Im Zuge der Corona-Pandemie wurden die globalen Lieferketten empfindlich gestört. Inzwischen haben die Störungen auf zahlreiche Wirtschaftszweige übergegriffen, auch die Konsumenten bekommen sie zu spüren. Eine kurzfristige Besserung ist nicht in Sicht, was gravierende Folgen für weltweite Produktionsprozesse hat. Betroffen waren bei Ausbruch der Pandemie vor allem medizinische Schutzgüter – der Zusammenbruch des internationalen Handels ließ aber auch in anderen Sektoren Lieferengpässe entstehen.
Die Instabilität von Lieferketten ist in der Pandemie schmerzlich spürbar geworden. Sie gefährdet die Versorgungssicherheit ebenso wie Cyberangriffe und geopolitische Unwägbarkeiten entlang von Lieferketten. Soll auf diese Herausforderungen angemessen reagiert werden, gilt es, die pandemiebedingten Einschnitte als Auftrag und Chance zugleich zu verstehen. In der politischen und unternehmerischen Gestaltung von Lieferketten sind nachhaltige Änderungsprozesse anzustoßen, um der wachsenden Anfälligkeit von Lieferketten entgegenzuwirken und dem steigenden Bedarf an kritischen Gütern zu entsprechen.
Deutschland ist als Handelsnation in besonders hohem Maße auf stabile Lieferketten und sichere Außenhandelsbedingungen angewiesen. Versorgungssicherheit ist insofern eine zentrale Bedingung für die Überlebensfähigkeit des Industriestandorts Deutschland, aber auch maßgeblich für eine gesicherte Belieferung mit einer Fülle von Konsumgütern. Die Kumulation hemmender Rahmenbedingungen in vielen Bereichen der Weltwirtschaft wirkt dabei als Treiber der Debatte über die Versorgungssicherheit in Deutschland. Ressourcenknappheit ist der Kernbegriff bei der Analyse von Produktionsproblemen und Versorgungsengpässen, die neben Halbleitern auch Rohstoffe und grundlegende Fertigungsmaterialien betreffen. Nach einer Analyse der internationalen Konjunktur durch das Institut für Weltwirtschaft (IfW) sind dafür keineswegs nur konjunkturelle Nachholeffekte als Auswirkung der Corona-Pandemie ursächlich, sondern auch Unterbrechungen globaler Lieferketten sowie Probleme der Logistik- und Containerbranche, die sich nur mit großer zeitlicher Verzögerung werden lösen lassen. Das bedeutet für die deutsche Industrie derzeit eine Minderung der Produktion um schätzungsweise 5%.
Die Störanfälligkeit hat zugenommen
Offene und integrierte Märkte sind die Voraussetzung für ein effektives Funktionieren von Lieferketten. Doch geraten deren Mechanismen immer stärker unter Druck: durch externe Ereignisse, Markteingriffe und ‑manipulationen sowie geplante Unterbrechungen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs. Dass Zulieferbetriebe im Ausland aufgrund diverser Behinderungen ihrer Produktion eingegangenen Lieferverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten, ist ebenso Teil dieser Realität wie das Fehlen von Produkten und Zulieferteilen als Folge wachsender Nachfrage durch eine anziehende Konjunktur.
So führt das Allianz Risk Barometer 2021 auf der Grundlage von Unternehmensbefragungen zu potentiellen Verlusten und Störszenarien, die Unternehmen in Deutschland als Folge der Coronavirus-Pandemie bewältigen müssen, drei zentrale Risiken an: Betriebsunterbrechung (50%), dicht gefolgt von Cyber-Vorfällen (48%) und dem Pandemie-Ausbruch (35%). Von den Unternehmen wird stärkeres Engagement im betrieblichen Risikomanagement erwartet, um Umsatzverlusten, Produktivitätseinbußen und einem Anstieg der Betriebskosten vorzubeugen; von der Politik erwarten wiederum die Unternehmen Vorgaben zu Rahmenbedingungen und Unterstützung bei wachsenden handelspolitischen Konflikten.
