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Jenseits des Westens: Wie afrikanische und nahöstliche Staaten auf den Russland-Ukraine-Krieg blicken

360 Grad, 03.05.2022 Research Areas

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine war die Hoffnung im Westen groß, dass auch politische Führungen in Afrika und dem Nahen Osten das Vorgehen der transatlantischen Verbündeten mittragen würden. Doch die Länderanalysen offenbaren, wie sehr sich die Wahrnehmungen und Interessenlagen dieser Akteure von denen der westlichen Staatengemeinschaft unterscheiden.

Die Koordination dieses »360 Grad« hat Stephan Roll übernommen.

Ägypten: Politische Nähe zu Moskau versus wirtschaftliche Abhängigkeit

Erst nach einem eindringlichen gemeinsamen Appell der Botschafter der G7-Staaten hat sich Ägypten der VN-Resolution vom 2. März zur Verurteilung des russischen Einmarsches angeschlossen. Zugleich hat die Regierung unter Präsident Abdel Fatah al-Sisi deutlich gemacht, dass sie Sanktionen gegen Moskau nicht mittragen werde. Und nur wenige Tage später betonte der Präsident in einem Telefonat mit Wladimir Putin die Tiefe und Freundschaftlichkeit der historischen Beziehungen zwischen beiden Ländern.

Tatsächlich ist seit Sisis Übernahme des Präsidentenamts Ägyptens Verhältnis zu Russland deutlich enger geworden. In den vergangenen Jahren hat Russland als Weizenlieferant weiter an Bedeutung gewonnen. Russische Urlauber haben dabei geholfen, den durch die Corona-Pandemie schwer getroffenen ägyptischen Tourismussektor wiederzubeleben. Und dieses Jahr soll mit russischer Hilfe der Bau des ersten ägyptischen Atomkraftwerks beginnen. Vor allem hat Kairo in den letzten Jahren eine intensive Militärkooperation mit Moskau aufgebaut. Allein zwischen 2014 und 2020 wurden russische Rüstungsgüter im Wert von über 3,2 Milliarden US-Dollar importiert. Im Dezember 2021 haben die Marinen beider Länder gemeinsame Seemanöver durchgeführt.

Diese Entwicklung ist nicht nur auf einen grundsätzlichen außenpolitischen Strategiewechsel zurückzuführen, den Präsident Sisi in den vergangenen Jahren vollzogen hat. Mit dieser Neuorientierung wurde die starke Westbindung des Landes beendet, die prägend für die 30-jährige Mubarak-Ära war. Stattdessen wurde auf Diversifizierung der Außenbeziehungen gesetzt. Entscheidend für die Intensivierung der Beziehungen mit Moskau dürften auch systemische Gemeinsamkeiten sein: Ebenso wie Präsident Putin kommt Sisi als ehemaliger Chef des Militärgeheimdienstes aus dem Sicherheitsapparat. Militär und Geheimdienste dominieren nicht nur den politischen Entscheidungsprozess, sondern auch strategisch relevante Bereiche der Wirtschaft, wobei eine immer stärkere Machtkonzentration auf den Präsidenten selbst zu verzeichnen ist. Parlament und Judikative sind weitestgehend gleichgeschaltet, Menschenrechte werden systematisch verletzt.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus bemerkenswert, dass die ägyptische Regierung sich mit ihrem Abstimmungsverhalten zumindest ein wenig gegen Russland gestellt hat. Das Votum lässt sich mit den wirtschaftlichen Abhängigkeiten vom Westen erklären. Das hochverschuldete Land braucht ein neues Abkommen mit dem IWF und hierfür die Unterstützung der Europäer und der USA. Und auch die jährlichen US-amerikanischen Militärhilfen möchte die Führung in Kairo letztlich nicht gefährden. Russland kann den Westen als Partner somit nicht ersetzen, auch wenn die Regierung unter Präsident Sisi ihren natürlichen Verbündeten in Moskau sieht.

