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Instabile Lieferketten gefährden die Versorgungssicherheit

Handlungsoptionen für Unternehmen und Politik

SWP-Aktuell 2021/A 80, 09.12.2021, 8 Pages

doi:10.18449/2021A80

Research Areas

Im Zuge der Corona-Pandemie wurden die globalen Lieferketten empfindlich gestört. Inzwischen haben die Störungen auf zahlreiche Wirtschaftszweige übergegriffen, auch die Konsumenten bekommen sie zu spüren. Eine kurzfristige Besserung ist nicht in Sicht, was gravierende Folgen für weltweite Produktionsprozesse hat. Betroffen waren bei Ausbruch der Pandemie vor allem medizinische Schutzgüter – der Zusam­menbruch des internationalen Handels ließ aber auch in anderen Sektoren Liefer­engpässe entstehen.

Die Instabilität von Lieferketten ist in der Pandemie schmerzlich spürbar geworden. Sie gefährdet die Versorgungssicherheit ebenso wie Cyberangriffe und geopolitische Unwägbarkeiten entlang von Lieferketten. Soll auf diese Herausforderungen angemes­sen reagiert werden, gilt es, die pandemiebedingten Einschnitte als Auftrag und Chance zugleich zu verstehen. In der politischen und unternehmerischen Gestaltung von Lieferketten sind nachhaltige Änderungsprozesse anzustoßen, um der wachsen­den Anfälligkeit von Lieferketten entgegenzuwirken und dem steigenden Bedarf an kri­tischen Gütern zu entsprechen.

Deutschland ist als Handelsnation in beson­ders hohem Maße auf stabile Lieferketten und sichere Außenhandelsbedingungen angewiesen. Versorgungssicherheit ist insofern eine zentrale Bedingung für die Überlebensfähigkeit des Industriestandorts Deutschland, aber auch maßgeblich für eine gesicherte Belieferung mit einer Fülle von Konsumgütern. Die Kumulation hem­mender Rahmenbedingungen in vielen Bereichen der Weltwirtschaft wirkt dabei als Treiber der Debatte über die Versorgungssicherheit in Deutschland. Ressourcenknappheit ist der Kernbegriff bei der Ana­lyse von Produktionsproblemen und Versor­gungsengpässen, die neben Halbleitern auch Rohstoffe und grundlegende Fertigungs­materialien betreffen. Nach einer Analyse der internationalen Konjunktur durch das Institut für Weltwirtschaft (IfW) sind dafür keineswegs nur konjunkturelle Nachholeffekte als Auswirkung der Corona-Pandemie ursächlich, sondern auch Unterbrechungen globaler Lieferketten sowie Probleme der Logistik- und Containerbranche, die sich nur mit großer zeitlicher Verzögerung wer­den lösen lassen. Das bedeutet für die deutsche Industrie derzeit eine Minderung der Produktion um schätzungsweise 5%.

Die Störanfälligkeit hat zugenommen

Offene und integrierte Märkte sind die Voraussetzung für ein effektives Funktionie­ren von Lieferketten. Doch geraten deren Mechanismen immer stärker unter Druck: durch externe Ereignisse, Markt­eingriffe und ‑manipulationen sowie ge­plante Unter­brechungen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs. Dass Zuliefer­betriebe im Ausland aufgrund diverser Be­hin­derungen ihrer Produktion eingegangenen Lieferverpflichtungen nicht mehr nach­kom­men konnten, ist ebenso Teil dieser Realität wie das Fehlen von Produkten und Zulieferteilen als Folge wachsender Nach­frage durch eine anziehende Konjunktur.

So führt das Allianz Risk Barometer 2021 auf der Grundlage von Unternehmens­befra­gungen zu potentiellen Verlusten und Stör­szenarien, die Unternehmen in Deutschland als Folge der Coronavirus-Pandemie bewältigen müssen, drei zentrale Risiken an: Betriebsunterbrechung (50%), dicht gefolgt von Cyber-Vorfällen (48%) und dem Pandemie-Ausbruch (35%). Von den Unternehmen wird stärkeres Engagement im betrieblichen Risikomanagement erwar­tet, um Umsatzverlusten, Produktivitätseinbußen und einem Anstieg der Betriebskosten vorzubeugen; von der Politik erwar­ten wiederum die Unternehmen Vorgaben zu Rahmenbedingungen und Unterstützung bei wachsenden handelspolitischen Konflikten.

