Als traditionelle Vorreiterin in der internationalen Klimapolitik steht die Europäische Union unter großem Erwartungsdruck. 2020 muss sie bei den Vereinten Nationen ihre Langfrist-Strategie vorlegen. Die politische Aufmerksamkeit gilt bisher dem fehlenden Konsens unter den Mitgliedstaaten in der Frage, ob sie sich das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Ziel der »Treibhausgas-Neutralität« bis 2050 zu eigen machen sollen. Zwei Aspekte dieser Ende 2019 anstehenden Entscheidung sind bislang kaum debattiert worden – zum einen die Frage, ob damit das Ende differenzierter mitgliedstaatlicher Reduktionspflichten eingeläutet wird, zum anderen die Verschärfung des EU-Klimaziels für 2030. Beides wird die Bundesregierung bei der Neujustierung der deutschen Klimapolitik mitdenken müssen.
Seit 1990 hat die EU ihre Treibhausgas-Emissionen um 23 Prozent gesenkt. Damit liegt sie im Vergleich der westlichen Industriestaaten weit vorne. Auch das im Rahmen des Paris-Abkommens für 2030 eingereichte EU-Reduktionsziel von mindestens 40 Prozent ist vergleichsweise ambitioniert. 2018 wurden mehrere einschlägige Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen – für den EU-weiten Emissionshandel (ETS-Richtlinie), für die mitgliedstaatlichen Ziele bei nicht vom ETS abgedeckten Sektoren wie Verkehr und Landwirtschaft (Lastenteilungs-Verordnung) und für die Neuregelung bei Emissionen aus Landnutzung und Forstwirtschaft (LULUCF-Verordnung). Angesichts dieser Schritte ist es sehr wahrscheinlich, dass das EU-Klimaziel 2030 erreicht wird. Sollten auch die nur bedingt verbindlichen Ziele bei der Verbesserung der Energieeffizienz und beim Anteil der Erneuerbaren Energien verwirklicht werden, ließe sich nach Berechnungen der Kommission bis 2030 sogar eine Reduktion von etwa 45 Prozent schaffen.
Globaler Erwartungsdruck
Die EU hat sich 2015 in Paris verpflichtet, bis 2020 eine langfristige Emissionsminderungsstrategie vorzulegen. Zugleich besteht die Erwartung, dass die EU das im Paris-Abkommen angelegte Versprechen mit Leben erfüllt, die nationalen Beiträge zum globalen Klimaschutz (nationally determined contributions, NDC) sukzessive zu erhöhen. Nur so kann die Hoffnung aufrechterhalten werden, dass sich die Welt von ihrem derzeitigen Kurs auf einen Temperaturanstieg von 3 bis 3,5 Grad Celsius (°C) bis zum Jahr 2100 in Richtung des in Paris vereinbarten Zielkorridors von 1,5 bis 2 °C bewegt. Folgt man dem 2018 erschienenen 1,5-Grad-Sonderbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC SR1.5), so müssen die weltweiten Emissionen in den kommenden Jahrzehnten rechnerisch auf null sinken. Dabei würden Restemissionen, die sich nicht oder nur sehr schwer eliminieren lassen (etwa aus der Landwirtschaft, der Stahl- und Zementindustrie oder dem Luftverkehr) durch »negative Emissionen« ausgeglichen, sei es mit biologischen oder mit technischen Methoden. Betrachtet man nur die Emissionen von Kohlendioxid (CO2), so müssten diese weltweit bis 2050 auf »Netto-Null« reduziert werden. Für die wesentlich anspruchsvollere Senkung aller Treibhausgase (THG) auf Netto-Null gibt der IPCC SR1.5 das Zieljahr 2067 an.