Iran: Keine Weltordnung, die sich zu erhalten lohnt

Mit seiner Invasion der Ukraine hat Russland Iran als den am meisten sanktionierten Staat der Welt abgelöst. Aber Moskau und Teheran teilen weitaus mehr als Sanktionserfahrungen. Beide lehnen eine maßgeblich von den USA geprägte internationale Ordnung ab, die für sie mit weitreichender politischer und wirtschaftlicher Isolierung einhergeht. Trotz erheblicher Differenzen in ihren ideologischen und geopolitischen Interessen ist es ihnen gelungen, ihr bilaterales Verhältnis sukzessive auszubauen. Russland hat nicht nur große Bedeutung für Irans Nuklearindustrie, sondern ist auch dessen militärischer Verbündeter im syrischen Bürgerkrieg.

Wirtschaftspolitisch spielt Moskau dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Es sind die ordnungspolitischen Gemeinsamkeiten, die dem russischen Staat in Irans „Blick-nach-Osten“-Strategie eine herausragende Stellung verleihen. Als revisionistischer Akteur, der eine grundlegende Änderung des internationalen Systems anstrebt, sieht die Islamische Republik in Russland neben China das größte Potential, um neue und vom Westen unabhängige Strukturen zu schaffen. Die „regelbasierte Ordnung“, welche die EU im Zuge des Ukraine-Krieges beschwört, ist aus Sicht Teherans bestenfalls defizitär. Dass jene Regeln nicht für alle Staaten gelten, wurde für Iran ein weiteres Mal im Atomkonflikt deutlich, als sich die USA unter der Trump-Administration von ihren Verpflichtungen in der Atomvereinbarung zurückzogen und damit offen gegen Sicherheitsratsresolution 2231 verstießen.

Die bestehende internationale Ordnung ist keine, die sich in den Augen Teherans zu erhalten lohnt. Doch der russische Angriff auf die Ukraine hat die iranische Führung in eine unangenehme Lage gebracht. Formal ist er mit dem „antiimperialistischen“ Credo der Islamischen Republik nicht vereinbar. Dennoch hat Teheran die Invasion nicht offiziell verurteilt und sich in den Vereinten Nationen der Stimme enthalten. Dies sorgte für Unmut im eigenen Land. Zahlreiche iranische Bürger solidarisierten sich mit der Ukraine. Animosität und Misstrauen gegenüber Russland sind weit verbreitet. Kritiker aus unterschiedlichen politischen Lagern warnen immer wieder vor einseitigen Abhängigkeiten und mahnen, Iran könne jederzeit zu Russlands Spielball im Konflikt mit dem Westen werden. Das zeigte sich unlängst bei den Atomverhandlungen in Wien, als Moskau die Gespräche kurzfristig durch eigene Forderungen an die westlichen Verhandlungsparteien zu sabotieren drohte.

Das iranisch-russische Verhältnis bleibt ambivalent. Allerdings sieht Teheran derzeit keine Alternative zu seiner außenpolitischen Ostorientierung. Mit fortschreitender Polarisierung entlang eines neuen Ost-West-Konflikts dürfte die politische Anbindung Irans an Russland sogar noch enger werden.

Israel: Zwischen moralischen Überzeugungen, Realpolitik und den Erwartungen der USA

Israel steht wegen des Krieges in der Ukraine vor einem Abwägungsproblem. Gefragt ist ein Ausgleich zwischen der moralischen Verortung bei den westlichen Demokratien, realpolitischen Herausforderungen in der Region und Erwartungen des Bündnispartners USA. So hat die Biden-Regierung ebenso wie Washingtons republikanische Opposition mehrmals angemahnt, Israel solle klarer Stellung zugunsten der Ukraine beziehen: Es gebe hier eine richtige und eine falsche Seite.

Die Mehrheit der Israelis sympathisiert mit der Ukraine. Ambivalente Positionen, meist verbunden mit Kritik am Westen, finden sich lediglich am linken und rechten Rand des politischen Spektrums, zudem in Teilen der russischsprachigen Gemeinschaft. Gleichzeitig ist die Bevölkerung mehrheitlich dafür, sich beim Thema Ukraine nicht eindeutig ins westliche Lager zu stellen.

Dies geht vor allem auf Russlands Präsenz in Syrien und seine Kontrolle über den dortigen Luftraum zurück. Israel hat ein strategisches Interesse daran, Luftschläge ausführen zu können, die verhindern, dass Iran seine Einflusszone in Syrien erweitert oder Waffen an die libanesische Hisbollah liefert. 2015 einigte sich Israel mit Russland auf einen „Konfliktentschärfungsmechanismus“; faktisch muss es für Luftangriffe das Einverständnis Moskaus einholen.