Unterbrochene Lieferketten sind dabei kein neues Phänomen. Unvorhergesehene oder ungeplante Ereignisse können den gewohnten Waren- und Materialfluss in einer Versorgungskette unterbrechen. Dass zur Deckung des Bedarfs gegebenenfalls der Lieferant gewechselt wird, ist der schlichtere Fall; auch Lagerkapazitäten lassen sich mit überschaubarem Aufwand ausweiten. Betriebsschließungen und umfängliche Schadensersatzverfahren können indes die wirtschaftliche Existenz vieler Unternehmen massiv gefährden.
Die gegenwärtige Komplexität globaler Lieferketten, just-in-time-Produktionen und engmaschig aufeinander abgestimmte Transportwege sind eine stetig größere Herausforderung für die weltweiten Liefernetzwerke. Sie steigern die Störanfälligkeit durch interne sowie externe Parameter. Die Pandemie fungiert dabei als Verstärker bereits vorhandener Lieferkettenprobleme: Nach deren Ausbruch wurde schnell deutlich, wie fragil das Netz globalisierter Warenströme ist, wenn ein weltweiter Gesundheitsnotstand eintritt. Die nationalen wie internationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie führten zu gravierenden Einschnitten in die globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten. Unmittelbar betroffen von den Ereignissen ab März 2020 waren Güter der medizinischen Grund- und Intensivversorgung. So wurden insbesondere Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken und Schutzkleidung zusehends knapper. In der aktuellen vierten Welle gilt dies für Testmaterialien. Die Abhängigkeit von China und von vielen aus der Volksrepublik importierten (medizinischen) Gütern wie auch von Medikamenten aus Indien wurde während der Ausbreitung des Coronavirus in besonderem Maße spürbar.
Abgesehen von solchen Pandemien haben auch globale Länder- und Standort-Risiken (z. B. Naturkatastrophen, Streiks, Brände und Explosionen an Produktionsstätten oder Logistikknotenpunkten) sowie Cyber-Sicherheitsgefährdungen unmittelbare Auswirkungen. Oftmals werden aber noch immer Abhängigkeiten in den heutigen komplexen Wertschöpfungsketten unterschätzt, insbesondere hinsichtlich des Schadenausmaßes, das sich über die verschiedenen Stufen der Lieferkette vervielfachen kann.
Zielkonflikt wirtschaftliche Effizienz vs. Versorgungssicherheit
Der pandemiebedingte Rückzug aus globalen Wertschöpfungsketten rückte einen Zielkonflikt in den Fokus wirtschaftspolitischer Erwägungen: den zwischen Kosteneffizienz nach unternehmerischer Logik und Versorgungssicherheit in nationalstaatlicher Perspektive. Als das bisher zentrale Kalkül, die Zulieferung aus Ländern mit günstiger Kostensituation erfolgen zu lassen, zu akutem Mangel relevanter Güter wie medizinischem Material führte, setzte eine Debatte über den Ausbau nationaler Standorte für die Produktion dieser Kategorie von Gütern ein. Damit wird unmittelbar auf die Frage nach der Strategie verwiesen, die verfolgt werden muss, um auf zukünftige Ereignisse von ähnlicher Tragweite adäquat reagieren zu können.
Die Blockade des Suezkanals durch das auf Grund gelaufene Containerschiff »Ever Given« verursachte nicht nur einen Verlust, der für die gesamte Woche der Havarie auf sechs bis zehn Milliarden US-Dollar geschätzt wurde. Er verschärfte auch die ohnehin schon angespannte Lage der weltweiten Handelsströme und Liefernetzwerke. So gilt in vielen Fertigungsbetrieben noch immer das Prinzip der just-in-time-Produktion, wonach – um Lagerkosten zu sparen – für Fertigungen benötigte Bestandteile erst bei unmittelbarem Bedarf angeliefert werden sollen. Knapp bemessene Lieferzeiten und eng kalkulierte Transportwege sind dann ein Problem, wenn ein einzelnes Glied der Lieferkette ausfällt, was schnell weitreichende Folgen für die gesamte Weltwirtschaft haben kann.
