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Internationale Pläne, libysche Realitäten

Die Beschwichtigung Khalifa Haftars droht den Konflikt zu verschärfen

SWP-Aktuell 2019/A 65, 22.11.2019, 4 Pages

doi:10.18449/2019A65

Research Areas

Vor fast acht Monaten begann der Angriff der »Libysch-Arabischen Streitkräfte« Khalifa Haftars auf Tripolis. Ein Ende der Kampfhandlungen ist nicht in Sicht. Die laufenden diplomatischen Bemühungen ignorieren die Realitäten vor Ort. Die derzeitigen Kräfte­verhältnisse bieten keine Chance, zu einem politischen Prozess zurückzukehren. Dafür bedürfte es entweder robuster internationaler Sicherheitsgarantien oder die beiden sich bekämpfenden Lager müssten zerfallen. Solange Haftar in Tripolis vorrücken kann, werden er und seine externen Unterstützer Verhandlungen nur als Taktik nutzen, um ihre Gegner zu spalten und die Macht zu ergreifen. Wollen Deutschland und andere westliche Regierungen eine Verhandlungslösung herbeiführen, sollten sie auf die Schwächung von Haftars Allianz hinarbeiten – und letztlich auf die Zeit nach Haftar.

Nach den ersten Tagen der Offensive im April 2019 hatten Haftars Verbände in Tripo­lis monatelang keine Geländegewinne mehr gemacht. Ebenso wenig konnten seine Geg­ner – eine Allianz bewaffneter Gruppen aus westlibyschen Städten, deren Ursprünge im Krieg gegen Gaddafi 2011 liegen – die Angreifer zurückwerfen. Die Rückerobe­rung der Stadt Gharyan Ende Juni war der letzte bedeutende Erfolg dieser Allianz. Seit dem Verlust Gharyans ist Tarhuna die ein­zige Basis für Haftars Bodenoffensive, wo­mit der Miliz der Kani-Brüder in der Stadt eine zentrale Rolle in seiner Allianz zufällt.

Mit der Dauer des Krieges hat militärische Unterstützung aus dem Ausland für beide Seiten stetig an Bedeutung gewonnen. Zu­gleich sind die Hemmschwellen, zivile Opfer in Kauf zu nehmen, zusehends niedriger geworden. Als die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ab Mitte April Kampfdrohnen zur Unterstützung Haftars einsetzten, zog die Türkei Mitte Mai nach und setzte ihrer­seits Drohnen gegen Haftar ein. Seit Ende Juni warfen Kampfflugzeuge der Emirate zu­dem wiederholt Bomben über Tripolis ab. Im August errangen die VAE weitgehende Lufthoheit; die türkischen Drohnen kom­men kaum mehr zum Einsatz.

Dass Haftar dennoch nicht entscheidend vorangekommen ist, liegt daran, dass seine Kapazitäten, libysche Kämpfer zu mobilisieren, begrenzt sind. In seinen Verbänden fin­den sich Einheiten, die er in den letzten Jahren im Osten aufgebaut hat, und bewaff­nete Gruppen aus einigen westlibyschen Städten, die oft weitgehend unabhängig von ihm sind. Unter ihnen sind Salafisten und ehemalige Anhänger des Gaddafi-Regimes prominent vertreten.

Um die Oberhand zu gewinnen, setzt Haf­tar eine wachsende Zahl tschadischer und sudanesischer Söldner ein – vor allem aber Söldner des russischen Unternehmens Wagner, die seit September in Tripolis kämpfen. Bis Mitte November ist ihre Zahl auf weit über tausend Mann angewachsen. Erst mit diesem – zweifellos vom Kreml bewilligten – russischen Kontingent konnte Haftar ab Anfang November wieder Terri­torialgewinne verbuchen. Folge des russi­schen Eingreifens war allerdings, dass die USA der Offensive Haftars nicht länger gleichgültig zusahen, sondern ihn dazu auf­riefen, sie zu beenden. Ob diesem Aufruf weitere Maßnahmen folgen werden, ist noch unklar.