Israel versucht diesen widerstreitenden Impulsen mit einem Balanceakt gerecht zu werden. Dies geschah anfangs dadurch, dass sich Premier Bennett als Vermittler positionierte, was eine weitgehende Neutralität ermöglichte. Im Verlauf des Krieges leistete Israel dann vor allem zivile Hilfe für die Ukraine. Allerdings beteiligt sich das Land noch immer nicht an Sanktionen gegen Moskau, und bis dato verweigert es Militärhilfe für Kiew (außer der Lieferung von Helmen). Auch ukrainische Anfragen zum Erwerb der Spyware Pegasus wurden zurückgewiesen. Gleichzeitig ist Israel zum Hafen für im Westen sanktionierte jüdisch-russische Oligarchen, aber ebenso für russische Regimegegner jüdischer Herkunft geworden.

Erst im Zuge der fortschreitenden Kriegshandlungen übte Außenminister Lapid – anders als Bennett – stärker Kritik an Russland. So bezeichnete er die Geschehnisse in Butscha als Kriegsverbrechen. Auch stimmte Israel dafür, Russland aus dem VN-Menschenrechtsrat auszuschließen. Im Gegenzug bestellte Moskau den israelischen Botschafter ein und kritisierte die illegale Besatzung und schleichende Annexion des Palästinensergebiets. Zuvor hatte Russland bereits „tiefe Sorge“ über israelische Militärschläge in Syrien geäußert.

Unterdessen droht die Koalition in Jerusalem zu zerbrechen. Eine andere Regierung – absehbar unter Likud-Chef Netanjahu – könnte Israel näher an Russland rücken, da ihr Verhältnis zur US-Administration wohl belastet wäre.

Kenia: Ablehnung der russischen Invasion, ohne Partei zu ergreifen

Am 21. Februar hielt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) eine Dringlichkeitssitzung zur Lage in der Ukraine ab. Bei dieser Gelegenheit gab der kenianische VN-Botschafter Martin Kimani ein Statement ab, das international große Beachtung fand. Kimani nahm Bezug auf die Grenzziehungen durch europäische Kolonialmächte in Afrika, die man um des Friedens willen nach der Unabhängigkeit akzeptiert habe, und sprach sich gegen Verletzungen der territorialen Integrität der Ukraine aus. Medienbeiträge in den USA, Europa und Afrika werteten die Stellungnahme am Vorabend des Krieges als „beste Erklärung“ der Lage in der Ukraine und als „kühne Abfuhr“ an Russland.

Als Kenia am 2. März in der VN-Generalversammlung für die Verurteilung des russischen Einmarschs in die Ukraine stimmte, wurde dies als Hinweis auf eine sich abzeichnende weltweite Solidarisierung mit der Ukraine gesehen. Gesellschaftliche Debatten im Land zeugen allerdings von einer ambivalenten Stimmungslage. Die kenianische Presse legte in ihrer Berichterstattung besonderes Augenmerk auf Vorfälle, bei denen Afrikanerinnen und Afrikaner auf der Flucht aus der Ukraine an europäischen Grenzen rassistischer Diskriminierung ausgesetzt gewesen waren. Ähnlich kritisch wurde die Rolle Europas in den sozialen Medien diskutiert. Auch Kimanis Rede fand keineswegs ungeteilten Zuspruch: Einige Stimmen werteten die Stellungnahme als voreilige Positionierung Kenias als „Freund des Westens und Feind Russlands“, die sich nachteilig auf Nairobis internationale Partnerschaften auswirken könnte.