Speziell die Knappheit an Halbleitern erweist sich als potentielle Gefahr für das Funktionieren globaler Wertschöpfungsketten, gerade weil sie intensiv gehandelt werden und insofern als Risikofaktoren für die weltweite Nachfrage gelten. So wurde insbesondere die Automobilbranche weltweit durch den Stopp von Produktionsstraßen und der damit einhergehenden kurzfristigen Einführung von Kurzarbeit hart getroffen. Als Ursache kann hier die hohe Nachfrage nach Halbleitern genannt werden, die aus dem großen Bedarf an Mikroelektronik im Zuge einer fortschreitenden Digitalisierung resultiert.
Engpass Transportsektor
In der traditionellen Sicht auf Lieferketten spielte der Transport eine eher untergeordnete Rolle, sowohl hinsichtlich der Wertschöpfung wie auch als Kostenfaktor. Dies hat sich deutlich verändert: Fabrikschließungen in China Anfang 2020, Lockdowns in mehreren Ländern der Welt, Arbeitskräftemangel, eine robuste Nachfrage nach handelbaren Gütern, Störungen der Logistiknetze und Kapazitätsengpässe haben die Frachtkosten stark ansteigen lassen und die Lieferzeiten merklich verlängert. Die tagelange Blockade des Suezkanals durch das Containerschiff »Ever Given«, coronabedingte Sperrungen im Hafenverbund Ningbo-Zhoushan vor der Provinz Wuhan und im Hafen Yantian der Millionenmetropole Shenzhen hatten erhebliche Terminverzögerungen von Lieferungen aus China zur Folge.
Gerade in der Logistikbranche ist daher eine Diskussion entbrannt, wie Risiken reduziert werden können, ohne mit der Rückführung von Unternehmens- oder Herstellungsprozessen ins Inland (reshoring) eine vollständige Umkehr des seit Jahren betriebenen Outsourcings einleiten zu müssen. In der Konsequenz werden auch hier größere Anstrengungen unternommen, Transportmittel und ‑wege zu diversifizieren, um jenseits des stark belasteten internationalen Containerverkehrs eine weitgehend ungestörte Warenzirkulation über die Versorgungsadern des globalen Handels zu ermöglichen. Der Schienentransport und die Luftfracht könnten dabei für bestimmte Güter eine Alternative sein.
Ungeachtet dessen ist gegenwärtig ein drastischer Preisaufschlag bei den Transportkosten zu verzeichnen, der weltweit eine Verteuerung der Güter zur Folge hat. Kostete vor der Corona-Pandemie im Januar 2019 der Transport eines Containers von Shanghai nach Hamburg noch 2.000 Euro, wurde im September 2021 erstmals ein Preis von 20.000 Euro aufgerufen. Dieser extreme Anstieg der Frachtraten durch Containerknappheit und lange Wartezeiten der Schiffe vor verstopften Welthäfen macht deutlich, dass in der Abwicklung von Transportgeschäften kaum mehr Puffer vorhanden sind, die Engpässe in den Lieferketten abfedern könnten.
Gezielte Angriffe auf Lieferketten
Explizite Angriffe auf Lieferketten stellen zunehmend ein Problem für globale Wertschöpfungsketten dar, insbesondere im Kontext von Cybersecurity. Mit Blick auf Lieferketten richten sich Cyberangriffe häufig gegen Dienstleister, die ihre Kunden mit Software und Netzwerklösungen ausstatten. Nach Schätzungen der zuständigen EU-Agentur ENISA (European Union Agency for Cybersecurity) hat sich die Zahl solcher Angriffe im Jahr 2021 vervierfacht. Ein Cyberangriff liegt dann vor, wenn Waren, Dienstleistungen oder anderweitige Technologien, die ein Anbieter an einen Kunden liefern soll, beschädigt und kompromittiert wurden.
