Japan hat in jüngster Zeit unter Premierminister Kishida Fumio wichtige sicherheitspolitische Weichenstellungen vorgenommen. Im Dezember 2022 veröffentlichte Tokio eine neue Nationale Sicherheitsstrategie sowie zwei verteidigungspolitische Strategiedokumente. Unter anderem beschloss die Regierung eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsbudgets auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In bilateralen Gesprächen mit dem Bündnispartner USA Mitte Januar wurden Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit thematisiert. Tokio sucht mit weitreichenden Veränderungen wie der Akquise sogenannter Gegenschlagsfähigkeiten auf eine gravierende Verschlechterung des Sicherheitsumfelds zu reagieren. Auch wenn einige der angekündigten Schritte für Japan historisch sind, standen diese bereits seit langem zur Debatte und fügen sich daher in das Bild eines evolutionären Wandlungsprozesses ein, den die japanische Sicherheitspolitik seit Jahren durchläuft.
Fast zehn Jahre nachdem Japan unter dem damaligen Premierminister Abe Shinzo erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie herausgegeben hat, liegt nun eine Neufassung vor. Dem National Security Secretariat, das Abe 2013 für die ressortübergreifende Koordination eingerichtet hatte, kam bei der Erstellung eine zentrale Rolle zu. Seit der Veröffentlichung der ersten Strategie hat sich das Sicherheitsumfeld für Japan massiv verschlechtert, und so gibt das neue Dokument Aufschluss darüber, wie Tokio sich angesichts neuer Herausforderungen aufstellt. Im letzten Jahrzehnt galt Abe Shinzo als zentraler Treiber sicherheitspolitischer Reformprozesse. Selbst nach seinem Rücktritt als Premierminister 2020 agierte er in diesem Bereich weiter als wichtiger Strippenzieher. Nach seinem Tod im Juli 2022 steht das neue Strategiepapier auch für Japans Ausrichtung in der Post-Abe-Ära.
Ergänzt wird die neue Sicherheitsstrategie durch zwei zeitgleich veröffentlichte verteidigungspolitische Dokumente: die Nationale Verteidigungsstrategie und ein Plan zum Aufbau militärischer Fähigkeiten in den nächsten fünf bis zehn Jahren (Defense Buildup Program). Mit fast 130 Seiten in englischer Fassung bieten die drei Schlüsseltexte tiefe Einblicke in Japans strategische Ausrichtung.
Japans Sicherheitssorgen
Keinen Zweifel lassen die neuen Dokumente daran, dass Japan über die regionalen und internationalen sicherheitspolitischen Entwicklungen zutiefst besorgt ist. In der Sicherheitsstrategie heißt es dazu, Japan sehe sich dem »ernstesten und komplexesten Sicherheitsumfeld seit dem Zweiten Weltkrieg« gegenüber. Die bestehende internationale Ordnung stehe wegen der Aktivitäten verschiedener Länder unter Druck. Vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine könne auch im Indo-Pazifik und insbesondere in Ostasien nicht ausgeschlossen werden, dass es zu ähnlich schwerwiegenden Entwicklungen kommt. Unmittelbar konfrontiert sieht sich Japan mit gleich drei Nuklearmächten – China, Nordkorea und Russland –, die ihre militärischen Fähigkeiten ausbauen und ihre militärischen Aktivitäten in der Umgebung des Inselstaats verstärken.
Während die Strategie von 2013 im Hinblick auf China noch von »Besorgnis« spricht, stuft das neue Dokument die Volksrepublik als »beispiellose und größte strategische Herausforderung« ein. Diese Beschreibung ähnelt der Formulierung in der Nationalen Sicherheitsstrategie des Bündnispartners USA vom Oktober 2022, in der von China als der »folgenreichsten geopolitischen Herausforderung« die Rede ist. Vorangegangen war in Japan eine intensive politische Diskussion in der Regierungskoalition zwischen der Liberaldemokratischen Partei (LDP) und dem Juniorpartner Komeito darüber, ob der Begriff »Bedrohung« genutzt werden sollte. Vor allem die Komeito, die traditionell enge Beziehungen zu China pflegt, hatte sich dagegen ausgesprochen und betont, dass Japan sich um ein stabiles bilaterales Verhältnis bemühen müsse. Demgemäß nennt die Strategie auch das Ziel, konstruktive Beziehungen zu China aufzubauen und einer Eskalation von Spannungen vorzubeugen.