Auf diplomatischer Ebene hält sich die kenianische Regierung seit dem Ausbruch des Krieges bedeckt: Bitten der ukrainischen Führung, einen ihrer Vertreter vor dem kenianischen Parlament sprechen zu lassen, wurden mit der Begründung abgelehnt, Kenia habe „über den VN-Sicherheitsrat genug getan“. Zuvor hatte Kenia sich in der VN-Abstimmung am 7. April über die Suspendierung Russlands aus dem Menschenrechtsrat der Stimme enthalten. Als sich Präsident Uhuru Kenyatta besorgt über kriegsbedingt steigende Energie- und Lebensmittelpreise äußerte, bezeichneten politische Gegner dies als Ablenkungsmanöver der Regierung angesichts der Wirtschaftskrise, in der sich das Land befinde. Im Wahlkampf für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im August spielt der Krieg kaum eine Rolle; innenpolitische Themen stehen im Vordergrund. Daher sollte Kenias aufsehenerregende Stellungnahme gegen den russischen Einmarsch auf internationaler Bühne nicht als grundsätzliches Partei-Ergreifen in einem Konflikt gewertet werden, der aus Sicht der Regierung und weiter Teile der Bevölkerung vorrangig die USA, Europa und Russland betrifft.

Maghreb: Absage an das Blockdenken

Die Maghreb-Staaten sehen den Krieg in der Ukraine nicht als „ihren“ an, obwohl sie die dramatischen Auswirkungen auf Wirtschaft und Nahrungsmittelversorgung zu spüren bekommen. Der Westen offenbare Doppelstandards, und zwar mit Blick auf Interventionen (wie die US-Invasion im Irak oder den Krieg im Jemen), auf die Parteinahme für Israel im Nahostkonflikt und auf die rassistische Bevorzugung ukrainischer Flüchtlinge gegenüber jenen des globalen Südens. In solchen Sichtweisen unterscheiden sich Regierungen und Zivilgesellschaften kaum. Gerade in Algerien und Tunesien ist die russische Perspektive stark präsent, in der regierungsnahen Presse wie in den sozialen Medien: Nicht selten gilt der ukrainische Präsident als Provokateur und Aggressor. Derlei Reaktionen gründen in tiefsitzenden antiimperialistischen und antiamerikanischen Reflexen, wobei Russland paradoxerweise nicht als imperialistisch wahrgenommen wird.

Kein Maghreb-Staat hat sich den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Unterschiede im Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen lassen sich mit kolonialen Erfahrungen, geopolitischen Interessen und innenpolitischen Prioritäten erklären. Marokko etwa, das als prowestlich gilt, blieb sowohl der Abstimmung zur Verurteilung des russischen Angriffs fern als auch derjenigen zum Ausschluss aus dem Menschenrechtsrat. Marokkanische Medien begründeten diese „positive Neutralität“ mit Russlands Status als Vetomacht im Sicherheitsrat: Rabat will aufgrund des Konflikts um die Westsahara Moskau nicht verärgern. Algerien wiederum enthielt sich in der ersten Abstimmung und votierte in der zweiten gegen Russlands Ausschluss. Wegen der traumatischen Erfahrung mit der französischen Kolonialherrschaft ist der antiwestliche Reflex in Algerien besonders ausgeprägt. Das ehemalige Schwergewicht unter den blockfreien Staaten blickt auf Jahrzehnte enger militärischer Kooperation mit Russland zurück und unterhält eine strategische Partnerschaft mit Moskau. Gleichwohl hofft Algerien, Russland als Öl- und Gaslieferanten für Europa teilweise zu ersetzen. Seine Abstimmungsentscheidungen begründete Algier mit der Bindung an die VN-Charta und der Relevanz unabhängiger VN-Untersuchungen zu Menschenrechtsverletzungen. Tunesien schließlich, dessen Präsident immer wieder Einmischung von außen beklagt, aber wirtschaftlich auf europäische Unterstützung angewiesen ist, schloss sich auf westlichen Druck dem Votum gegen den Angriff an, enthielt sich jedoch in der Abstimmung zum Menschenrechtsrat.

Das Signal der Regierungen ist deutlich: Man lässt sich nicht in Blöcke zwingen, denkt in Kategorien kurzfristigen Nutzens und ist in erster Linie auf eigene Souveränität bedacht. Europa ist zwar nach wie vor engster Kooperationspartner, aber sein Einfluss auf außenpolitische Positionierungen im Maghreb schrumpft zusehends.

