gesellschaftliche Debatte, aber auch für politisches Handeln.
Kriegsbilder sind als Teilmenge von Konfliktbildern zu verstehen und sind ihre extreme, vorwiegend militärische Form. Florian Reichenberger prägte dafür den Ausdruck »gedachte Kriege«, was ihren imaginären Charakter unterstreicht. Das Spektrum an Konfliktbildern reicht von örtlich begrenzten Krisen bis zu weltumspannenden Kriegen. Sie umfassen letztlich alle Facetten sicherheitspolitischer Herausforderungen, beispielsweise inner- und zwischenstaatliche Konflikte wie auch solche mit und ohne physische Gewaltanwendung.
Ein wichtiger Bestandteil zeitgenössischer Konfliktbilder sind hybride Bedrohungen. Die aktuelle Krise an der polnisch-belarussischen Grenze ist nur das jüngste Beispiel von vielen, bei denen die Hoffnungen verzweifelter Menschen für politische Zwecke missbraucht werden. In unkonventionellen Konflikten werden Söldner oder »grüne Männchen« eingesetzt, digitale und analoge Mittel genutzt und physische wie psychische Schwachstellen angegriffen. Klimawandelinduzierte Krisen und Konflikte legen nahe, dass das Potential für Massenflucht und ‑migration in der Zukunft eher größer werden wird. Ebenso plausibel erscheint, dass interessierte Regierungen die Effekte schlechter werdender Lebens- und Umweltbedingungen weiterhin strategisch ausnutzen werden.
Relevanz für Entscheidungen und Strategiebildung
Überall dort, wo es um langfristige Projekte oder lange Nutzungszeiten geht, wird die praktische Relevanz von Konfliktbildern in besonderem Maße erkennbar. Deutlich wird dies vor allem im militärischen Bereich, in dem lange Beschaffungszeiten (Jahre bis Jahrzehnte) und eine extrem ausgedehnte Nutzungsdauer (bis zu fünfzig Jahren und mehr) nicht ungewöhnlich sind. Speziell bei großen, langfristigen Rüstungsprojekten wie dem Future Combat Air System (FCAS) können Veränderungen des Einsatzumfeldes – die nicht im Konfliktbild berücksichtigt waren, das der Systemkonzeption zugrunde lag – schwerwiegende Folgen für die Einsetzbarkeit haben. Sollte sich im konkreten Fall erweisen, dass etwa bemannte Systeme wie das FCAS im Luftkampf gegen unbemannte Systeme (Drohnen) chancenlos sind, wäre das eine finanzielle und strategische Katastrophe.
Diese Lenkungswirkung macht Konfliktbilder zu einer wichtigen Grundlage für die Strategieentwicklung. Sie trägt aber auch dazu bei, dass diese Bilder politisch umstritten sind. Wer im Gefüge der (auch um Ressourcen konkurrierenden) Institutionen der gesamtstaatlichen Sicherheitsarchitektur die Deutungshoheit über Konfliktbilder erlangen kann, vermag wesentliche Richtungsentscheidungen über zukünftige Investitionen zu beeinflussen. Weil auf Vordenkerinnen und Vordenker ebenso wie auf Entscheiderinnen und Entscheider vielerlei Faktoren einwirken – wie Medien, aber auch Lobbyinteressen oder Karrierechancen –, ist eine möglichst breite Diskussion von Konfliktbildern notwendig. Damit nachvollziehbare Beschaffungsentscheidungen getroffen werden können, müssen Konfliktbilder, aber auch Interessen offengelegt werden.
Grafik |
Quelle: Philipp Klüfers / Carlo Masala / Tim Tepel / Konstantinos Tsetsos: »Strategic Foresight – Die Zukunft antizipieren«, in: Sirius. Zeitschrift für Strategische Analysen, 1 (2017) 1, S. 53–67 (54). |
Komplexe Konfliktbilder eignen sich als Bezugspunkt für die Entwicklung einer nachhaltigen Strategie, die aktuelle Herausforderungen aufnimmt, ohne der Gegenwart verhaftet zu bleiben. Es muss zum einen darum gehen, möglichst gut auf möglichst viele denkbare Zukünfte vorbereitet zu sein, das heißt, für ein breites Spektrum vorstellbarer sicherheitspolitischer Anforderungen Robustheit und Vielseitigkeit zu erreichen. Zum anderen muss die Strategie auf methodisch erarbeiteten und wissenschaftlich fundierten Vorstellungen über die Zukunft (beispielsweise Szenarios) fußen. Hierzu bedarf es der Erkenntnisse der Zukunftsforschung.