Chinas offizielles Verteidigungsbudget 2022 ist fast fünfmal größer als das Japans, wobei seine tatsächlichen Ausgaben laut japanischer Verteidigungsstrategie noch höher liegen dürften. Nach außen hin tritt die Volksrepublik immer selbstbewusster auf und intensiviert ihre militärischen Aktivitäten in Japans Umgebung. Auch Beijings Drohgebärden gegenüber Taiwan kommen in den Dokumenten ausführlich zur Sprache. Die Sicherheitsstrategie von 2013 hatte Taiwan nur flüchtig thematisiert, wohl auch, weil sie in einer Zeit entstand, als die Beziehungen zwischen der von der Kuomintang geführten Regierung in Taipei und Beijing besser waren.
Nordkorea wird in Japans neuer Sicherheitsstrategie als »noch ernsthaftere und unmittelbarere Bedrohung« bezeichnet. Vor allem die gesteigerte Frequenz von Raketentests und die dabei offenbarten technologischen Fortschritte veranlassen Japan zu dieser Einschätzung, auch wenn Tokio die damit verbundenen Gefahren für die eigene Sicherheit bereits in dem Dokument von 2013 erwähnt hat. Im Jahr 2022 führte Nordkorea rund 100 Raketenstarts durch. Im Oktober überflog erstmals seit fünf Jahren auch wieder eine Rakete den japanischen Archipel. Was die Weiterentwicklung der nordkoreanischen Waffentechnologie betrifft, so zeugt die japanische Verteidigungsstrategie von der Sorge über die wachsende Fähigkeit des Regimes, das Identifizieren, Verfolgen und Abfangen von Raketen zu erschweren, beispielsweise durch Nutzung von straßenmobilen Abschussfahrzeugen sowie Raketen mit Feststoffantrieb und irregulären Flugbahnen.
Für Japan ist Russlands Einmarsch in die Ukraine ein klarer Regelbruch, der das Fundament der internationalen Ordnung erschüttert. Die Forderung aus der letzten Sicherheitsstrategie nach verstärkter Kooperation mit Moskau findet sich im neuen Dokument daher nicht mehr. Stattdessen richtet Japan den Blick auf Russlands militärische Aufrüstung im Fernen Osten, die auch auf den von beiden Seiten beanspruchten Kurilen-Inseln fortschreitet.
Beunruhigt ist Tokio auch über Russlands strategische Zusammenarbeit mit China, beispielsweise in Form von gemeinsamen Übungen der Marine oder der Luftstreitkräfte. Trotzdem wird in der Strategie differenziert zwischen der Sicherheitslage in Europa, wo die Bedrohung durch Russland »bedeutend und unmittelbar« sei, und der im Indo-Pazifik, auf die Tokio mit »großer Besorgnis« blickt.
Umfassender Ansatz mit Merkmalen aus der Abe-Ära
Militärische und nicht-militärische Aspekte werden in den japanischen Strategiedokumenten als eng miteinander verschränkt betrachtet. Staaten nutzten beispielsweise Formen der hybriden Kriegsführung, indem sie die öffentliche Meinung in anderen Staaten zu manipulieren suchten (information warfare). Um den territorialen Status quo zu verändern, kämen militärische wie nicht-militärische Mittel zum Einsatz.
Nach japanischer Auffassung muss auch die Wirtschaft als integraler Bestandteil der nationalen Sicherheit betrachtet werden. Vermehrt gebe es Staaten, die sich ökonomische Abhängigkeiten anderer zunutze machten, um Druck auf sie auszuüben und Interessen durchzusetzen. Sicherheitspolitik müsse daher Faktoren wie die Verwundbarkeit von Lieferketten oder die Konkurrenz um Hochtechnologie berücksichtigen. Japan verankert damit das Thema wirtschaftliche Sicherheit klar in seiner neuen Strategie. Tokios Aufmerksamkeit gegenüber diesem Aspekt war bereits unter Abe Shinzo sichtbar geworden, als dieser im April 2020 im Nationalen Sicherheitssekretariat eine Wirtschaftsabteilung einrichtete. Unter der Kishida-Regierung hatte das japanische Parlament im Mai 2021 zudem ein Gesetz zur Förderung der wirtschaftlichen Sicherheit beschlossen.