Unterbrochene Lieferketten sind dabei kein neues Phänomen. Unvorhergesehene oder ungeplante Ereignisse können den gewohnten Waren- und Materialfluss in einer Versorgungskette unterbrechen. Dass zur Deckung des Bedarfs gegebenenfalls der Lieferant gewechselt wird, ist der schlichtere Fall; auch Lagerkapazitäten lassen sich mit überschaubarem Aufwand ausweiten. Betriebsschließungen und umfängliche Schadensersatzverfahren können indes die wirtschaftliche Existenz vieler Unter­nehmen massiv gefährden.

Die gegenwärtige Komplexität globaler Lieferketten, just-in-time-Produktionen und engmaschig aufeinander abgestimmte Trans­portwege sind eine stetig größere Herausforderung für die weltweiten Liefer­netzwerke. Sie steigern die Störanfälligkeit durch interne sowie externe Parameter. Die Pandemie fungiert dabei als Verstärker bereits vorhandener Lieferkettenprobleme: Nach deren Ausbruch wurde schnell deut­lich, wie fragil das Netz globalisierter Waren­ströme ist, wenn ein weltweiter Gesundheits­notstand eintritt. Die nationalen wie internatio­nalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie führten zu gra­vierenden Einschnitten in die globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten. Unmit­telbar betroffen von den Ereignissen ab März 2020 waren Güter der medizinischen Grund- und Intensivversorgung. So wurden insbesondere Desinfektionsmittel, Atem­schutzmasken und Schutzkleidung zuse­hends knapper. In der aktuellen vierten Welle gilt dies für Testmaterialien. Die Ab­hängigkeit von China und von vielen aus der Volksrepublik importierten (medizi­nischen) Gütern wie auch von Medikamenten aus Indien wurde während der Aus­breitung des Coronavirus in besonderem Maße spürbar.

Abgesehen von solchen Pandemien haben auch globale Länder- und Standort-Risiken (z. B. Naturkatastrophen, Streiks, Brände und Explosionen an Produktionsstätten oder Logistikknotenpunkten) sowie Cyber-Sicherheitsgefährdungen unmittel­bare Auswirkungen. Oftmals werden aber noch immer Abhängigkeiten in den heuti­gen komplexen Wertschöpfungsketten unterschätzt, insbesondere hinsichtlich des Schadenausmaßes, das sich über die ver­schiedenen Stufen der Lieferkette verviel­fachen kann.

Zielkonflikt wirtschaftliche Effi­zienz vs. Versorgungssicherheit

Der pandemiebedingte Rückzug aus glo­balen Wertschöpfungsketten rückte einen Zielkonflikt in den Fokus wirtschaftspolitischer Erwägungen: den zwischen Kosten­effizienz nach unternehmerischer Logik und Versorgungssicherheit in nationalstaatlicher Perspektive. Als das bisher zentrale Kalkül, die Zulieferung aus Ländern mit günstiger Kostensituation erfolgen zu las­sen, zu akutem Mangel relevanter Güter wie medizinischem Material führte, setzte eine Debatte über den Ausbau nationaler Standorte für die Produktion dieser Kate­gorie von Gütern ein. Damit wird unmittelbar auf die Frage nach der Strategie ver­wiesen, die verfolgt werden muss, um auf zukünftige Ereignisse von ähnlicher Trag­weite adäquat reagieren zu können.

Die Blockade des Suezkanals durch das auf Grund gelaufene Containerschiff »Ever Given« verursachte nicht nur einen Verlust, der für die gesamte Woche der Havarie auf sechs bis zehn Milliarden US-Dollar geschätzt wurde. Er verschärfte auch die ohnehin schon angespannte Lage der welt­weiten Handelsströme und Liefernetz­werke. So gilt in vielen Fertigungsbetrieben noch immer das Prinzip der just-in-time-Produktion, wonach – um Lagerkosten zu sparen – für Fertigungen benötigte Bestandteile erst bei unmittelbarem Bedarf angeliefert werden sollen. Knapp bemessene Lieferzeiten und eng kalkulierte Transportwege sind dann ein Problem, wenn ein einzelnes Glied der Lieferkette ausfällt, was schnell weitreichende Folgen für die gesamte Weltwirtschaft haben kann.