Beiträge der Zukunftsforschung
Während Kriegsbilder eine Teilmenge von Konfliktbildern sind, sind Konfliktbilder wiederum eine Teilmenge von Zukunftsbildern. Jede Form der Zukunftsanalyse haftet aufgrund ihrer Befassung mit (noch) nicht beobachtbaren Sachverhalten ein hohes Maß an Ungewissheit an. Ungeachtet dessen lassen sich auch für die Zukunftsforschung wissenschaftliche Standards und Gütekriterien definieren. Deren Beachtung sichert ein Höchstmaß an Wissenschaftlichkeit, für die Kriterien wie Nachvollziehbarkeit, methodische Angemessenheit und Integrität des Analyseprozesses gelten. Zukunfts- bzw. Konfliktbilder, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, ermöglichen insofern fundierte (sicherheits-)politische Entscheidungen über vorsorgende Investitionen oder Beschaffungen.
Grundsätzlich zu unterscheiden ist dabei zwischen: 1. der taktischen / situativen Früherkennung (Vorhersage [Forecast]) und 2. der strategischen / strukturellen (Vorausschau [Foresight]). Während Erstere versucht, konkrete Ereignisse in der nahen Zukunft – also in wenigen Wochen und Monaten – vorherzusagen, konzentriert sich Letztere auf mittel- bis langfristige Entwicklungen von zehn bis dreißig und mehr Jahren.
Für die hier diskutierte vorsorgende Sicherheitspolitik ist vor allem die (strategische) Vorausschau einschlägig. Es geht im Kern darum, Erkenntnisse über langfristige Entwicklungen zu gewinnen, die eine frühzeitige Anpassung der eigenen Planungen und Vorkehrungen an mögliche, plausible und wahrscheinliche Konflikte erlauben. Dabei gilt, dass die Befunde der Zukunftsforschung umso unsicherer werden, je weiter sie vorausblickt. Daher werden in diesem Kontext häufig Szenarien entwickelt, die unterschiedliche Verläufe künftiger Entwicklungen abbilden und somit einen größeren Zukunftsraum abdecken können.
Strukturierte Konfliktbildgenese
Konfliktbilder sollten einerseits die nötige Tiefenschärfe aufweisen, um zur Grundlage langfristig wirksamer strategischer Festlegungen werden zu können, und andererseits breite Akzeptanz in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft finden. Um beides zu gewährleisten, sollten sie in einem reflexiven Prozess erarbeitet werden, der wissenschaftliche Qualitätskriterien mit repräsentativer Beteiligung verbindet.
Die Konzipierung einer auf Konfliktbilder ausgerichteten strategischen Vorausschau umfasst mehrere Prozessschritte, beginnend mit der Erhebung von Daten, Einflussfaktoren und Kontextbedingungen, die für künftige Konfliktkonstellationen relevant sein könnten. Auf Basis der gesammelten Informationen werden in einer Primäranalyse die wichtigsten Faktoren und Bedingungen identifiziert und zu Szenarien ausgearbeitet, die sie in unterschiedlichen Varianten (z. B. starke / schwache Polarisierung oder hohes / geringes Wachstum) zueinander in Beziehung setzen. Narrative Beschreibungen dieser Kombinationen können die erarbeiteten Szenarien zu aussagekräftigen Konfliktbildern verdichten. Die Beteiligung von Fachleuten wie auch von Laien an der Wissensakkumulation und Analyse stellt sicher, dass vielfältige Perspektiven und unterschiedliche Annahmen über denkbare Zukunftsentwicklungen berücksichtigt werden (Citizen Science).