Im Einklang mit diesem umfassenden Ansatz zur Betrachtung von Sicherheitsbedrohungen werden in der Strategie auch transnationale Risiken wie die Klimakrise oder Infektionskrankheiten erwähnt, deren Eindämmung Tokio zufolge mehr internationale Kooperation erfordert. Allerdings liegt der Schwerpunkt des Dokuments auf den für Japan unmittelbareren Gefahren, die von zwischenstaatlichen Spannungen ausgehen.
Um den vielfältigen Herausforderungen gerecht zu werden, sieht die neue Strategie ein Vorgehen vor, bei dem nationale Machtinstrumente umfassend ausgeschöpft werden. Diese Maßgabe richtet sich auf bestehende und fortzuentwickelnde Potentiale in den Bereichen Diplomatie, Militär, Wirtschaft, Technologie und Nachrichtendienst. Zu diesem Zweck soll die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Behörden und Ministerien verbessert werden, ein Ziel, das auch Abe Shinzo mit der Schaffung eines Nationalen Sicherheitssekretariats 2013 verfolgt hatte. Die Überwindung der traditionellen Säulenstruktur der japanischen Bürokratie mit großer Autonomie einzelner Ministerien bleibt jedoch ein Reformprojekt mit Hürden. Noch schwieriger dürfte es werden, den Zugang des militärischen Sektors zu ziviler Forschung und Technologie zu verbessern bzw. die Zusammenarbeit beider Bereiche zu fördern. Mit wenig sichtbarem Erfolg hatte sich schon Abe während seiner Regierungszeit diesem Ziel verschrieben. In Japan haben sich viele Hochschulen und wissenschaftliche Vereinigungen verpflichtet, ausschließlich für zivile Zwecke zu forschen. Trotz Förderungsanreizen nehmen sie nur zögerlich Abstand von dieser Position.
Die Fortsetzung der außenpolitischen Agenda Abes wird auch an der Verwendung zweier Begriffe deutlich, die dieser als Premierminister prägte. So verschreibt sich die Sicherheitsstrategie der Vision eines Freien und Offenen Indo-Pazifik (FOIP), der sich durch freie Seewege, offene Märkte, die Herrschaft des internationalen Rechts sowie gemeinsame Regeln auszeichnet. Ebenso nennt die Strategie als grundlegendes Prinzip japanischer Politik den »proaktiven Beitrag zum Frieden« – ein Schlagwort, mit dem Abe eine aktivere sicherheitspolitische Rolle seines Landes eingefordert hatte.
Investition in die Verteidigung: Japanische Zeitenwende
In Reaktion auf das verschlechterte Sicherheitsumfeld beabsichtigt Japan, seine Verteidigungsfähigkeiten in den kommenden Jahren »grundlegend zu stärken«. Bis zum Fiskaljahr 2027 will es sein Verteidigungsbudget auf 2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) stufenweise anheben und dann auf diesem Niveau halten. Für die Fiskaljahre 2023 bis 2027 plant die Regierung in Tokio Ausgaben von insgesamt 43 Billionen Yen (etwa 303 Milliarden Euro), mehr als 1,5-mal so viel wie im derzeit noch geltenden Fünfjahresplan.
Für Japan wäre dies eine drastische Erhöhung – ein Einschnitt, der historischen Charakter hat. Denn über Jahrzehnte hat sich das Land (sieht man von minimalen Überschreitungen ab) an eine selbstauferlegte politische Konvention aus dem Jahr 1976 gehalten, nach der es nicht mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgibt. Damit wollte Tokio sicherstellen, dass es im Sinne seiner Verfassung keine Macht wird, die für andere Länder eine militärische Bedrohung darstellt.
Auch wenn die geplante Aufstockung des Etats auf 2 Prozent des BIPs bedeutend ist, kommt sie de facto keiner Verdopplung der Verteidigungsausgaben gleich, da Tokio die Berechnungsgrundlage ändert. Haushaltsposten, die bisher nicht unter das Verteidigungsbudget fielen, sollen künftig in diesem berücksichtigt werden, so beispielsweise die Mittel für die Küstenwache. Die tatsächliche Erhöhung könnte deshalb Schätzungen zufolge eher beim 1,6-fachen der bisherigen Ausgaben liegen.