Palästinensische Gebiete: Schwieriger Drahtseilakt und Verurteilung westlicher Doppelstandards

Trotz des europäischen und US-amerikanischen Drängens hat die palästinensische Führung in Ramallah die russische Invasion der Ukraine nicht verurteilt. Vor dem Hintergrund ihrer ausgeprägten Außenabhängigkeit versucht die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) ihre eigenen Interessen zu wahren und weder die EU und die USA noch Russland zu verärgern. Denn einerseits kann sie nicht auf westliche Finanzhilfen verzichten und hofft auf die von der Biden-Administration angekündigte Wiedereröffnung des US-Konsulats in Ost-Jerusalem und der palästinensischen Vertretung in den USA. Andererseits pflegt sie enge, historisch gewachsene Beziehungen mit Moskau und schätzt Russland als zuverlässiges Gegengewicht zu den israelfreundlichen USA. Zudem ist sie auf Weizenimporte unter anderem aus Russland angewiesen. Nicht zuletzt hat sich Moskau in den letzten Jahren als Vermittler zwischen Fatah und Hamas engagiert.

Daher haben sich auch die De-facto-Regierung in Gaza und die Hamas-Führung auf eine „Politik der Nichteinmischung“ festgelegt. Einer der Beweggründe dafür ist eine Erfahrung aus dem Arabischen Frühling: Damals unterstützte die Hamas die syrische Protestbewegung, woraufhin ihr Hauptquartier in Damaskus vom Assad-Regime geschlossen wurde.

Die Positionierung der Führungen wird von der palästinensischen Bevölkerung weitgehend geteilt: Mitte März 2022 sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage 71 Prozent der Befragten für eine neutrale Haltung der PA aus. Und dies, obwohl sich die palästinensische Zivilgesellschaft stark mit der Situation der ukrainischen Bevölkerung identifiziert.

Zivilgesellschaft und offizielle Politik kritisieren gleichermaßen die Doppelzüngigkeit des Westens: Während dieser den ukrainischen Widerstand gegen die russische Invasion als heldenhafte Selbstverteidigung feiere, werde der palästinensische Widerstand gegen Israels Besatzung und Diskriminierung als terroristisch diffamiert. Während er gegen Russland Sanktionen und einen weitgehenden Kultur- und Sportboykott verhänge und sich westliche Firmen aus Russland zurückzögen, werde die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, and Sanctions) gegen die israelische Besatzung als antisemitisch denunziert und zunehmend kriminalisiert. Während die europäischen Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts den Internationalen Strafgerichtshof aufforderten, Ermittlungen wegen vermuteter russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine aufzunehmen, bemühten sich europäische Länder, entsprechende Untersuchungen in Palästina zu verhindern. Letztlich sei das Bekenntnis Europas und der USA zu Menschenrechten und Völkerrecht ein rein instrumentelles; es gehe darum, geopolitische Interessen durchzusetzen, nicht aber universelle Werte und Regeln. Mit der Kritik verbunden wird auch die Hoffnung, dass der Schock des Krieges in der Ukraine hieran etwas ändern könnte.

Saudi-Arabien und die VAE: Enge Verbündete der USA zeigen Distanz

Wie unzufrieden Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) mit den USA und anderen westlichen Verbündeten sind, wurde im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine ein weiteres Mal deutlich. Ende Februar 2022 enthielten sich die VAE im VN-Sicherheitsrat, als es um die Verurteilung Russlands ging. Und bei der Abstimmung über dessen Ausschluss aus dem VN-Menschenrechtsrat enthielten sich beide Länder. Damit wurde klar, dass sich die USA nicht einmal auf die diplomatische Unterstützung ihrer engsten Verbündeten im Nahen Osten verlassen konnten.

Noch wichtiger als die diplomatische Distanz war, dass sich beide Staaten weigerten, ihre Ölproduktion angesichts hoher Preise und des zu erwartenden Ausfalls russischer Lieferungen hochzufahren, um mögliche Engpässe in Europa auszugleichen. Da nur Saudi-Arabien und die VAE kurzfristig mehr als zwei Millionen Barrel pro Tag ersetzen können, war dies ein besonders schwerer Schlag für die USA und Europa. Hierbei spielten wirtschaftliche Erwägungen für Riad und Abu Dhabi eine bedeutende Rolle, die etwa ihre energiepolitische Zusammenarbeit mit Russland in der OPEC plus nicht gefährden wollen.