Als Folge der langen Pattsituation ist die Kriegsmüdigkeit unter den bewaffneten Gruppen beider Seiten gewachsen. In Haf­tars Allianz zeigt sich dies daran, dass der Anteil der Söldner größer wird. Seine Gegner erheben zusehends lautstärkere Vorwürfe gegen die Regierung in Tripolis: Sie sei nicht entschlossen genug, Haftar zu schlagen, beschaffe nicht die dafür nötigen Waffen aus dem Ausland und ihre Mit­glieder seien entweder damit beschäftigt, sich selbst zu bereichern, oder sie steckten gar mit Haftar unter einer Decke. Den Anti-Haftar-Kräften gelingt es immer weniger, junge Männer für den Kampf an der Front zu mobilisieren. Da sich die Fronten seit Monaten nicht mehr bewegt haben, halten es viele nicht mehr für dringlich, sich am Kampf zu beteiligen. Deutliche Vorstöße Haftars hätten vermutlich eine erneute Mobilisierung zur Folge.

Zermürbungskrieg

Angesichts des langen Stillstands hoffen beide Seiten, das jeweils gegnerische Lager werde zerfallen, je länger der Krieg dauert. Diese Hoffnungen sind nicht völlig grund­los, meist aber überzogen.

Haftar setzt auf die langsame Zermürbung seiner Gegner. Er genießt großzügige ausländische Unterstützung. Die chinesischen Drohnen der Emiratis sind dem tür­kischen Modell klar überlegen. Die eben­falls von den Emiraten gelieferten russischen Luftabwehrsysteme verschaffen Haftars Basen einen wichtigen Vorteil. Beständige Luftangriffe sollen das Arsenal der Gegner nach und nach vernichten – das wird aller­dings nur gelingen, wenn die Regierung in Tripolis weiterhin Schwierigkeiten hat, zer­störtes Material zu ersetzen.

Zudem erwarten Haftar und seine externen Unterstützer, einzelne gegnerische Milizenführer könnten bald die Seiten wechseln. Das jedoch erscheint unwahr­scheinlich, denn kein Überläufer kann dar­auf vertrauen, dass Haftar nach einem Sieg Versprechen halten wird, die er zuvor gegeben hat.

Zwar stimmt es, dass Haftars Gegner nur die Gefahr eint, die für sie von ihm ausgeht: Zwischen den einzelnen Akteuren der Anti-Haftar-Allianz gibt es beträchtliche Span­nungen. Gegenseitiges Misstrauen herrscht vor, das von früheren Konflikten oder der Erwartung bevorstehender Konkurrenzkämpfe herrührt. Doch wird der Opportu­nismus dieser Kräfte oft überschätzt. Der Großteil der Kommandeure und Kämpfer glaubt nicht nur fest daran, für eine gerech­te Sache zu kämpfen – nämlich gegen die gewaltsame Errichtung einer Diktatur. Viele von ihnen sind zudem tief im sozia­len Leben einzelner Städte verwurzelt und überzeugt, dass sie ihre Familien und Ge­meinden verteidigen. Sollten sie den Krieg gegen Haftar verlieren, bliebe ihnen nur die Flucht ins Ausland. Insofern ist zu er­warten, dass Haftars Gegner nicht so leicht aufgeben werden.

Die Anti-Haftar-Kräfte hoffen darauf, unter Ausschluss Haftars einen Waffenstillstand mit den Milizen aus Tarhuna aus­handeln zu können, mit denen Haftars Offensive steht oder fällt. Diese Vorstellung ist durchaus plausibel: Schon der letzte Bür­gerkrieg in Westlibyen wurde 2015 durch lokale Waffenstillstände beendet. Die Miliz der Kani-Brüder hat sich Haftars Allianz erst mit Beginn der Offensive angeschlossen und sich zuvor in der Wahl ihrer Verbündeten opportunistisch gezeigt. Die Kontakte zwischen dem Anti-Haftar-Lager und Ver­tretern Tarhunas sind nie abgerissen; im­mer wieder gibt es Ansätze zu Verhandlungen. Doch diese werden nur Fortschritte machen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: ers­tens müsste Haftar in die Defensive geraten, damit der Verhandlungsdruck auf Tarhuna steigt – was derzeit nicht der Fall ist. Zwei­tens müssten Haftars Gegner garantieren, dass sie Tarhuna nach einem Bruch des Bündnisses mit Haftar nicht einnehmen – durch Stationierung von Einheiten, die auf beiden Seiten Respekt genießen.

