Mit der gemeinsamen Ankündigung, erneut Friedensgespräche aufnehmen zu wollen, haben der neue Präsident Kolumbiens und die zweitgrößte Guerilla-Gruppe des Landes, die ELN, ein klares politisches Signal gesetzt. Die Befriedung der ELN (Ejército de Liberación Nacional) soll unter der Ägide einer »linken« Regierung gelingen und von einem umfassenden und ambitionierten Reformprojekt flankiert werden. Damit wird – nach dem Friedensschluss mit den FARC-Rebellen im Jahre 2016 – ein erneuter Anlauf genommen, um den Bürgerkrieg zu beenden. Allerdings kann das Abkommen mit der FARC nur begrenzt als Blaupause dienen. Das liegt nicht nur an dem unterschiedlichen historischen Ursprung beider Guerilla-Gruppen, sondern auch an der inneren, stark dezentral angelegten Struktur der ELN. Noch sind Fragen des Waffenstillstands und der Freilassung von Gefangenen als Vorbedingungen ungeklärt. Es stehen langwierige Verhandlungen bevor, bei denen die kolumbianische Zivilgesellschaft einbezogen werden muss, da zentrale Zukunftsfragen des Landes zu klären sind.
Nur vier Tage nach seinem Amtsantritt hat Kolumbiens neuer Präsident Gustavo Petro seiner Ankündigung, den »totalen und integralen Frieden« anzustreben, konkrete Taten folgen lassen: Er erließ am 20. August 2022 ein Dekret, mit dem er die Haftbefehle und Auslieferungsgesuche gegen die in Kuba weilenden ELN-Friedensunterhändler aussetzte und die bereits 2016 unterzeichneten Protokolle revalidierte, damit »ein Dialog mit der ELN wieder aufgenommen werden kann«. Außerdem lud er auch die sogenannten neoparamilitärischen Gruppen zu Verhandlungen mit der Regierung ein und lieferte auch einen Anreiz für einen solchen Schritt, indem er eine Auslieferung an die USA im Falle ernsthafter Gespräche ausschloss. Mit dieser Initiative trägt der Präsident dem fragmentierten Charakter des Konfliktgeschehens im Land Rechnung, wo Guerillagruppen wie die ELN, wiederbewaffnete Guerilleros der FARC und paramilitärische und kriminelle Gewaltakteure auf nationalem Territorium und im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten agieren, sich gegenseitig bekämpfen und in Auseinandersetzungen mit staatlichen Sicherheitskräften verwickelt sind.
Gleichzeitig hat Petro mit der Erneuerung der Führungsspitze bei den Sicherheitsorganen einen einschneidenden Generationswechsel vorgenommen: Mit der Ernennung der neuen Oberbefehlshaber mussten gleichzeitig 52 Generäle bei den Streitkräften und der Polizei abtreten, da nach kolumbianischem Recht mit der Berufung eines neuen Oberkommandierenden der Sicherheitskräfte alle uniformierten Offiziere seines oder eines höheren Ranges zurücktreten müssen. Mit diesem Schritt und der Überführung der Polizei aus dem Verteidigungsministerium in das neue Ministerium für Frieden, Koexistenz und Sicherheit ist eine nicht nur symbolische Abkehr von jenen Führungskräften im Sicherheitsapparat begonnen worden, die an Menschenrechtsverletzungen und überzogenen Gewalteinsätzen gegenüber der Zivilbevölkerung beteiligt waren oder dessen beschuldigt werden. Damit wird eine neue Sicherheitsstrategie Kolumbiens etabliert, die sich auch in einer neuen Drogenpolitik (Verzicht auf den Glyphosat-Einsatz), in Konzepten zur alternativen Entwicklung und in Bemühungen widerspiegelt, die territoriale Präsenz des Staates durchzusetzen.