Mindestens ebenso bemerkenswert wie die beschlossene Budgetaufstockung selbst ist angesichts der angespannten Sicherheitslage das lange Festhalten Japans an der 1‑Prozent-Konvention. Politisch umstritten war diese seit Jahrzehnten. Noch zu Zeiten des Kalten Krieges hatte der damalige Premierminister Nakasone Yasuhiro 1986 die Begrenzung offiziell abgeschafft, wobei die tatsächlichen Verteidigungsausgaben in seiner Amtszeit das Limit nur geringfügig überstiegen. In den letzten Jahren stand die Selbstbeschränkung verstärkt in der Kritik und Kishidas Vorgänger Suga Yoshihide und Abe Shinzo hatten betont, dass Japan nicht daran gebunden sei. In ihrem Wahlprogramm 2021 hatte die LDP bereits das Ziel festgeschrieben, das Verteidigungsbudget auf 2 Prozent des BIPs anzuheben.
Unklar war zum damaligen Zeitpunkt allerdings, ob auch der politische Wille ausreichen würde, um dieses Versprechen zu realisieren. Die anhaltende Verschlechterung der Sicherheitslage 2022 und besonders die Spannungen um Taiwan gaben den Befürwortern einer Haushaltserhöhung jedoch Aufwind. Dabei spielte der Krieg in der Ukraine insofern eine zentrale Rolle, als er das reale Risiko einer militärischen Auseinandersetzung für die japanische Bevölkerung greifbar machte. Eine Umfrage der Zeitung Yomiuri Shimbun vom Dezember 2022 ergab, dass immerhin eine Mehrheit von 51 Prozent der Befragten den Plänen für die Budgetaufstockung zustimmte, während 42 Prozent diese ablehnten. Im japanischen Kontext ist dies durchaus ein hoher Zustimmungswert. Gleichwohl unterstreicht dieses Ergebnis, dass in der japanischen Gesellschaft weiterhin eine große Skepsis gegenüber dem Nutzen militärischer Mittel herrscht.
Auch beim Junior-Koalitionspartner, der Komeito-Partei, wuchsen 2022 die Sorgen über die Sicherheitslage. Die Komeito mit ihren traditionell antimilitaristischen Positionen hatte bis dahin eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben abgelehnt. Allerdings schwenkte sie aufgrund der »jüngsten schwerwiegenden Veränderungen« im sicherheitspolitischen Umfeld Japans auf den LDP-Kurs ein, wie der Parteivorsitzende Yamaguchi Natsuo im Dezember 2022 erklärte.
Klärungsbedarf bei Finanzierung und Prioritäten
Ungeklärt ist indes, wie das Plus bei den Verteidigungsausgaben finanziert werden soll. In Betracht kommen Steuererhöhungen, die Aufnahme von Schulden und die Umwidmung von Budgets aus anderen Bereichen zugunsten des Verteidigungsetats. Einer Ausgabe zusätzlicher Staatsanleihen steht Premierminister Kishida angesichts der hohen Staatsverschuldung von rund 230 Prozent kritisch gegenüber. Er schlägt vor, etwa ein Viertel der Budgetaufstockung durch Steuererhöhungen zu bestreiten und den Rest durch Umwidmungen und andere Maßnahmen. Zur Debatte stehen beispielsweise Anhebungen der Tabaksteuer, der Körperschaftssteuer und der Einkommenssteuer.
In der Finanzierungsfrage zeichnet sich starker Gegenwind für Kishidas Pläne ab. Die Bevölkerung lehnt Steuererhöhungen mehrheitlich ab. Die parlamentarische Opposition befürwortet zwar fast ausnahmslos eine Aufstockung des Verteidigungshaushalts, kritisiert allerdings Kishidas Finanzierungsvorschlag. Selbst in den eigenen Reihen der LDP regt sich Widerstand. Etliche LDP-Politiker halten die Ankündigung von Steuererhöhungen angesichts der fragilen Wirtschaftslage für unangemessen. Einige Parteivertreter favorisieren daher eine Schuldenfinanzierung. Auch die Überlegung Kishidas, Budgets aus anderen Bereichen umzuwidmen, dürfte auf erhebliche Widerstände treffen, wenn es konkret wird. Es bleibt daher abzuwarten, ob der Regierungschef die Mittel für seine angekündigte Haushaltsaufstockung tatsächlich in vollem Umfang mobilisieren kann.