Die zentrale Schwachstelle ist das Verteilungssystem der Zulieferer, und Unternehmen der Logistikbranche stehen bei der Verbreitung von Schad-Software in besonderem Maße im Visier der Angreifer. Beim Aufspielen von Software-Updates werden entsprechende Codes mit der Folge modifiziert, dass anschließend sämtliche Systeme blockiert sind. Ein Risiko besteht dabei sowohl für die Kunden als auch für das betroffene Unternehmen, wobei Ausmaß und Qualität der Schäden stets von der Art des Angriffs und dessen Intention abhängen.
Im Falle einer Attacke auf das Glied einer Lieferkette, die »supply chain attack«, wird das betroffene Unternehmen erpresst und großer finanzieller Schaden angerichtet; in der Folge können mit dem Ausfall eines einzigen Glieds in der Lieferkette im Sinne eines Kaskadeneffekts weitreichende Produktionsausfälle eintreten. Die Angreifer nutzen beispielsweise ein kompromittiertes/gehacktes E‑Mail-Konto oder sorgen für die Verbreitung von Malware-Infektionen (sogenannte Ransomware-Angriffe) per Mailversand, der über eine E‑Mail-Adresse des Lieferanten erfolgt. Aufwändigere Angriffe können auch das gesamte Netzwerk eines Lieferanten kompromittieren und dessen administrativen Zugang nutzen, um das eigentliche Zielnetzwerk zu infiltrieren. Bei besonders schwerwiegenden Angriffen werden zudem vertrauenswürdige Software-Tools modifiziert.
Während Staaten diese Form von Cyberangriffen bislang im Kontext nachrichtendienstlicher Aktivitäten nutzten, stecken insbesondere hinter Ransomware-Attacken immer häufiger kriminelle Akteure. Der Angriff auf den Software-Dienstleister Kaseya im Juli 2021 durch die russische Hackergruppe REvil infizierte die Rechner betroffener Unternehmen mit Malware und machte diese unbrauchbar. Die digitale Infrastruktur des Unternehmens ließ sich in der Folge nicht mehr nutzen, solange es kein Lösegeld zahlte. Zwar wurden REvil primär kriminelle und monetäre Beweggründe für den Ransomware-Angriff zugeschrieben, eine trennscharfe Klassifizierung solcher Angriffe ist häufig jedoch schwierig.
Als im Dezember 2020 das Netzwerkmanagement-System Orion der Softwarefirma SolarWinds kompromittiert wurde und 18.000 Netzwerke betroffen waren, die diese Anwendersoftware nutzten, fiel der Verdacht rasch auf die Hackergruppe APT29 / Cozy Bear; sie gilt als Teil des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR. Mittlerweile geht man davon aus, dass von den potenziell 18.000 Betroffenen des Angriffs auf SolarWinds weniger als 100 Geschädigte waren. Allerdings befinden sich hierunter auch Teile der Bundesregierung der USA, wie unter anderem das Verteidigungsministerium oder auch das Finanzministeriums. Solche Vorfälle legen nahe, dass Hackergruppen nicht nur rein monetäre Intentionen haben, die sich auf das Erpressen von Lösegeldzahlungen beschränken, sondern dass sie auch weiter reichender Schadinteressen verfolgen können. Darauf deutet jedenfalls die implizite oder auch explizite Involvierung staatlicher Stellen hin, wie des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR im Falle des Ransomware-Angriffs auf SolarWinds.
Handlungsoptionen für die deutsche Wirtschaft und Politik
Globale Lieferketten werden zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Unsicherheit ihrer Strukturen, aber auch potentieller Risiken betrachtet, die sich aus Störungen für die Versorgungssicherheit ergeben. Dies gilt zumal für die stetig steigende Nachfrage und Bedeutung wachstumsrelevanter Güter. Unternehmen und Politik sind daher gefordert, durch geeignete und möglichst gemeinsame Maßnahmen die Anfälligkeit von Lieferketten zu reduzieren und denkbaren Krisen vorzubeugen, indem sie erweiterte Instrumente nutzen, wie strategische Versorgungssicherheitspolitik und vermehrte Lagerhaltung. Die Umbrüche innerhalb der Wertschöpfungsketten bieten so auch die Chance, bislang vernachlässigte Aufgaben der strategischen Aufstellung Deutschlands in Sachen Versorgungssicherheit neu anzugehen. Hier eine gute Balance zwischen De-Globalisierung, Re-Regionalisierung und Entschleunigung von Wirtschaftsprozessen zu finden ist die gemeinsame Gestaltungsaufgabe in Deutschland, aber auch im europäischen Verbund.