Mit diesen Entscheidungen hat die Regierung Petro wichtige Voraussetzungen geschaffen, die den Verhandlungen mit der ELN den Weg ebnen können, aber gleichwohl keine hinreichenden Bedingungen für einen Erfolg sind. Die Zweifel gründen sich auf eine Vielzahl an gescheiterten Dialogen, die von den Friedenssondierungen während der Regierung von Präsident Alfonso López Michelsen (1974–1978) über die Gesprächsversuche in Deutschland in Mainz und im Kloster Himmelpforten (1998) bis zu den Verhandlungen unter der Regierung Iván Duque (2018–2022) reichen. Immer wieder kam es zum Abbruch der Gespräche aufgrund von militärischen Aktionen der ELN – zuletzt in Gestalt eines Bombenanschlags auf eine Polizeischule in Bogotá am 17. Januar 2019, bei dem 23 Kadetten ums Leben kamen.
Die ELN – ein schwieriger Verhandlungspartner
Weithin werden nach der Ankündigung, die Verhandlungen mit der ELN wiederaufzunehmen, Parallelen gezogen zu dem Friedensprozess mit den FARC-Rebellen im Jahr 2016; indes sind die Voraussetzungen für die Gespräche aufgrund der Unterschiede zwischen beiden Gruppen nur in sehr begrenztem Umfang vergleichbar. So ist die ELN im Gegensatz zu der stark vertikal und zentralisiert strukturierten FARC sehr dezentral aufgestellt und die einzelnen Einheiten besitzen eine große Handlungsautonomie. Dementsprechend wird die FARC beschrieben als eine »Guerilla, die auch Politik machte«, während die ELN als »eine bewaffnete politische Gruppe« etikettiert worden ist, die sich durch eine quasi-föderale Gliederung auszeichne. Auch wenn beide Gruppierungen im Jahre 1964 entstanden und sich einem Marxismus hingaben, der von der kubanischen Revolution inspiriert war, ist die ELN doch einem eher urbanen, studentisch und gewerkschaftlich geprägten Milieu verbunden, während die FARC im ländlichen Umfeld verwurzelt ist. Zwar agierten beide Gruppierungen zuweilen gemeinsam, allerdings hat sich im Laufe der Zeit doch eine große Rivalität herausgebildet, die sich mitunter in heftigen Kämpfen um die Kontrolle bestimmter Territorien niedergeschlagen hat. Die revolutionären Ideen der ELN speisen sich jenseits des Marxismus aus christlichen Elementen der Theologie der Befreiung. Eine Ikone der Bewegung ist der Priester Camilo Torres, der sich gemeinsam mit einer Studentengruppe 1965 der ELN-Guerilla anschloss und 1966 ermordet wurde. Dieser starke ideologische Anspruch der ELN führt dazu, dass sie bei Verhandlungen sehr viel dogmatischer auftritt als die FARC. Die Attentate der ELN richteten sich vor allem gegen die Ölindustrie und den Bergbau bzw. gegen die entsprechenden Infrastruktureinrichtungen wie Pipelines. Sie verursachten hohe wirtschaftliche Verluste und Umweltschäden. Zur Finanzierung betrieb die Guerilla neben Drogenhandel und anderen illegalen Ökonomien auch die Erpressung von transnationalen Unternehmen und die Entführung von Unternehmensvertretern und Politikern, um Lösegeldzahlungen zu erzwingen. Dabei suchte die ELN immer wieder die Nähe sozialer Bewegungen und engagierte sich in der politischen Arbeit auf lokaler Ebene, um von dort aus Einfluss auch im regionalen Maßstab zu gewinnen. Indes blieb die ELN mit ihren zuweilen nur noch rund 1500 aktiven Kämpfern immer deutlich kleiner als die FARC (8000 Kämpfer). Sie konnte aber nach dem Friedensschluss das durch die Demobilisierung der FARC entstandene Machtvakuum nutzen, ihre territoriale Präsenz erweitern und auch ihre Personalstärke auf 2500 Aktive ausbauen. Gleichzeitig öffnete sich die Guerilla in stärkerem Maße Inhalten der indigenen und afrokolumbianischen Lebensrealität und machte sie zum Teil ihres Forderungskatalogs. Wegen dieser Vielgestaltigkeit der Interessen stellen viele Beobachter den Friedenswillen in Frage, den die in Kuba ansässige Verhandlungskommission der ELN immer wieder bekundet. Denn es ist unklar, inwieweit angesichts dezentraler Befehlsstrukturen mit einer Stimme gesprochen wird. Angesichts der komplexen internen Organisation ist fraglich, ob mögliche Verpflichtungen aus einem Verhandlungsergebnis die einzelnen militärischen Einheiten tatsächlich binden würden. Die Autonomie der verschiedenen regionalen Gruppen (Frentes) und deren eigenständige militärische Aktionen haben laufende Friedensgespräche immer wieder zum Abbruch gebracht. Damit wird auch beim jetzigen Anlauf zum »totalen Frieden« wieder zu rechnen sein. Das Zentralkommando (Comando Central) hat nur in begrenztem Umfang Zugriff auf das Handeln der circa 7 oder 8 Frentes, die in 16 der 32 Departments Kolumbiens und in den Großstädten des Landes aktiv sind (siehe Karte, S. 4). Die im Nachbarland Venezuela operierenden Einheiten sind dabei nicht berücksichtigt. Das Fehlen einer vertikalen Kommandostruktur könnte sich deshalb erneut als ernstes Hindernis im Verhandlungsprozess erweisen.