Ergänzend zum deskriptiv-analytischen Vorgehen schließt sich eine Diskussion an, in der es darum geht, sich unterschiedliche Präferenzen für mehr oder weniger wünschenswerte Konfliktbilder zu vergegenwärtigen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Eine parlamentarische Komponente wie auch direkte Bürgerbeteiligung, beispielsweise analog zum 2021 aktiven Bürgerrat »Deutschlands Rolle in der Welt«, sichern dabei ein möglichst hohes Maß an gesellschaftlicher Repräsentativität. Auf der Basis dieser mehrdimensionalen und multiperspektivischen Analyse und Bewertung können abschließend Prioritäten für strategisches Planen und sicherheitspolitisches Handeln festgelegt und auf ihre Umsetzungsmöglichkeiten hin geprüft werden.
Ebenso wichtig wie die strukturierte Erarbeitung von Konfliktbildern ist die kontinuierliche Evaluierung dieser Bilder. Sie kann durch ein fortgesetztes Monitoring der Entwicklung von Einflussfaktoren und Kontextbedingungen in der sich real entfaltenden Zukunft erfolgen. Entsprechend den Prüfungsergebnissen können die Szenarien kontinuierlich angepasst und weiterentwickelt werden. So lässt sich gewährleisten, dass Konfliktbilder nicht den Bezug zur empirischen Realität verlieren und zu Trugbildern werden.
Debatte statt Geheimhaltung
Kohärenz in der Vorbereitung auf künftige sicherheitspolitische Herausforderungen basiert auf klaren Konfliktbildern, aus denen sich Prioritäten für eine bedarfsgerechte Strategiebildung auf nationaler Ebene ableiten lassen. Im Weißbuch 2016 ist die Förderung der deutschen Strategiefähigkeit unterstrichen worden. Der Fokus im Weißbuch liegt jedoch auf der Früherkennung relativ kurzfristiger Krisen und damit auf konkreten Prognosen.
Freilich gibt es auch Dokumente, die im Sinne der strategischen Vorausschau längere Zeiträume umspannen, jene etwa, die im Planungsamt der Bundeswehr für das Bundesministerium der Verteidigung erstellt werden. Die zuständige Behörde im Ministerium hält sich allerdings bedeckt, die Papiere sind eingestuft und für die Allgemeinheit schwer oder gar nicht einzusehen. Die Geheimhaltung von Dokumenten, die sich mit politisch heiklen, aber denkbaren Zukunftsentwicklungen befassen, ist zwar nachvollziehbar, kann die Akteure jedoch in die Defensive zwingen. Sickern dabei entwickelte Vorstellungen unfreiwillig durch, wie 2017 bei Überlegungen zum Zerfall des Westens, wird der Öffentlichkeit die Tragweite der Beschäftigung mit hypothetischen Zukünften ebenso schlagartig wie unvorbereitet bewusst. Die Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit sollte daher nicht gescheut, sondern aktiv gesucht werden. Denn möglichst breite Akzeptanz von Konfliktbildern entsteht im Zuge eines offenen Austauschs von Argumenten und Positionen. Werden insbesondere weitreichende Entscheidungen, etwa zur Beschaffung militärischer Güter, stattdessen intransparent getroffen, lädt dies zu an sich vermeidbarem Misstrauen und Kritik geradezu ein.
Hilfreich ist der Blick über die Grenzen: Sowohl in den USA als auch in Großbritannien und Frankreich herrscht große Transparenz beim Umgang mit Konfliktbildern. Die grundlegenden, auf die Zukunft gerichteten sicherheitspolitischen Überlegungen werden viel selbstverständlicher öffentlichen Debatten ausgesetzt. Das kann zwar durchaus kontroverse Auseinandersetzungen darüber mit sich bringen, welche Folgerungen für konkrete sicherheitspolitische Maßnahmen daraus abzuleiten sind. Diese sind aber nicht nur notwendig, um Wirtschaft und Gesellschaft mitzunehmen, sondern gelten geradezu als Verpflichtung für eine verantwortungsbewusste Politik.