Vor diesem Hintergrund hat die Juncker-Kommission Ende 2018 einen Entwurf für eine langfristige Klimastrategie vorgelegt. Darin schlägt sie vor, das europäische THG-Reduktionsziel 2050 von derzeit 80–95 Prozent auf netto 100 Prozent zu erhöhen, also »treibhausgasneutral« bzw. »klimaneutral« zu werden. Die Kommission achtete hier in dreifacher Weise darauf, politische Widerstände zu minimieren. Anders als bei den 2011 vorgelegten klima- und energiepolitischen »Roadmaps« für das Jahr 2050, die Polen durch ein Veto blockierte, werden die Mitgliedstaaten nicht formell über die Mitteilung der Kommission abstimmen. Das Kommissionsdokument gilt nur als Strategie-Entwurf, auf dessen Basis der Rat der EU seine eigenen Vorstellungen entwickeln und schließlich an die Vereinten Nationen (VN) melden soll. Ferner spricht sich die Kommission zwar für ein »Nullemissionsziel« 2050 aus, erklärt aber auch den derzeit gültigen Zielkorridor von 80–95 Prozent für Paris-kompatibel. Nach Auffassung der Kommission entspricht das bisherige Ziel einem fairen Beitrag der EU, um global den oberen Rand des Zielkorridors von 1,5–2°C zu erreichen, während das vorgeschlagene Nullemissionsziel bis 2050 den unteren Rand anvisiert. Zudem vermeidet es der Vorschlag der Juncker-Kommission, aus der Präferenz für eine Netto-Reduktion von 100 Prozent bis 2050 den naheliegenden Schluss abzuleiten, dass dann auch das EU-Klimaziel für 2030 verschärft werden müsste.
Europäischer Rat im Zentrum
Auch wenn das Europäische Parlament (EP) schon Anfang 2018 ein Nullemissionsziel für 2050 gefordert hat, bleiben die Abgeordneten bei der nun anstehenden Grundsatzentscheidung außen vor. Weitreichende strategische Weichenstellungen wie jene über ein EU-Klimaziel werden im Europäischen Rat vorgenommen, im Konsens der momentan noch 28 Staats- und Regierungschefs. Auch über das bei den VN einzureichende Strategiedokument entscheiden allein die Mitgliedstaaten. Erst bei Gesetzgebungsverfahren zur Anpassung der klimapolitisch zentralen Richtlinien und Verordnungen bis 2030 kommt das EP ins Spiel, und zwar als gleichberechtigter Ko-Gesetzgeber. Im Rat der EU würden die Mitgliedstaaten zudem nicht im Konsens, sondern mit qualifizierter Mehrheit entscheiden.
Beim Treffen des Europäischen Rats im Juni 2019 ist ein Konsens vor allem am Widerstand von Polen, Tschechien, Ungarn und Estland gescheitert. Sie fordern unter anderem mehr Zeit für eingehende nationale Wirkungsanalysen und drängen auf politische Zugeständnisse seitens der EU bzw. der klimapolitisch progressiveren Mitgliedstaaten. Allerdings haben sich im Juni bereits 22 Regierungen explizit hinter den Vorschlag der Kommission gestellt, und in einigen Mitgliedstaaten – etwa Schweden, Großbritannien und Frankreich – sind schon nationale Nullemissionsziele für spätestens 2050 verabschiedet worden. Insofern ist davon auszugehen, dass der Europäische Rat bei einem seiner regulären Gipfel Ende 2019 zu einer Einigung kommen wird. Dafür spricht auch, dass sich in Paris alle EU-Staaten zu dem Ziel bekannten, »in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts« netto Nullemissionen zu erreichen.
Elemente des Verhandlungspakets
Der Europäische Rat muss 2019 im Kern nur ein neues Langfrist-Klimaziel beschließen. Die Ausarbeitung und Verabschiedung der 2020 an die VN zu meldenden Strategie bleibt dem Rat der Umweltminister überlassen. Für die dabei entstehenden Dokumente gibt es kein vorgegebenes Format. Den Mitgliedstaaten eröffnen sich so Spielräume, um politische Schwerpunkte zu setzen und bei vorläufig unüberwindbaren Dissenspunkten bewusste Auslassungen vorzunehmen. Politisch weitaus gewichtiger ist der Prozess im Europäischen Rat. Dort wird es nicht nur darauf ankommen, für welches konkrete Zieljahr sich die Staats- und Regierungschefs entscheiden, sondern auch, was sie ergänzend zur künftigen Umsetzung festlegen.