Diesem Tatbestand muss daher auch in den Gesprächen Rechnung getragen werden: Der Friedensvertrag von 2016, der den FARC die Aussicht auf Landverteilung und politische Partizipation einbrachte, wird für die ELN kein Vorbild sein. Für sie stehen andere Fragen im Vordergrund: der Zugriff auf die natürlichen Ressourcen des Landes, die Etablierung lokaler Formen der Partizipation und die konkrete Ausgestaltung der territorialen Integration Kolumbiens. Die ELN wendet sich vor allem gegen den administrativen Zentralismus. Dabei betrachtet sie sich als Vermittlerin zwischen Staat und Zivilgesellschaft, die den sozialen Organisationen eine Stimme gegenüber dem Staat gibt und deren Interessen Rückhalt verschafft. Schon in vorausgehenden Verhandlungsrunden unter den Vorgängerregierungen hat die ELN immer wieder darauf Wert gelegt, dass neben den Gesprächen der Delegationen auch der Dialog mit der Zivilgesellschaft in Grassroot-Foren vorangetrieben wurde, um der Heterogenität regionaler Identitäten zu entsprechen und den Eindruck einer Verhandlungsführung ohne Beteiligung breiter gesellschaftlicher Kreise zu vermeiden. Nach ihrer Dezimierung in den 1970er Jahren ist eine tiefe soziale Einbettung in den von ihr kontrollierten Gebieten Teil ihrer militärischen Überlebensstrategie. Dieser Faktor wird auch den Weg zu einer Friedensregelung beeinflussen, da die ELN einerseits die Erwartungen der Nachbarschaftskomitees und Protestbewegungen nicht wird enttäuschen wollen, andererseits aber auch eine gewisse hegemoniale Bevormundung ihrer dort aktiven gesellschaftlichen Referenzgruppen praktiziert. In diesem Spannungsverhältnis bewegen sich die verschiedenen lokalen Gruppierungen mit ihren jeweils eigenen Handlungsdynamiken, die nur schwer in ein gemeinsames Verhandlungsmandat einzubinden sind.