In Deutschland sollten Dokumente zu Konfliktbildern weniger restriktiv eingestuft werden, um einen breiteren strategischen Dialog zu ermöglichen. Entscheidend ist die Transparenz bei der Erarbeitung; Folgerungen und Entscheidungen der Exekutive können weiterhin schutzbedürftig sein. Gleichzeitig ist es erforderlich, die auf nationaler Ebene erarbeiteten Konfliktbilder und Strategien regelmäßig mit Partnern und Verbündeten abzugleichen. Perspektivisch könnte eine gemeinsam durchgeführte Vorausschau in die Entwicklung geteilter Konfliktbilder münden. Dadurch würde nicht nur Vertrauen gestärkt, sondern auch der Anreiz für die kollektive Entwicklung und Beschaffung von sicherheitspolitischer Ausrüstung erhöht werden.
Ressortübergreifende Kooperation
Die Bundesregierung hat in den 2017 erschienenen Leitlinien »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« die Absicht betont, ihre Werkzeuge für gemeinsame Analyse, Planung und Willensbildung weiterzuentwickeln. Die strategische Bedeutung ressortübergreifender Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik erkennt die Regierung dabei an. Im Fokus stand allerdings die Außenpolitik. Es muss jedoch auch darum gehen, einen ressortgemeinsamen Bezug zur Bedrohungslage in, um und für Deutschland herzustellen und die Konzeption sicherheitspolitischer Strategien wie auch die Entwicklung militärischer Fähigkeiten daran auszurichten.
Strategische Vorausschau betreiben in der Bundesregierung bereits viele Akteure. Auf Ressortebene sind neben Auswärtigem Amt (AA), dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) auch das Bundesministerium für Umwelt (BMU), das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWi), das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zu nennen. Sehr wahrscheinlich wird auch im Bundesministerium des Innern (BMI) in die Zukunft geblickt, doch lässt sich das Ministerium nicht in die Karten schauen. Je nach Zuständigkeitsbereich des Ressorts unterscheiden sich die inhaltlichen Schwerpunkte und damit auch die Sichtweisen, die den jeweiligen Vorausschau-Fragestellungen zugrunde liegen.
In der Sicherheitspolitik mangelt es an einer synthetisierenden Betrachtung der Einzelbefunde, die übergreifende Schlüsse für den Umgang mit multidimensionalen Herausforderungen erlauben würde. Zwar gibt es Beratungs- und Austauschprozesse, in denen Experten und Expertinnen aus einem Bereich jene eines anderen unterstützen oder an ihren Ergebnissen teilhaben lassen. So tagt regelmäßig ein Ressortkreis Strategische Vorausschau, der vom Kanzleramt geleitet wird. Dieser dient jedoch in erster Linie dazu, die teilnehmenden Ressorts über die Vorausschauprozesse der jeweils anderen zu informieren. Die gemeinsame Ausarbeitung von Zukunftsszenarien oder gar Konfliktbildern gehört bislang nicht zu seinen Aufgaben. Dass die ressortgemeinsame Analyse unterentwickelt ist, monierte bereits der Bundesrechnungshof für den Politikbereich »Humanitäre Hilfe und Übergangshilfe«. Die Empfehlung an die in diesem Fall betroffenen Ministerien BMZ und AA lautet, eine ressortgemeinsame Analyse zur Grundlage abgestimmter Planung zu machen.
Ausblick: Vorausschau und Vorsorge
Die vielen unerwarteten Krisen und Konflikte im 21. Jahrhundert haben die Bedeutung von (strategischer) Vorausschau und einer angemessen vorsorgenden Politik verdeutlicht. Zuletzt hat die Pandemie offenbart, wie unzureichend nationale wie internationale Akteure auf durchaus absehbare Herausforderungen vorbereitet waren. Auch die Anpassungsleistungen, die der Klimawandel erforderlich macht, sind hinlänglich bekannt. In Wirtschaft und Gesellschaft ist der Unmut über die unzulänglichen Vorkehrungen für diese wie auch weitere »angekündigte Überraschungen« verbreitet. In der Folge wurden öffentliche Forderungen nach mehr und besserer staatlicher Vorsorge laut. Diese Forderungen finden politischen Widerhall, wie sich in der verstärkten Resilienz-Orientierung der EU zeigt. Unter den G7-Mitgliedstaaten wird ebenfalls über Wege zum Ausbau des Wohlfahrts- und Versorgungsstaates zum Vorsorgestaat diskutiert, wie das Abschlusskommuniqué des letzten G7-Gipfels andeutet, der 2021 in Cornwall stattfand.