Japan wird auch detaillierter bestimmen müssen, welche militärischen Fähigkeiten es bei den Anschaffungen der kommenden Jahre priorisiert. Die Verteidigungsstrategie nennt sieben Bereiche, in denen die Fähigkeiten der Streitkräfte ausgebaut werden sollen: sogenannte »Stand-off«-Fähigkeiten, integrierte Flugabwehr, unbemannte Systeme, Cross-Domain-Fähigkeiten, Führung und Aufklärung, Mobilität und schnelle Einsatzfähigkeit von Truppen und Resilienz der Streitkräfte. Folgt man den aktuellen Plänen, so liegt der Schwerpunkt auf einer größeren Bevorratung von Munition und auf der Wartung von Ausrüstung, womit Tokio offenbar eine Lehre aus dem Krieg in der Ukraine zieht. Ein weiterer Fokus richtet sich auf die Anschaffung und Entwicklung von Raketen und insbesondere Langstreckenraketen, mit denen Japan auch Gegenschlagsfähigkeiten aufbauen will.
Gegenschlagsfähigkeiten: Offensiv‑Defensiv-Debatte
Laut Nationaler Sicherheitsstrategie soll Japan in die Lage versetzt werden, »effektive Gegenschläge auf das Territorium eines Gegners« auszuführen, von dem Japan mit Raketen oder anderen Mitteln angegriffen wurde. Dadurch sollen weitere Attacken des Aggressors vereitelt werden. Die Gegenschläge seien auf ein für die Selbstverteidigung nötiges Minimum zu begrenzen, wobei Tokio explizit Präventivaktionen ausschließt.
In den letzten Jahren hat Tokio bereits in Raketen kürzerer Reichweiten von um die 200 Kilometer investiert. Diese sollten eine Verteidigung gegen Bedrohungen in Japans unmittelbarer Umgebung ermöglichen, beispielsweise im Falle eines gegnerischen Landungsversuchs auf abgelegenen Inseln. Auf Langstreckenraketen, die andere Länder erreichen können, hatte Tokio aber aus Rücksicht auf antimilitaristische Einstellungen in der Bevölkerung verzichtet.
Nun aber plant Japan die Beschaffung und Entwicklung verschiedener Raketen mit Reichweiten von mindestens 1000 Kilometern. Dazu will es den Radius und die Funktionalität seiner eigenen Schiffsabwehrrakete vom Typ 12 verbessern und gleichzeitig bis zum Fiskaljahr 2027 amerikanische Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite von rund 1.600 Kilometern beschaffen. Darüber hinaus entwickelt Japan beispielsweise Hyperschallraketen, die wohl aber erst in den 2030er Jahren einsatzfähig sein werden.
Die Ankündigung Japans hat für Aufsehen gesorgt, weil das Land seine Nachkriegsverfassung dahingehend ausgelegt hat, dass diese nur eine rein defensiv ausgerichtete Verteidigungspolitik (senshu boei) erlaubt. Allerdings hatte die Regierung in Tokio bereits 1956 entschieden, dass Gegenschläge auf Raketenbasen im Dienste der Selbstverteidigung verfassungskonform sind, wenn keine andere Möglichkeit der Gegenwehr besteht. Dem japanischen Weißbuch von 2022 zufolge gelten für Tokio solche Waffen als Offensivwaffen, die eine massive Zerstörung im Land des Gegners bezwecken, wie etwa strategische Langstreckenbomber oder Interkontinentalraketen. Unter diesen Voraussetzungen argumentiert die japanische Regierung, dass der bisherige Verzicht auf Langstreckenraketen rechtlich nicht zwingend ist.