Der Berliner Prozess

Im September 2019 initiierten die Bundes­regierung und der UN-Sondergesandte Ghassan Salamé den »Berliner Prozess«, der die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheits­rats mit den in Libyen intervenierenden Staaten zu Gesprächen zusammenführt. Ursprüngliches Ziel war es, diese Staaten auf einer hochrangig besuchten Konferenz zu verpflichten, ihre Unterstützung für die Konfliktparteien einzustellen und das Waffenembargo zu respektieren. So sollten die Voraussetzungen für einen Waffen­stillstand und die Wiederaufnahme des politischen Prozesses geschaffen werden.

Unter Haftars Unterstützern drängten jedoch Ägypten, Frankreich und die VAE darauf, sich nicht auf die Problematik der ausländischen Einmischung zu beschrän­ken, sondern auch schon die Konturen einer innerlibyschen Lösung vorzuzeich­nen. Ein Aussetzen der emiratischen Droh­nenangriffe bei anhaltenden Kämpfen am Boden hätte wahrscheinlich Haftars Nieder­lage zur Folge. Diese Staaten können also nicht darauf vertrauen, dass ein Ende aus­ländischer Einmischung zu einer für sie günstigen Verhandlungslösung führen würde. In Berlin wird deshalb auch über die Einzelheiten eines Waffenstillstands ver­handelt, über die Rahmenbedingungen des politischen Prozesses sowie über einzelne »Reformen«, die für eine Beendigung des Krieges nötig erscheinen. Nach Vorstellung der ausländischen Unterstützer Haftars müssten vor allem der Vorstand der Zen­tral­bank neu besetzt und die »Milizen« de­mobilisiert werden – womit sie nur jene der Gegner Haftars meinen.

Die internationale Konstellation, die sich im Berliner Prozess widerspiegelt, läuft dar­auf hinaus, dass Haftar im Gegenzug für einen Waffenstillstand große Zugeständnisse gemacht würden. Zugleich würden seine Verbände im Großraum Tripolis bleiben – denn dort befinden sie sich bereits in Ge­stalt der Milizen aus dem nahen Tarhuna.

Solche Vorstellungen, über die in Berlin unter Ausschluss der libyschen Konflikt­parteien diskutiert wird, sind jedoch mit den Handlungsoptionen der Haftar-Gegner unvereinbar. Die Anti-Haftar-Allianz ist zer­brechlich und ohne starke politische Füh­rung. Sollten sich einzelne ihrer Vertreter auf einen bedingungslosen Waffenstillstand mit Haftar – oder gar auf weitergehende Zugeständnisse – einlassen, zerfiele diese Allianz in Befürworter und Gegner eines solchen Arrangements. Das unterschwellige Misstrauen zwischen einigen Bündnis­partnern würde in erbitterte Feindschaft umschlagen. Der Zerfall der Anti-Haftar-Allianz wiederum würde es Haftar ermög­lichen, sowohl militärisch vorzurücken als auch manche Gegner auf seine Seite zu ziehen. In der gegenwärtigen Lage wären Verhandlungen mit Haftar also fatal für seine Widersacher – die sich dieser Gefahr auch sehr wohl bewusst sind.

Die Lancierung des Berliner Prozesses beruhte auf der Annahme, dass Haftars ausländische Unterstützer nach mehreren Monaten Krieg zu dem Schluss gekommen seien, ein militärischer Sieg sei unrealistisch, und deshalb auf Verhandlungen setz­ten. Dass diese Annahme falsch ist, zeigt nicht nur das Eintreffen russischer Söldner seit September. Auch Frankreich, Ägypten und die VAE dürften Verhandlungen nur als Schritt in Richtung Machtergreifung Haftars ansehen. Es gibt keinen Grund an­zunehmen, dass diese Staaten gerade jetzt von ihrem langjährigen Ziel abgerückt sind, Haftar zu ermächtigen.