Unerwartete Krisen und Konflikte treten auch im sicherheitspolitischen Kontext auf. Das zeigt sich am gegenwärtigen russischen Säbelrasseln gegenüber der Ukraine ebenso wie an neuartigen hybriden Bedrohungen wie der gezielten Verbreitung von Falschinformationen durch Social Media. Um der sicherheitspolitischen Dimension künftiger Konflikte Rechnung zu tragen, sollten die Abgeordneten des Bundestages, aber auch die Mitglieder der Bundesregierung immer wieder die öffentliche Auseinandersetzung mit Konfliktbildern fördern und einfordern. Schließlich sind komplexe Konfliktbilder, die sich auf methodisch erarbeitete und kontinuierlich überprüfte Szenarien stützen, ein wichtiger Beitrag zur Findung von Entscheidungen über die Streitkräfteentwicklung und den Zivil- bzw. Katastrophenschutz.
Das geeignete Forum für die politische Debatte über Konfliktbilder und darüber, wie mit denkbaren Bedrohungen umgegangen werden soll, ist zunächst der Bundestag und sind seine Ausschüsse. Hier fehlt bislang aber ein Anlass, der die Beschäftigung mit künftigen Herausforderungen aus sicherheitspolitischer Sicht regelmäßig auf der Tagesordnung verankert. Die vom Verteidigungsministerium vorgeschlagene Sicherheitswoche könnte hierfür ein wiederkehrendes Format bilden. Anknüpfungspunkt für die Debatte könnte ein überparteilich erarbeiteter und öffentlich zugänglicher nationaler Risikobericht sein, wie ihn Nikolaus von Bomhard vorgeschlagen hat.
Wichtig wäre, dass in so einer Sicherheits- oder auch Strategiewoche Raum ist für Debatten über unterschiedliche Vorstellungen dazu, welche Zukunftsentwicklung von Staat und Gesellschaft in ihrer europäischen und internationalen Umwelt wünschenswert sind. Dazu ließen sich bürgergesellschaftliche Beiträge und Stellungnahmen einbeziehen. Denn über Regierung, Administration und Parlament hinaus geht es um Gesellschaftsbeteiligung.
Bleibt die Frage, wer für die Zusammenführung von Konfliktbildern und nationaler Strategie zuständig sein soll. Wird einem Ressort die Leitung für das Erarbeiten einer gesamtstaatlichen Strategie übertragen, hat dies mit Blick auf Prozess und Ergebnis quasi reflexhaft Akzeptanzeinbußen bei den anderen Ministerien zur Folge. Eine dadurch angestoßene »kompetitive Strategiebildung« durch letztere wäre indes sowohl nach innen wie nach außen irritierend. Natürlich muss jedes Ressort die Möglichkeit haben, sich mittels konzeptioneller Dokumente der eigenen politischen Aufgabenstellung zu vergewissern und dies nach außen darzustellen. Ressortgemeinsame Strategiebildung umfasst jedoch mehr als die Addition solcher Dokumente. Insofern bedarf sie eines klar definierten Zentrums, dem die strategiepolitische Kohärenz-Kompetenz zukommt. Größere Prozesszufriedenheit und Ergebnisakzeptanz lassen sich durch die Einbindung aller relevanten Akteure unter dem Dach dieses strategischen Zentrums erreichen. Nicht zuletzt entstünden dadurch gute Ausgangsbedingungen für die Arbeit an einer zukunftsweisenden Nationalen Sicherheitsstrategie.
Paula Köhler ist Forschungsassistenz in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Florian Schöne ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Lars Brozus ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin und der Autoren wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2022A12