Die Rolle der internationalen Gemeinschaft und nationaler Akteure
Die erfolgreichen Friedensverhandlungen mit der FARC-Guerilla im Jahr 2016 verliefen ebenso wie die Dialoge zwischen der kolumbianischen Regierung und der ELN, die 2017 im Nachbarland Ecuador und dann in Kuba aufgenommen wurden, nach einem Muster: Sie wurden international
begleitet von Ländern, die als »Garanten« des Prozesses agieren sollten (Brasilien, Chile, Ecuador, Kuba, Norwegen und Venezuela). Doch dieser Weg scheiterte wegen des Attentats der ELN in Bogotá im Januar 2019, aber auch wegen der wachsenden Differenzen zwischen der Regierung von Präsident Iván Duque und dem Maduro-Regime in Venezuela, die schließlich in den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mündeten. Insofern ist die Wiedereinsetzung von Botschaftern in beiden Ländern unmittelbar nach dem Amtsantritt von Präsident Gustavo Petro eine wichtige Rahmenbedingung, um den am 12. August 2022 in Havanna, Kuba, angekündigten Dialog zwischen seiner Regierung und der ELN ins Laufen zu bringen. Da gerade die ELN als »binationale Guerilla« im kolumbianisch-venezolanischen Grenzgebiet operiert, ist eine Verständigung mit Venezuela unabdingbar, um zu vermeiden, dass die Organisation ihre Kräfte nur ins Nachbarland verlagert, statt sie zu demobilisieren und in das zivile Leben zu integrieren. Chile und Kuba haben ihre Unterstützung des neuerlichen Friedensprozesses bereits zugesagt, der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez hat sein Land als Verhandlungsort angeboten. Deutschland war bereits (zusammen mit den Niederlanden, Italien, Schweden und Schweiz) Mitglied der Gruppe von Ländern, die die letzten Gespräche unterstützt und begleitet hat. Es könnte auch jetzt wieder hilfreiche Dienste für die Durchführung von Verhandlungen anbieten.
Doch die internationale Abstützung von Verhandlungen wird nicht hinreichen, damit diese Erfolg haben: Im Gegensatz zum FARC-Prozess bedarf es bei den Gesprächen mit der ELN der Garantiemacht nationaler Akteure – wie etwa der Kirchen, der sozialen Bewegungen und Universitäten –, um zu gewährleisten, dass die Verhandlungen tatsächlich an die Reformvorhaben der Regierung (wie die Reorganisation der internen Sicherheitsarchitektur, die Landverteilungspolitik, die Steuerreform, die politische Reform und die Neukonzeption des Entwicklungsmodells), an die effektive Umsetzung der Friedensvereinbarung mit den FARC und an die politischen Debatten in Kolumbien rückgebunden werden. Dabei wird es darauf ankommen, das Verhandlungsgeschick und die umfassenden Erfahrungen von Außenminister Álvaro Leyva einzubinden in eine breite Allianz von nationalen Akteuren, die zwar die Vielfalt von Stimmen und Interessen erhöhen wird, aber gleichzeitig in der Lage wäre, das notwendige Vertrauen in die Verhandlungen innerhalb der ELN zu erhöhen und die Gruppe in einen breiten sozialen Prozess einzubeziehen. Auf die Forderung der ELN nach einer »Convención Nacional« (nationale Versammlung) sollte aber mit Blick auf die Erfahrungen aus anderen Ländern kreativ reagiert werden. Die im Zuge des abgebrochenen Friedensprozesses in den Jahren 2018 und 2019 durchgeführten regionalen Foren konnten nicht die erforderliche Breitenwirkung entfalten. Es bedarf einer Anstrengung auf nationaler Ebene, um die gesellschaftlichen Akteure auch wirklich zu beteiligen. Sonst läuft man erneut Gefahr, dass sich der Friedensprozess »hinter dem Rücken« der Bevölkerung des Landes vollzieht und ihm die notwendige Legitimität fehlt. Vorwürfe, ein zukünftiges Friedensabkommen könnte den Charakter eines reinen »Elitenpakts« haben, sind immer wieder geäußert worden.
Bei der Einbeziehung der Zivilgesellschaft könnte man sich orientieren am Wirken der Asamblea de la Sociedad Civil, die sich nach dem Putsch von Präsident Serrano Elías in Guatemala 1993 bildete, und an zwei weiteren Gremien, die damals den Bürgerprotest kanalisierten: den Grupo Multisectorial Social und die Instancia Nacional de Consenso. Diese Formate gaben den Kirchen, den Unternehmer- und Gewerkschaftsverbänden, indigenen Organisationen und Opfervereinigungen unter minoritärer Einbeziehung der politischen Parteien eine Stimme und erarbeiteten gemeinsame Stellungnahmen. Auf diesem Weg gelang es, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Gerade im kolumbianischen Fall ist es unabdingbar, die lokale Ebene und die dort wirkenden Autoritäten einzubeziehen. Verhandlungen im Ausland, die nicht an nationale Verständigungsprozesse zurückgebunden werden, könnten sich in Anbetracht des besonderen Profils der ELN als ernster Stolperstein erweisen, da eine nationale Legitimation, die allein durch die Regierung repräsentiert wird, von vielen Seiten als unzureichend angesehen werden dürfte.