»Verantwortungsvolle Lieferketten« als unmittelbare unternehmerische Verantwortung
Von zentraler Bedeutung ist, dass Unternehmen gegenüber ihren Zulieferern Sorgfaltspflichten wahrnehmen. Diese Pflichten beziehen sich nicht nur auf die nun gesetzlich verankerten Vorschriften, die für die Durchsetzung von Menschenrechten und Nachhaltigkeit gelten, sondern sollen grundsätzlich auch für Transparenz und Nachverfolgbarkeit von Einkaufspraktiken im Sinne von Stabilität und Zuverlässigkeit sorgen. Reputations- und Haftungsrisiken sind hier direkt angesprochen, die Zertifizierung der eigenen Lieferkette ist dabei ein wichtiges Instrument.
Neben das etablierte Prinzip des »know your customer« muss ein ebenso ausgefeiltes Verfahren treten, das der Maxime »know your provider« folgt. Der Druck auf die Rohstoffhändler, mehr Transparenz über Herkunft und Abbau von Mineralien herzustellen, muss daher steigen. Dies bei sich verschärfender Konkurrenz um Rohstoffe durchzusetzen bedarf großer internationaler Handlungskompetenz der Unternehmen: Nach Schätzungen der Internationalen Energieagentur wird im Jahr 2040 mehr als das Sechsfache an mineralischen Rohstoffen benötigt, um bis 2050 die gewünschte Netto-Null-Treibhausgasemission zu erreichen. Bei einigen Stoffen wie etwa Lithium könnte die Nachfrage bis zum Jahr 2030 sogar um das Dreißigfache steigen.
Nachvollziehbare Transparenzregeln und umfassende Risikoabschätzung ermöglichen es, die Anfälligkeit und Verletzbarkeit von Lieferketten zu reduzieren; dies liegt in hohem Maße im Interesse von Unternehmen, wenn sie weiterhin im Markt erfolgreich bleiben wollen. Damit verbunden ist aber auch eine Modifizierung der bislang geltenden Grundprinzipien für das Management von Lieferketten, die vor allem geprägt sind von Machtasymmetrien der Arbeitsteilung, Kosten- und Zeitdruck, umfassende Zergliederung und räumliche Entkopplung von Produktionsprozessen sowie Anonymität. Solange sich die wertschöpfungsintensiven Stufen der Lieferkette in den Industrieländern konzentrieren, die Förderung und Produktion aber in Länder mit weniger hohen Standards ausgelagert werden, ist ein »sauberes« und weniger krisenanfälliges Management von Lieferketten nicht zu erwarten.
Selektive Re-Regionalisierung von Produktionsverflechtungen
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Strategie des »reshoring« neu begriffen werden muss, insbesondere wenn es darum geht, den Zugang zu kritischen (Medizin-) Gütern sicherzustellen. In Anbetracht der starken Einbindung der deutschen Wirtschaft in die globalen Wertschöpfungsketten und ihrer umfassenden Rolle innerhalb der Europäischen Union (EU) ist ein generelles »reshoring« nicht angezeigt. Dagegen sollte vor allem eine Sicherstellung der Versorgung mit kritischen Gütern und Produkten, für die Rohstoffvorkommen außerhalb der EU benötigt werden, im Fokus der politischen Gestaltung von Lieferketten-Governance stehen. Die aktuelle Knappheit an Rohstoffen, die für die Produktion von Industriegütern unverzichtbar sind, ist nur ein Beispiel, das eine gemeinsame Strategie von Wirtschaft und Politik ebenso sinnvoll erscheinen lässt wie ein Überdenken bisheriger rohstoffstrategischer Erwägungen. Im Austausch mit den EU-Partnerländern sollte im Sinne einer gemeinsamen europäischen geopolitischen Strategie ein einheitliches Vorgehen angestrebt werden. Nur so wird sich in Zukunft die Frage adäquat beantworten lassen, wie Versorgungssicherheit durch stabile Lieferketten gewährleistet werden kann.