Im Zentrum werden zwei Grundsatzfragen stehen. Welches Maß an Differenzierung zwischen Mitgliedstaaten ist langfristig noch möglich und vertretbar (Konvergenz)? Wie verhalten sich politisch attraktive und klimawissenschaftlich gebotene Langfristziele zur immer noch wenig ausgeprägten Bereitschaft, kurz- bis mittelfristig auch entsprechende Maßnahmen umzusetzen (Konsistenz)?
Zieljahr
Nach dem Verlauf der bisherigen Debatte scheint eine Einigung auf ein Nullemissionsziel für 2050 naheliegend. Ein späteres Zieljahr oder ein Zielkorridor (etwa 2050–2060) ist von Polen und seinen Verbündeten noch nicht ins Spiel gebracht worden, obgleich 2055 oder 2060 laut Kommission noch als »Paris-kompatibel« gelten könnte. Dieser Einschätzung wird von Umweltverbänden energisch widersprochen; sie fordern meist ein Zieljahr 2040. Dass die EU aufgrund ihrer historischen Verantwortung und ihrer ökonomischen Kapazitäten früher THG-Neutralität erreichen muss als der globale Durchschnitt, ist unter den klimapolitischen Akteuren in Europa unbestritten.
Optionen der Differenzierung
Falls es tatsächlich die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Voraussetzungen sind, was die Bremser umtreibt, könnten sie versuchen, die bisherige Differenzierung der Klimaschutzverpflichtungen auch bis zur Jahrhundertmitte aufrechtzuerhalten. Entsprechende Forderungen waren bereits aus Polen zu vernehmen. »Netto-Null« bis 2050 würde in der EU dann nicht bedeuten, dass alle mittel- und osteuropäischen Länder zu diesem Zeitpunkt bereits bei null stünden. Ihre höheren Emissionsniveaus könnten dadurch ausgeglichen werden, dass Vorreiterstaaten aus Nord- und Westeuropa 2050 bereits eine »netto negative« Bilanz aufweisen, der Atmosphäre also mehr CO2 entziehen als zuführen. Dies würde in den betreffenden Ländern nicht nur eine massive Aufforstung erfordern, sondern auch den Einsatz spezifischer Negativemissions-Technologien. Dazu zählen etwa die Direktabscheidung von CO2 aus der Umgebungsluft samt anschließender unterirdischer Speicherung oder die energetische Verwertung von Biomasse mit Abscheidung und Speicherung des CO2.
In den 2018 verabschiedeten Rechtsakten wurde festgelegt, dass ab 2021 nationale Verpflichtungen jenseits des ETS in begrenztem Umfang durch »negative Emissionen« ausgeglichen werden können, die im Rahmen der LULUCF-Verordnung primär in der Forstwirtschaft generiert werden. Die mittel- und osteuropäischen Staaten werden darauf drängen, diese Verrechnungsmöglichkeiten auszubauen. Verbündete könnten sie in Ländern finden, deren Emissionsprofil stark von der Landwirtschaft (Irland) oder der Forstwirtschaft (Finnland) geprägt ist.
Klimaziel 2030 und NDC
Auch wenn es in der Debatte um ein EU-Nullemissionsziel 2050 bislang nur am Rande um die Auswirkungen auf das 2030-Ziel geht, sind beide Entscheidungen prozedural und zeitlich eng miteinander verknüpft. Es ist zwar nicht zwingend, die Anstrengungen bis 2030 zu verstärken. Bleibt dies aus, würde jedoch die klimapolitische Glaubwürdigkeit der EU beschädigt.