Eine wichtige Rahmenbedingung für den Erfolg von Verhandlungen ist die Umsetzung des ambitionierten Reformprogramms von Präsident Petro. Denn dieses kommt den Interessen der ELN an einer Transformation der kolumbianischen Gesellschaft in Richtung auf mehr soziale Gerechtigkeit entgegen. Hier könnte der Beitrag Deutschlands für den Friedensprozess ansetzen. Die Bundesregierung könnte technische und finanzielle Unterstützung für die Umsetzung all jener Reformprojekte der neuen Regierung anbieten, die die Friedensverhandlungen flankieren, und so dazu beitragen, dass hier schnell Ergebnisse erzielt werden. Dies gilt in besonderem Maße für die Herstellung staatlicher Präsenz im gesamten nationalen Territorium, damit Zonen, die unter der Kontrolle der Guerilla oder anderer irregulärer Kräfte stehen, reduziert werden. Angesichts der dezentralen Struktur der ELN ist davon auszugehen, dass innere Uneinigkeit und Abspaltungen bei der Gruppe sehr schnell sichtbar werden und der Verhandlungsfortschritt durch eigenmächtige Gewaltaktionen einzelner Kommandos behindert wird. Insofern wird der Friedensschluss mit den FARC nur begrenzt als Blaupause für diesen neuen Anlauf mit der ELN dienen können. Aber die Elemente, die schon Gegenstand der abgebrochenen Gespräche waren, können im Zuge der Verhandlungen die Wege verkürzen und als Leitplanken dienen.
Gleichwohl hat sich in den vergangenen 4 Jahren seit Aussetzung des Dialogs nicht nur in Kolumbien mit der Wahl von Gustavo Petro ein Wandel ergeben, der neue Kontexte setzt: einerseits im positiven Sinne, durch das umfassende Reformprogramm des neuen Präsidenten, andererseits aber auch in ungünstiger Weise, weil sich aus der Überlastung des Regierungshandelns durch die Gleichzeitigkeit von multiplen Reformansätzen mit begrenzter fiskalischer Ausstattung und prekärer parlamentarischer Unterstützung Risiken ergeben. Hinzu kommt, dass sich die Präsenz der ELN im Nachbarland Venezuela deutlich konsolidiert hat und nur sehr begrenzt von den kolumbianischen und den venezolanischen Sicherheitskräften unter Kontrolle gehalten werden kann. Die internationale Begleitung des neuerlichen Ansatzes zu einem »totalen« Frieden ist daher eine wichtige und sicherlich hilfreiche Initiative. Zentral wird aber erneut sein, wie und inwieweit sich die kolumbianische Gesellschaft auf einen Friedensprozess einlässt, der mit vielfältigen Ungewissheiten verbunden ist und sein wird.