Sollte sich eine Minderheit der Anti-Haftar-Kräfte auf einen Waffenstillstand und Verhandlungen einlassen, würde das keineswegs ein Ende des Konflikts herbeiführen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass dann eine wesentlich blutigere Phase des Krieges beginnt. Haftar könnte die Span­nungen unter seinen Gegnern ausnutzen und in dicht besiedelte Wohngebiete von Tripolis vorzustoßen – womit der Konflikt weitaus größere Verluste unter der Zivil­bevölkerung fordern würde. Und sollte es Haftar tatsächlich gelingen, die Kontrolle über Tripolis zu erringen – was weitere, möglicherweise jahrelange Kämpfe und großflächige Zerstörung voraussetzen würde –, hätte er noch immer nicht jene Städte eingenommen, in denen seine Geg­ner am stärksten verwurzelt sind: Misrata, Zawiya und die Städte der Amazigh (Ber­ber). In seiner Allianz sind Rachegelüste gegen die Bewohner dieser Städte weit ver­breitet; Versuche, sie zu unterwerfen, wären mit Sicherheit von Kriegsverbrechen und willkürlicher Repression begleitet.

Alternativen

Eine politische Lösung wird erst möglich sein, wenn Haftar nicht mehr in der Lage ist, die mit einem Verhandlungsprozess ein­hergehende Spaltung seiner Gegner mili­tärisch auszunutzen. Dieser Fall könnte in zwei möglichen Szenarien eintreten: Zum einen indem die USA und europäische Staaten robuste Garantien bieten, dass sie Haftar an der Verletzung eines Waffenstillstands hin­dern werden. Dazu bedürfte es weitaus mehr als nur Worte, denn die USA, die EU und die UN haben in Libyen nach­haltig an Vertrauen verloren, weil sie nicht auf Haftars Offensive reagierten. Die bloße Beobachtung eines Waffenstillstands ohne eine bewaffnete Friedensmission würde keinesfalls ausreichen, um Sicherheit zu gewährleisten. Sämtliche Beteiligten schlie­ßen Blauhelme aber aus.

Das zweite mögliche Szenario wäre, dass auch Haftars Allianz zerfällt, so dass die Gefahr einer erneuten Haftar-Offensive nicht mehr akut wäre. Denkbar ist ein solcher Zerfall etwa, wenn es zu militärischen Rückschlägen und lokalen Verhandlungen in Westlibyen käme oder wenn seine ausländischen Unterstützer umschwen­ken – indem sie ihre Empfänger in Libyen diversifizieren oder indem westliche Staa­ten gegenüber Haftars Unterstützern eine härtere Linie verfolgen. Den USA käme bei der Eindämmung des wachsenden russi­schen Einflusses sicherlich eine Schlüssel­rolle zu. Eine berechenbare und konsistente Libyenpolitik wird es freilich mit der amtie­renden US-Administration nicht geben.

Auch Deutschland könnte deutlich mehr Einfluss ausüben als bisher – durch eine intensivere Auseinandersetzung mit Frank­reich. Dessen politische Unterstützung für Haftars Krieg schädigt europäische Inter­essen; dies wird aber bislang kaum thema­tisiert, weder von Frankreichs europäischen Partnern noch von der französischen Öffent­lichkeit. Das liegt vor allem an der Diskre­tion, mit der die französische Diplomatie ihren Kurs verfolgt, seitdem im Juni 2019 französische Waffen in einer Basis Haftars gefunden wurden und kurzzeitig für Wir­bel sorgten. Ein offenerer Umgang mit die­ser Politik dürfte die französische Führung in Erklärungsnot bringen. Ziel sollte sein, dass die Europäer den Unterstützern Haf­tars gegenüber eine geschlossene Haltung einnehmen.

Die Zersplitterung der Allianz Haftars könnte durchaus auch seine Autorität im Osten untergraben und dort erneute In­stabilität verursachen. Dazu wird es aber vermutlich ohnehin kommen, denn Haftars widerstrebende Anhänger im Osten sind nur im Kult um seine Person geeint und werden durch die Repression zusammengehalten, die vom engsten Zirkel um den 76-Jährigen organisiert wird. Haftars Abtre­ten könnte in jedem Moment auch im Osten unkontrollierbare Machtkämpfe zur Folge haben. Auf eine Ära nach Haftar hin­zuwirken wäre eine sinnvollere Realpolitik für Libyen, als ihn zu ermächtigen. Letzte­res würde bedeuten, diesem Krieg bis zu seinem bitteren Ende zuzusehen.

Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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ISSN 1611-6364