Aktualisierung der Rohstoff-Strategie und der Resilienz-Regime
Um den weltweit steigenden Bedarf beispielsweise an seltenen Erden zu decken und die Anfälligkeit von Lieferketten zu reduzieren, ist anzustreben, im Einklang mit den europäischen Partnern auch bilaterale privatwirtschaftliche Kooperationen zwischen Abbauländern und deutschen Unternehmen einzugehen und zu intensivieren. Die Bundesregierung kann hierzu durch Rechtssicherheit und Planbarkeit beitragen und dadurch einen stabilen außenpolitischen Rahmen schaffen. Dies sollte im Rahmen einer Anpassung der Rohstoffstrategie erfolgen.
Staatliche Eingriffe sind jedoch auf komplementäre und flankierende Maßnahmen zu beschränken, um etwaigen Abhängigkeiten vorzubeugen, die mit Abnahmegarantien oder der Bevorteilung einzelner Bereiche verbunden sind. Die zu schaffenden operativen Handlungsmuster sollten neben der Bewältigung externer Probleme auch ein Risikomanagement implizieren, das die internationalen Gefahren für Lieferketten minimiert.
Ein effektives Resilienz-Regime, das die Fähigkeiten von Unternehmen verbessert, auf unvorhergesehene Veränderungen adäquat zu reagieren, kann die Lieferketten-Netzwerke absichern und liegt insofern auch im Interesse der Politik. Gleiches gilt für die industrielle Transformation hin zur Supply Chain 4.0, bei der eine Integration neuer und digital vernetzter Technologien mit dem Ziel angestrebt wird, effizienter und intelligenter zu produzieren. Nur wenn die Bundesregierung hierzu geeignete Rahmenbedingungen etablieren kann, etwa ein höheres Maß an Digitalisierung und Automatisierung, bietet sie den Unternehmen ein verlässliches handelspolitisches Umfeld.
Insbesondere Cyberangriffe auf staatliche Stellen, kritische Infrastruktur und Lieferketten haben erheblich sowohl an finanzieller als auch an geopolitischer Brisanz gewonnen. Insofern gilt es, bereits vorhandene Werkzeuge zur Verbesserung der Cybersecurity vollumfänglich auszuschöpfen und neue Handlungsmöglichkeiten zu ermitteln, auch gemeinsam mit den europäischen Partnern.
Aufbau einer strategischen Lieferketten-Politik
Jenseits akuter Störungen in den Lieferketten sind deren langfristige Auswirkungen auf die globale Wirtschaft derzeit nur begrenzt abzuschätzen. Eine Rückkehr zum Lieferkettenmodell vor Eintritt der Pandemie ist nicht mehr möglich, denn Lieferketten müssen mittlerweile anderen, erweiterten Anforderungen genügen. Lag in der Vergangenheit bei der Gestaltung einer Lieferkette der Schwerpunkt auf Kostenminimierung, rücken unter dem Eindruck der jüngsten Störungen (veränderte Handelsmuster, Lieferengpässe, Angriffe und Lockdowns) andere Kriterien in den Vordergrund: Den Unternehmen wird mehr Agilität abverlangt; umfassende Maßnahmen mit dem Ziel, die Resilienz und damit die Stabilität der gesamten Wertschöpfungskette zu steigern, sind unumgänglich geworden. Hinzu treten die Ausrichtung an den Zielgrößen Nachhaltigkeit und Versorgungssicherheit. Lieferketten werden ein maßgebliches Instrument der Globalisierung bleiben, allerdings gilt es, gefährdende Faktoren effektiv anzugehen, um ein nachhaltiges Stocken der Weltwirtschaftsleistung zu verhindern. Angezeigt ist daher, das globale Lieferkettenmodell zu überdenken und umzugestalten.