Mögliche Entwicklungsszenarien: Scheitern – »Scheinfrieden« – Durchbruch
Trotz der Erfahrungen aus den vergangenen Versuchen, zu einer Friedensvereinbarung mit der ELN zu kommen, sind die explorativen Gespräche, die jetzt zwischen der Regierung und der ELN-Verhandlungskommission stattfinden, entscheidend dafür, ob sich ein erfolgversprechender Ansatzpunkt für eine formelle Konfliktbeilegung finden lässt. Der »föderale« Aufbau der ELN und ihr dezentral angelegtes Handeln werden schon jetzt auf eine erste Probe gestellt, inwiefern die Gruppe konsistent aufzutreten und ihre eigenen Gliederungen zu zügeln vermag. Daraus werden sich schon erste Einblicke gewinnen lassen, wie die ELN mit ihrem internen Führungsproblem umgeht, ob die in legalen, halblegalen und illegalen territorialen Ökonomien (Gold, Koka, Holz) bestehende Verankerung gelöst werden kann und inwieweit die Organisation den Einsatz krimineller Mittel zur Verfolgung politischer Ziele wirklich aufgeben wird. Sollten in dieser Hinsicht die Zweifel überwiegen, könnte den Verhandlungen trotz der guten Rahmenbedingung einer reformorientierten Regierung schnell die Grundlage entzogen sein. Eine kritische Größe ist dabei die Rolle Venezuelas und seiner Regierung: Die ELN hat ihre Präsenz nicht nur in den Grenzgebieten, sondern auch im Inneren des Nachbarlands ausgeweitet. Sie ist dort zu einem Faktor der sozialen Kontrolle und territorialen Herrschaft geworden und gerät zunehmend auch mit anderen bewaffneten Kräften und mit staatlichen Sicherheitsorganen in Konflikt. Deshalb wird entscheidend sein, ob die binationale Guerilla auch seitens des Maduro-Regimes Druck bekommt, sich auf venezolanischem Territorium zu demobilisieren, oder ihr dort ein Rückzugsgebiet erhalten bleibt.
Dies wird auch auf Seiten der kolumbianischen Regierung einer der zentralen Verhandlungspunkte sein, wenn kein »Scheinfrieden« abgeschlossen werden soll. Ein Ergebnis ohne Regelung dieser Frage würde keine Befriedung des innerkolumbianischen Konflikts ermöglichen und die Gesellschaft weiterhin polarisieren. Das Projekt des »totalen Friedens« von Präsident Petro wäre damit gescheitert, zumal die internen Herausforderungen, die mit dem ehrgeizigen Reformprogramm, einer schwierigen Sicherheitssituation und einer prekären fiskalischen Ausgangslage verknüpft sind, massive Kosten bei der Umgestaltung der Gesellschaft mit sich bringen werden. Die bestehenden Blockadepotentiale wie auch eine politische Überlastung könnten eine schnelle Erschöpfung des Reformprojekts zur Folge haben und damit auch die Neigung beeinträchtigen, zu einem wirklich umfassenden und tiefgreifenden Friedensschluss zu gelangen. Die ohnehin heterogene Basis an Unterstützung für Petro würde noch weiter unter Druck geraten; zentrifugale Tendenzen und Proteste würden ihre Kohäsion massiv beschädigen.
Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen ist indes auch ein erfolgreicher Friedensschluss denkbar, insbesondere wenn sich alle Beteiligten der einmaligen Situation bewusst sind, die sich aus dem konjunkturellen Zusammentreffen einer reformorientierten Regierung mit einem Gewaltakteur ergibt, der seine (hoffentlich aufrichtige) Friedenswilligkeit bekundet. Diesen historischen Moment zu nutzen sollte nationale wie internationale Akteure anspornen, diesen erneuten Anlauf zum Frieden auch zu einem Ergebnis zu führen, das die Transformation der kolumbianischen Gesellschaft voranbringt, ein friedliches Zusammenleben ermöglicht und die bestehende politische Polarisierung überwinden hilft. Dabei gilt es gerade auch den Opfern des langwierigen Konflikts und ihren Angehörigen gerecht zu werden, wie der gerade vorgelegte Bericht der Wahrheitskommission ausführlich belegt. Die Anforderungen dafür sind hoch, aber die Chance auf einen solchen Durchbruch sollte ergriffen und so weit wie möglich erkundet werden, um dem »totalen Frieden« näher zu kommen.
Weitere SWP-Literatur zum Thema:
Günther Maihold / Philipp Wesche
Kolumbien auf dem Weg zum Minimalfrieden. Der Friedensprozess gerät ins Stocken
SWP-Aktuell 43/2019, August 2019, 8 Seiten
Günther Maihold
Kolumbiens Frieden und Venezuelas Krise. Wie sich in Südamerika eine regionale Krisenlandschaft aufbaut
SWP-Aktuell 13/2018, Februar 2018, 8 Seiten
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022
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DOI: 10.18449/2022A55