Erstens ist eine Reduktion um 40 Prozent bis 2030 nicht mit dem Ziel der Treibhausgas-Neutralität bis 2050 vereinbar. Dazu müssten die Ambitionen nach 2030 enorm gesteigert werden, was kaum machbar erscheint. Zweitens sieht das Pariser Abkommen vor, dass die Vertragsstaaten neun Monate vor dem 26. VN-Klimagipfel (COP26) im Dezember 2020 ihre NDCs für 2030 einreichen oder aktualisieren. Da die EU immer als entschiedene Befürworterin einer stetigen Ambitionssteigerung unter dem Pariser Abkommen aufgetreten ist, wird von ihr ein substantieller Beitrag erwartet. Die Option, die von der Kommission errechnete »De facto«-Reduktion von 45 Prozent bis 2030 ins Zentrum des NDC der EU zu stellen, wäre wenig überzeugend und könnte das Paris-Abkommen insgesamt schwächen. Nicht zuletzt deshalb fordern auch Mitgliedstaaten wie Frankreich, Schweden und die Benelux-Länder eine Verschärfung des 2030-Ziels. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den klimapolitisch progressiven EP-Fraktionen im Vorfeld ihrer Wahl eine Initiative zugesagt, um das Ziel auf mindestens 50 Prozent anzuheben. Es ist aber fraglich, ob dies im Kreis der Staats- und Regierungschefs konsensfähig ist oder ob im Rat der EU dafür eine qualifizierte Mehrheit erreicht werden kann.
Drittens kommt eine wenig beachtete Dimension des Brexit zum Tragen, wenn mit Großbritannien der zweitgrößte Emittent austritt, dessen Reduktionen weit über EU-Durchschnitt liegen und der ein rechtlich verbindliches nationales Klimaziel von ca. 57 Prozent bis 2030 hat. Das Land dürfte sich als COP26-Gastgeber entscheiden, nicht Teil des EU-NDC zu bleiben, um seine Vorreiterrolle symbolisch mit einem eigenen NDC zu untermauern. Die EU‑27 käme auf Basis der heute rechtsverbindlichen Teilziele im Rahmen des ETS, der Lastenteilungs- und der LULUCF-Verordnung dann nur noch auf eine Minderung von etwa 37 Prozent.
Folgen für die deutsche Klimapolitik
In der deutschen klimapolitischen Debatte, die sich auf sektorale Minderungsziele, eine erweiterte CO2-Bepreisung und ein Klimaschutzgesetz bis 2050 konzentriert, bleiben die direkten und indirekten Auswirkungen des laufenden EU-Prozesses bisher unberücksichtigt. Daher wird es in den nächsten Monaten darauf ankommen, die möglichen Folgen neuer EU-Ziele zu antizipieren und in die deutsche Verhandlungsstrategie auf EU-Ebene einzubeziehen.
Mit Blick auf den langfristigen Zeithorizont muss die Bundesregierung klären, ob sie zugunsten eines Kompromisses bereit wäre, auch unter einem EU-Nullemissionsziel Klimaschutz-Vorreiter zu bleiben, also für 2050 national eine »netto negative« Emissionsbilanz anzustreben. Dies würde schon heute umfassende technologiepolitische Weichenstellungen erfordern.
Im mittelfristigen Zeithorizont geht es vor allem um die Folgen eines verschärften EU-2030-Ziels, zu dem auch Deutschland seinen Beitrag leisten müsste. Dies ergäbe sich nicht nur aus einem höheren jährlichen Reduktionsfaktor der Emissionsmenge im ETS. Auch bei den nationalen Zielen unter der Lastenteilungsverordnung wird ein Kompromiss nur dann möglich sein, wenn Deutschland eine Verschärfung seines Ziels akzeptiert. Dies gilt ungeachtet dessen, dass der aktuelle Finanzplan der Bundesregierung bereits jetzt Strafzahlungen für eine prognostizierte Zielverfehlung einkalkuliert und der Projektionsbericht des Bundesumweltministeriums davon ausgeht, die Lücke zwischen nationalen Emissionsminderungen und europäischen Verpflichtungen werde bis 2030 weiter anwachsen. Ein Beschluss zugunsten noch ambitionierterer Klimaziele wird nur dann glaubwürdig sein, wenn sich dies auch in entsprechend ehrgeizigen Maßnahmen widerspiegelt.
Dr. Oliver Geden ist Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa und Leitautor für den 6. Sachstandsbericht des IPCC.
Felix Schenuit ist Doktorand am Centrum für Globalisierung und Governance der Universität Hamburg.
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doi: 10.18449/2019A38