Hintergrund des neuesten Aufrüstungsbeschlusses sind die schon seit einigen Jahren geäußerten Zweifel japanischer Sicherheitsexperten, dass die eigenen Raketenabwehrsysteme angesichts der Raketenarsenale Chinas und Nordkoreas ausreichenden Schutz bieten. Für Beunruhigung sorgt in diesem Zusammenhang vor allem die chinesische Aufrüstung: Während China mittlerweile etwa 2000 Mittelstreckenraketen besitzt, die Japans Territorium erreichen können, haben die USA – dem bis 2019 geltenden INF-Vertrag mit Russland entsprechend – auf derartige landgestützte Raketen verzichtet. In dem militärischen Ungleichgewicht, das dadurch im konventionellen Bereich entstanden ist, liegt für viele japanische Militäranalysten ein erhebliches Stabilitätsrisiko.
Im Verbund mit dem US-Bündnispartner sollen die neuen japanischen Mittelstreckenraketen daher helfen, potentielle gegnerische Angriffe abzuschrecken. Nach Ansicht etlicher japanischer Experten geht es dabei nicht darum, Abschreckung durch die Androhung von Vergeltungsschlägen mit inakzeptablen Verlusten für den Gegner (deterrence by punishment) zu erreichen. Abschreckung soll vielmehr dadurch gewährleistet werden, dass durch aktiven Widerstand die Erfolgsaussichten eines Angriffs gemindert werden (deterrence by denial). Als mögliche Ziele von Gegenschlägen werden in japanischen Debatten Militäreinrichtungen des Gegners wie etwa Kommandozentralen oder Munitionslager genannt, wobei die Sicherheitsstrategie diesbezüglich keine Aussage trifft.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum die japanische Regierung keinen Widerspruch zwischen den angestrebten Gegenschlagsfähigkeiten und der bisherigen defensiv ausgerichteten Verteidigungspolitik des Landes sieht. In der Opposition gibt es jedoch kritische Stimmen, die sich gegen diese aus ihrer Sicht verharmlosende Argumentation wenden.
Wenn man jedoch bedenkt, dass Japan bereits im Besitz von Systemen wie F-35 Kampfflugzeugen, kleinen Flugzeugträgern der Izumo-Klasse und von Kurzstreckenraketen ist, so wird klar, dass der Inselstaat längst über die technischen Fähigkeiten für begrenzte offensive Operationen gegen potentielle Angreifer verfügt. Was die in der Sicherheitsstrategie verkündete Entscheidung jedoch so historisch macht, ist Japans erstmaliges offizielles Eingeständnis, dass es seine Sicherheit nur mit dem Aufbau derartiger Fähigkeiten gewährleisten zu können glaubt.
Die Meinung der japanischen Öffentlichkeit ist geteilt – eine Umfrage im Dezember ergab, dass 50 Prozent der Befragten die Pläne für den Aufbau von Gegenschlagsfähigkeiten befürworten, während 43 Prozent diese ablehnen. Vor einigen Jahren wäre das Bild wohl viel eindeutiger zugunsten der Vertreter eines Verzichts auf diese Fähigkeiten ausgefallen. Für Debatten wird das Thema aber weiter sorgen. Kritiker beschäftigt nicht nur der Streit um den offensiven Charakter der Raketen, sondern auch die Frage, ob Japan damit nicht zu einem Wettrüsten in der Region beiträgt. Ungeklärt ist auch, ob Japan Gegenschläge ausführen kann, wenn es das Recht auf kollektive Selbstverteidigung ausübt. 2014 hatte Tokio verkündet, dass die Verfassung dem Land dieses Recht unter bestimmten Bedingungen zugesteht. In Parlamentsdebatten haben Regierungsvertreter allerdings abgestritten, dass Gegenschläge in Fällen der kollektiven Selbstverteidigung möglich wären.
Auf einer Linie mit den USA
Für die Bündnisbeziehung mit den USA hat Japans sicherheitspolitische Neuausrichtung weitreichende Bedeutung. Mitte Januar 2023 trafen in Washington Premierminister Kishida und Präsident Biden sowie die Außen- und Verteidigungsminister beider Seiten in sogenannten 2+2-Gesprächen zusammen, um die Implikationen des japanischen Kurswechsels für die bilaterale Kooperation zu besprechen. Dabei hätte die amerikanische Reaktion auf Tokios Pläne wohl kaum positiver ausfallen können. Gemäß der gemeinsamen Erklärung lobte Biden »Japans mutige Führungsrolle« beim Ausbau seiner Verteidigungsfähigkeiten. Auch US-Außenminister Blinken und Verteidigungsminister Austin würdigten Tokios Ankündigung, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen und Gegenschlagsfähigkeiten zu entwickeln.