Beide Länder wollen auch gute Beziehungen zu Putins Russland bewahren, die sie im letzten Jahrzehnt stark ausgebaut haben. Ein Grund hierfür war das wachsende Misstrauen gegenüber den USA. Diese hatten im Arabischen Frühling 2011 große Sympathien für die Oppositionsbewegungen in der Region geäußert, 2015 ein am Golf vielfach kritisiertes Nuklearabkommen mit Iran geschlossen und seit 2019 aus Sicht Saudi-Arabiens und der VAE viel zu passiv reagiert, als ihre Ölanlagen und sonstige Infrastruktur von Iran und seinen Verbündeten im Jemen und Irak angegriffen wurden.

Riad und Abu Dhabi wollen den USA demonstrieren, dass sie für die US-Weltpolitik weiterhin unverzichtbar sind und ihre Verlässlichkeit auf Gegenseitigkeit beruht. Besonders Saudi-Arabien ist um einen Neustart in den Beziehungen mit Washington bemüht, denn Präsident Biden bezeichnete das Königreich vor seiner Wahl als „Paria-Staat“ und setzt seit Amtsantritt auf Abstand zu Kronprinz Mohammed Bin Salman. Diesem dürfte es daher auch um eine Einladung in die USA oder einen Besuch Bidens in Saudi-Arabien gehen. Riad und Abu Dhabi sind sich ihrer sicherheitspolitischen und militärischen Abhängigkeit bewusst, werden aber weiter Zurückhaltung üben, bis Washington Zugeständnisse macht. Aber auch dann wird ihr Interesse an möglichst guten Beziehungen zu Russland nicht schwinden.

Sudan: Beziehungen zu Russland im innenpolitischen Wettstreit

Am 27. Februar 2022, drei Tage nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine, trafen westliche Diplomaten den geschäftsführenden sudanesischen Außenminister Ali al-Sadiq. Ihre Botschaft war klar: „Wir haben die Republik Sudan aufgerufen, sich der Gruppe der Nationen anzuschließen und sich öffentlich für die multilaterale, auf Regeln basierende Ordnung einzusetzen und deren Verletzung durch die Russische Föderation in aller Deutlichkeit zu verurteilen“, hieß es in einem Statement nach dem Treffen.

Appelle an Sudans Verantwortung für den Multilateralismus haben jedoch wenig Aussicht auf Erfolg. Die Militärjunta, die seit dem Putsch vom 25. Oktober 2021 Sudan beherrscht, ist auf den Schutz durch die Vetomacht Russland im VN-Sicherheitsrat angewiesen. Russland ist Sudans größter Weizenlieferant und pflegt enge Kontakte zum Sicherheitssektor des ostafrikanischen Landes. In der Tradition seiner Zugehörigkeit zur Blockfreien-Bewegung enthielt sich Sudan in der Generalversammlung der VN in den Abstimmungen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine.

In Sudan gibt es einen regelrechten Wettbewerb um die Kontrolle der Beziehungen zu Russland. Während der Revolution 2018/19 trainierten private russische Militärfirmen sudanesische Sicherheitskräfte. M-Invest, ein Unternehmen, das von dem russischen Oligarchen Jewgeni Prigoschin kontrolliert wird, soll der Bashir-Regierung eine Desinformationskampagne gegen die Demokratiebewegung vorgeschlagen haben. Dennoch bot Außenministerin Mariam al-Mahdi al-Sadiq als Vertreterin der späteren, inzwischen entmachteten zivilen Übergangsregierung bei einem Besuch in Moskau im Juli 2021 an, den nächsten Russland-Afrika-Gipfel auszurichten.

Insbesondere seit dem Putsch versucht Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemedti, als Führer der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) die Beziehungen zu Russland zu nutzen, um seine Position unter den bewaffneten Kräften Sudans zu stärken. So war er während des Beginns der russischen Invasion der Ukraine in Moskau, wo er auch Außenminister Sergei Lawrow traf. Hemedtis RSF sichern Minen und Produktionsgebiete, während ein Tochterunternehmen von M‑Invest in Sudan Gold abbaut. Hemedti profitierte überdies von Fake-News-Kampagnen, die offenbar von einer Trollfabrik in Sankt Petersburg lanciert wurden, bevor Facebook die Konten abschaltete.