Einseitige Abhängigkeiten reduzieren. Die Schwachstelle vieler Unternehmen liegt in ihrer Abhängigkeit von China, insbesondere von der Lieferung chinesischer Rohstoffe, Bauteile oder Fertigprodukte. Daher müssen sich die Unternehmen bemühen, ihre Beschaffungspartner zu diversifizieren. Ein Ergebnis ist die sogenannte China+1-Strategie, mittels der Unternehmen, die früher bei Beschaffung und Herstellung von China stark abhängig waren, nun versuchen, ihre Kapazitäten auf zusätzliche Märkte auszudehnen. In der Folge sind Vietnam, Thailand, Malaysia, Kambodscha, Indonesien und Indien zu regionalen Produktionszentren im asiatischen Raum geworden. Das Muster Chinas als »Fabrik der Welt« hat erhebliche negative Auswirkungen auf die globalen Lieferketten, die deshalb sehr viel flexibler ausgestaltet werden müssen, um Produktionsrisiken zu reduzieren.
Mit einer Modifizierung des »single sourcing« im Sinne einer stärker diversifizierten Lieferantenstruktur im upstream-Bereich ist gleichzeitig aber auch der Weg zu einer modularen Anlage von Lieferketten gewiesen, die höhere Ansprüche an deren Organisation und interner Abstimmung stellen. Insofern erscheint es angezeigt, die Neuaufstellung von Lieferketten mit ergänzenden Elementen zu verbinden.
Näher am Ort der Nachfrage produzieren. Die Option des »nearshoring« gestaltet sich für die jeweiligen Produktionszweige sehr unterschiedlich, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verfügbarkeit von Rohstoffen. Die Überlegungen reichen dabei bis zu einer vermehrten Ansiedlung von Produktionsstätten im Mittelmeerraum, allerdings wird dies nicht für alle Produktionszweige möglich sein. Gefordert ist daher eine politische Entscheidung darüber, welche Güter und Dienstleistungen strategische Bedeutung für die Versorgungssicherheit Deutschlands und Europas haben, um für die Wirtschaft klare und berechenbare Rahmenbedingungen zu setzen. Dies sollte nicht im Sinne einer staatlich verordneten Autarkiepolitik und eines überschießenden Protektionismus verstanden werden, sondern dazu anregen, verschiedene Instrumente wie die Rohstoffstrategie und die Lieferketten-Politik verstärkt zusammenzudenken. Daraus wären dann auch Vorgaben für die Lagerhaltung strategischer Produkte oder redundante Formate bei essenziellen Dienstleistungen abzuleiten.
Dabei sind die Ansprüche an eine nachhaltige Transport-Infrastruktur (etwa die Energie- und CO2-Bilanz bei Transport und Verpackungsaufwand) als weiteres Kriterium aufzunehmen. Um das Risiko von Störungen bei Transportinfrastruktur und Logistik gering zu halten, ist auch hier eine Diversifizierung zugunsten unterschiedlicher Transportwege und ‑mittel angezeigt, was den Aufbau einer größeren Zahl regional verteilter Logistik-Hubs erfordert. Solche multimodalen Lösungen können auch insofern kosteneffizienter sein, als sie die Transitzeit bei näher gelegenen Produktionsstandorten oder Zwischenlagern verkürzen, die Zuverlässigkeit steigern und die Kundenversorgung verbessern.
Modular gestaltete Lieferketten führen zu Machtverschiebungen. Eine Abkehr vom »single sourcing« verändert die Machtbeziehungen in den Lieferketten. Die Bindung an nur einen Zulieferer stärkt die Position des einkaufenden Unternehmens, das von dem Zulieferer Preisnachlässe und sonstige Vergünstigungen erwartet. Eine Diversifizierung verbessert die Verhandlungsposition der Zulieferer und eröffnet ihnen mehr Möglichkeiten, eine günstigere Position in der Lieferkette zu erlangen. Dies dürfte auch außenpolitisch von Interesse sein. Denn wenn es um die Durchsetzung von Nachhaltigkeitskriterien und Sozialstandards geht, kommen zudem die Staaten mit ins Spiel, in denen die Zulieferer angesiedelt sind.