Durch seine Rüstungsanstrengungen wird Japan für die USA zu einem noch fähigeren Bündnispartner. Dies ist angesichts der Tatsache, dass das Land in den letzten Jahren eine immer wichtigere Rolle in der US-Sicherheitspolitik spielt, ein bedeutender Vorgang. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Fokussierung Washingtons auf China als Herausforderer der amerikanischen Vormachtstellung sind das Bündnis mit Japan und die dort stationierten US‑Truppen von immensem strategischem Wert. Im Falle eines Konflikts um Taiwan wären amerikanische Militäroperationen ohne japanische Unterstützung wohl kaum durchführbar.
Der gemeinsamen Erklärung lässt sich auch entnehmen, dass die beiden Partner in ihrer sicherheitspolitischen Ausrichtung übereinstimmen. Biden und Kishida heben darin hervor, ihre Zusammenarbeit sei »beispiellos«, verankert in der geteilten Vision eines freien und offenen Indo-Pazifiks und in einem gemeinsamen Wertekanon.
Mit den hochrangigen Besuchen in Washington hat Tokio verdeutlicht, dass es seine Sicherheitspolitik weiterhin fest in den Allianzkontext einbindet. Der Fähigkeitsaufbau wird Japan zwar mehr politisches Gewicht innerhalb des Bündnisses verleihen, eine wirklich autonome Handlungsgrundlage schafft sich Tokio damit aber schon allein wegen des deutlichen Machtungleichgewichts gegenüber China nicht.
Bislang verfügen die USA und Japan in ihrer Allianz weder über gemeinsame Planungs- noch über integrierte Kommandostrukturen. Die Rollenverteilung zwischen den Partnern sah bisher im Wesentlichen vor, dass Japan bei einem Invasionsversuch gegnerische Truppen identifiziert und diese militärisch abhält, also als »Schild« fungiert, während die USA als »Schwert« der Allianz offensive Fähigkeiten vorhalten und einsetzen. Wenn Tokio nun Gegenschlagsfähigkeiten erwirbt, verliert diese Aufteilung an Klarheit. Die Bündnispartner müssen nun Konsultations-, Entscheidungs- und Befehlsprozesse überdenken und reformieren. Sie müssen sich auch darüber abstimmen, in welchen Fällen und gegen welche Ziele die Gegenschlagsfähigkeiten zum Einsatz kommen sollen, welche strategische Absicht dabei leitend sein soll und wie beide Seiten die operativen Verantwortlichkeiten aufteilen. Auch wenn Japan die Anschaffung neuer Aufklärungssatelliten plant, wird es für die Nutzung seiner Gegenschlagsfähigkeiten wohl auf absehbare Zeit von US-Geheimdienstinformationen und ‑Überwachungsdaten abhängig bleiben. Dementsprechend kündigen beide Seiten in der gemeinsamen Erklärung der Außen- und Verteidigungsminister vom Januar eine Vertiefung der Kooperation an, um einen effektiven Einsatz der Gegenschlagsfähigkeiten zu gewährleisten. Zudem hat die Biden-Regierung signalisiert, dass sie Japans Wunsch unterstützt, Tomahawk-Marschflugkörper zu kaufen, die die USA bisher einzig an Großbritannien geliefert haben.
Washington und Tokio wollen aber auch bei anderen Themen enger zusammenarbeiten. Die Truppen beider Seiten sollen vermehrt Infrastruktur wie Flug- und Seehäfen sowie Munitionslager gemeinsam nutzen. Der Austausch und die Auswertung geheimdienstlicher Informationen soll durch eine im November 2022 geschaffene bilaterale Stelle (Bilateral Intelligence Analysis Cell) verbessert werden. Intensiviert werden soll auch die beidseitige Forschung zu neuen, kritischen Technologien wie etwa im Bereich autonomer Systeme, und die Entwicklung von Systemen zum Abfangen von Hyperschallraketen.