Hemedtis außenpolitische Aktivitäten konkurrieren mit denen Abdel Fattah al-Burhans, des Vorsitzenden des Souveränitätsrats und Führers der Streitkräfte. Dieser will zumindest die Kontrolle über die offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Russland bewahren und sich nicht von Hemedti ausstechen lassen. So ist die sudanesische Russlandpolitik ein weiteres Spielfeld des Wettbewerbs zwischen den beiden machtvollsten Putschistenführern des Landes.

Südafrika: Schlingerkurs des außenpolitischen Brückenbauers

Die südafrikanische Position zum Ukraine-Krieg wirkt fast chaotisch. Zunächst widerrief Präsident Ramaphosa ein offizielles Statement seiner Außenministerin Pandor, die Russland aufrief, sich aus der Ukraine zurückzuziehen. Dann brachte er sich als Vermittler ins Spiel, konterkarierte dies aber durch ein Telefonat mit Putin, das in Südafrika scharf verurteilt wurde. Erst Ende April gelang ein telefonisches Gespräch Ramaphosas mit Präsident Selenskyj; beide kündigten den Ausbau der bilateralen Beziehungen an. Auch in den VN verfolgt Südafrika einen Schlingerkurs. Bei den zentralen Resolutionen zum Ukraine-Krieg enthielt sich das Land; es scheiterte zudem mit einer alternativen Fassung zu einer humanitären Resolution, was als Blamage galt.

Doch wäre es verkürzt, Pretorias Standpunkt als Unterstützung für Russland und Absage an die westlichen Staaten zu interpretieren. Außenministerin Pandor bewertete die Invasion in ihren Briefings als Verletzung des Völkerrechts. Die Regierung halte sich jedoch mit offiziellen Verurteilungen zurück, die kontraproduktiv sein könnten. Stattdessen setze man weiterhin auf Mediation und Verhandlungen. Pandor unterstrich dabei Südafrikas Position der „Blockfreiheit“, die mit der Überarbeitung der außenpolitischen Leitlinien 2018/19 bekräftigt wurde.

Südafrika wollte in den letzten Jahren als Brückenbauer wieder zu einer starken außenpolitischen Rolle finden. Ziel war, sich als zentraler Akteur für eine handlungsfähige Afrikanische Union (AU) einzusetzen, durch demokratische und menschenrechtliche Prinzipien ein Partner für den Westen zu sein und gleichzeitig als BRICS-Mitglied den Austausch mit China und Russland zu pflegen. Moskaus Angriffskrieg hat die Kontextbedingungen allerdings verändert und Pretoria in Bedrängnis gebracht. Die AU-Staaten sind in ihrer Haltung zur Ukraine gespalten, westliche Staaten erwarten klare Unterstützung gegen Russland, und die Zukunft der BRICS-Allianz ist ungewiss.

Innenpolitisch läge es nur bedingt im Interesse Ramaphosas, sich eindeutig zu positionieren. Im Dezember wird der Afrikanische Nationalkongress (ANC) die Parteispitze neu wählen; dies betrifft auch Ramaphosas Position als ANC-Chef und damit seine Präsidentschaftskandidatur für die Wahlen 2024. Mächtige Parteimitglieder und Ramaphosa selbst pflegen enge Beziehungen zu Russland; dies hat mit der einstigen Unterstützung der UdSSR für den südafrikanischen Befreiungskampf zu tun. Akteure aus Zivilgesellschaft, Opposition und vereinzelt dem ANC fordern hingegen mehr Kritik an Moskau. Ein drängenderes Problem für die Bevölkerung ist indes die massive Wirtschaftskrise im eigenen Land. Die westlichen Staaten werden daher die Ambivalenzen der südafrikanischen Außenpolitik wahrscheinlich noch länger aushalten müssen.

Zitiervorschlag

Zitiervorschlag 360 Grad gesamt:

Stephan Roll (Koord.), Jenseits des Westens: Wie afrikanische und nahöstliche Staaten auf den Russland-Ukraine-Krieg blicken, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 03.05.2022 (360 Grad)

Zitiervorschlag einzelner 360 Grad-Beitrag:

Azadeh Zamirirad, „Iran: Keine Weltordnung, die sich zu erhalten lohnt“, in: Stephan Roll (Koord.), Jenseits des Westens: Wie afrikanische und nahöstliche Staaten auf den Russland-Ukraine-Krieg blicken, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 03.05.2022 (360 Grad)