Im Zuge einer solchen Diversifizierung sind die Unternehmen gefordert, zur Sicherung von Qualitätsstandards und Liefermengen ihre Lieferketten vollständig sichtbar zu machen (»end-to-end visibility«), zu wissen, wer ihre wichtigsten Lieferanten sind und welche Veränderungen sich an den verschiedenen Stufen der Lieferkette vollziehen. So wird erwartet, dass etwa die Verkürzung von Lieferketten und der Ausbau von Mikro-Lieferketten die Versorgungssicherheit steigern kann. Bei einer dabei diskutierten Option wird mit einer Machtverlagerung zugunsten der Erzeuger und Produzenten gerechnet, insbesondere im Agrarbereich. Auf diese Weise ließen sich Wertschöpfungseffekte an der Quelle der Produktion erzielen und mittelbar auch die Verhandlungsmacht der dort aktiven Produzenten und Produzentenländer verbessern. Allerdings ist dies bei komplexen Lieferketten mit hoher Tiefenstaffelung eine nur sehr eingeschränkt umsetzbare Option. Hier wird man nicht an der Neuorganisation der Beziehungen innerhalb der Lieferkette herumkommen, sollen Übersicht und Transparenz gewährleistet werden. Die Förderung produktbezogener Wertschöpfungsdesigns, die die wirtschaftlichen Akteure im upstream-Bereich – also bezogen auf die Bereitstellung der Rohstoffe für die Hersteller – begünstigen, ist daher nicht nur nach entwicklungspolitischen Kriterien sinnvoll.
Mögliche Störfaktoren könnten auch mit weiteren Instrumenten reduziert werden: Die Blockchain-Technologie wird als technische Option betrachtet, die eine sichere, unveränderliche Aufzeichnung von Herkunftsdaten ermöglicht, dabei aber keine Verwaltungszentrale mit hohem Koordinationsaufwand benötigt und gleichzeitig die Integrität von Transaktionen gewährleistet. Mit einem Netz mehrerer Standorte lässt sich eine konsumnahe Präsenz ebenso erreichen wie die erforderliche Ausfallsicherheit, um die Gefahr von Kapazitätsunterbrechungen abzuwenden.
Vertikalisierung innerhalb der Lieferketten. Gerade für Deutschland als Handelsnation sind Ausfälle von Vorleistungen ein gravierendes Produktionsrisiko. Da die deutsche Wirtschaft einen hohen Vorleistungsbedarf hat, ist eine strategische Lieferkettenpolitik ein wesentlicher Bestandteil vorausschauender Gestaltung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Ein solcher auf Versorgungssicherheit ausgerichteter Ansatz kann zu geringeren Skalenerträgen führen und damit auch die Vorleistungen und Zulieferungen verteuern, was schließlich die Produktionskosten des Abnehmers und letztlich auch des Endverbrauchers in die Höhe treiben dürfte. All diese möglichen Folgen sollten offen diskutiert werden.
Auch die Organisationlogik innerhalb mancher Lieferketten könnte sich verschieben: Unternehmen würden im Interesse der Optimierung ihres Lieferantenportfolios ihre Fertigungsprozesse stärker vertikal integrieren, indem sie ihre Zulieferer übernehmen oder Plattformen von Lieferantenaggregaten nutzen, die von Investmentfonds gesteuert werden. Gerade bei solchen Prozessen der Reorganisation von Produktion und Zulieferung gewinnen die Sorgfaltspflichten zusätzliche Relevanz, die im deutschen Lieferkettengesetz enthalten sind. Sie tragen dazu bei, neben Versorgungssicherheit und Zuverlässigkeit auch den Nachhaltigkeitskriterien größere Sichtbarkeit zu verschaffen.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP und Leiter des SWP-Anteils am Forschungsnetzwerk Nachhaltige Globale Lieferketten; Fabian Mühlhöfer ist Praktikant in diesem Projekt, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert wird.
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ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2021A80