Auch im Bereich Cyber Security wollen die USA und Japan stärker kooperieren. Bereits 2019 hatten sich die Bündnispartner darauf verständigt, dass Cyber-Angriffe unter die Beistandsverpflichtung ihres Sicherheitsvertrags fallen können. Japan hat nun in seiner neuen Sicherheitsstrategie die Einführung einer aktiven Cyber-Abwehr-Strategie angekündigt, nach der es bei computergestützten Angriffen auch in gegnerische Server eindringen darf, um diese zu neutralisieren. Die Bündnispartner planen derzeit eine engere Zusammenarbeit im operativen Bereich, bei der Festlegung von Sicherheitsstandards behördlicher Software oder auch bei der Unterstützung des Fähigkeitsaufbaus von gleichgesinnten Staaten im Indo-Pazifik.
Das Thema wirtschaftliche Sicherheit stand im Januar ebenfalls auf der bilateralen Agenda. Die USA drängten in diesem Zusammenhang darauf, dass Japan und die Niederlande sich den US-Exportkontrollen vom Oktober 2022 anschließen, die Chinas Zugang zu Technologie für die Halbleiterfertigung erschweren soll. Medienberichten zufolge einigten sich die drei Länder Ende Januar auf gemeinsame Maßnahmen, verzichteten aber auf eine offizielle Bekanntgabe. Die Niederlande hatten im Vorfeld mehrmals betont, derartige Kontrollen lägen in ihrer nationalen Kompetenz.
Unklar ist, ob damit alle handelspolitischen Differenzen zwischen Japan und den USA ausgeräumt werden konnten. Für japanische Firmen im Bereich Halbleitertechnik ist China ein wichtiger Absatzmarkt, den sie nicht an Konkurrenten aus anderen Ländern verlieren wollen.
Die USA und Japan beabsichtigen auch, die Kooperation mit weiteren Partnern voranzutreiben, etwa mit den Staaten Südostasiens oder des Südpazifiks, mit den Quad-Partnern Australien und Indien sowie mit der Nato der und EU. Trilateral soll die Zusammenarbeit mit Australien ausgebaut werden, ebenso wie mit Südkorea, dessen Präsident Yoon Suk-yeol bemüht ist, den Streit mit Japan um die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter beizulegen.
Japan und Europa als Partner
Japans neue Strategiedokumente sind von der Erkenntnis der engen Verschränkungen zwischen regionalen Herausforderungen und globalen Entwicklungen, wie den Machtverschiebungen im internationalen System, getragen. Tokios sicherheitspolitischer Blick – der in der Vergangenheit oft sehr auf sein direktes Umfeld bzw. die Partnerschaft mit den USA verengt war – hat sich geweitet, auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und der wahrgenommenen Wechselwirkungen zwischen euroatlantischer und indopazifischer Sicherheitsordnung. Neben seiner Zusammenarbeit mit den USA und regionalen Partnern wird Japan daher dem Trend der letzten Jahre folgen und die Anbindung an Europa in sicherheitspolitischen Fragen suchen.
Die Sicherheitsstrategie nennt eine Reihe von Handlungsoptionen, um die Zusammenarbeit mit Europa (und anderen Partnern) zu intensivieren, etwa Dialoge, bilaterale Übungen der Streitkräfte, gemeinsame Rüstungsprojekte oder die Aushandlung von Vereinbarungen zur gegenseitigen logistischen Unterstützung und Versorgung von Truppen. Bereits im Dezember gab Japan mit Großbritannien und Italien ein gemeinsames Projekt zur Entwicklung eines neuen Kampfflugzeugs bekannt – ein bedeutender Schritt für Tokio, das große Rüstungsprojekte bisher nur mit den USA verfolgte.
Für Deutschland und Europa bietet eine engere sicherheitspolitische Kooperation mit Japan Chancen, nicht nur weil Tokio ein wichtiger Akteur im Indo-Pazifik ist, sondern auch weil es Bereitschaft zeigt, global mehr Verantwortung zu tragen. Wohl kein anderes Land findet ähnlich viel Gehör in amerikanischen Strategiedebatten über den Indo-Pazifik und China wie Japan. Auch angesichts der gestiegenen Bedeutung des G7-Formats ist Tokio ein zentraler Partner für Deutschland, zumal es in diesem Jahr die Präsidentschaft übernommen hat.
Dr. Alexandra Sakaki ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Asien.
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DOI: 10.18449/2023A13