Speziell die Knappheit an Halbleitern erweist sich als potentielle Gefahr für das Funktionieren globaler Wertschöpfungs­ketten, gerade weil sie intensiv gehandelt wer­den und insofern als Risikofaktoren für die weltweite Nachfrage gelten. So wurde ins­besondere die Automobilbranche welt­weit durch den Stopp von Produktions­straßen und der damit einhergehenden kurzfristigen Einführung von Kurzarbeit hart getrof­fen. Als Ursache kann hier die hohe Nachfrage nach Halbleitern genannt werden, die aus dem großen Bedarf an Mikroelektronik im Zuge einer fortschreitenden Digitalisierung resultiert.

Engpass Transportsektor

In der traditionellen Sicht auf Lieferketten spielte der Transport eine eher untergeord­nete Rolle, sowohl hinsichtlich der Wert­schöpfung wie auch als Kostenfaktor. Dies hat sich deutlich verändert: Fabrikschlie­ßungen in China Anfang 2020, Lockdowns in mehreren Ländern der Welt, Arbeits­kräftemangel, eine robuste Nachfrage nach handelbaren Gütern, Störungen der Logis­tiknetze und Kapazitätsengpässe haben die Frachtkosten stark ansteigen lassen und die Lieferzeiten merklich verlängert. Die tage­lange Blockade des Suezkanals durch das Containerschiff »Ever Given«, coronabedingte Sperrungen im Hafenverbund Ningbo-Zhoushan vor der Provinz Wuhan und im Hafen Yantian der Millionenmetropole Shenzhen hatten erhebliche Terminverzögerungen von Lieferungen aus China zur Folge.

Gerade in der Logistikbranche ist daher eine Diskussion entbrannt, wie Risiken reduziert werden können, ohne mit der Rückführung von Unternehmens- oder Herstellungsprozessen ins Inland (reshoring) eine vollständige Umkehr des seit Jahren betriebenen Outsourcings einleiten zu müs­sen. In der Konsequenz werden auch hier größere Anstrengungen unternommen, Transportmittel und ‑wege zu diversifizieren, um jenseits des stark belasteten inter­nationalen Containerverkehrs eine weit­gehend ungestörte Warenzirkulation über die Versorgungsadern des globalen Handels zu ermöglichen. Der Schienentransport und die Luftfracht könnten dabei für bestimmte Güter eine Alternative sein.

Ungeachtet dessen ist gegenwärtig ein drastischer Preisaufschlag bei den Transport­kosten zu verzeichnen, der weltweit eine Verteuerung der Güter zur Folge hat. Kos­tete vor der Corona-Pandemie im Januar 2019 der Transport eines Containers von Shanghai nach Hamburg noch 2.000 Euro, wurde im September 2021 erstmals ein Preis von 20.000 Euro aufgerufen. Dieser extreme Anstieg der Frachtraten durch Con­tainerknappheit und lange Wartezeiten der Schiffe vor verstopften Welthäfen macht deutlich, dass in der Abwicklung von Trans­portgeschäften kaum mehr Puffer vorhanden sind, die Engpässe in den Lieferketten abfedern könnten.

Gezielte Angriffe auf Lieferketten

Explizite Angriffe auf Lieferketten stellen zunehmend ein Problem für globale Wert­schöpfungsketten dar, insbesondere im Kontext von Cybersecurity. Mit Blick auf Lieferketten richten sich Cyberangriffe häufig gegen Dienstleister, die ihre Kunden mit Software und Netzwerklösungen aus­statten. Nach Schätzungen der zuständigen EU-Agentur ENISA (European Union Agency for Cybersecurity) hat sich die Zahl solcher Angriffe im Jahr 2021 vervierfacht. Ein Cyberangriff liegt dann vor, wenn Waren, Dienstleistungen oder anderweitige Tech­nologien, die ein Anbieter an einen Kunden liefern soll, beschädigt und kompromittiert wurden.

Die zentrale Schwachstelle ist das Verteilungssystem der Zulieferer, und Unternehmen der Logistikbranche stehen bei der Verbreitung von Schad-Software in beson­derem Maße im Visier der Angreifer. Beim Aufspielen von Software-Updates werden entsprechende Codes mit der Folge modifi­ziert, dass anschließend sämtliche Systeme blockiert sind. Ein Risiko besteht dabei so­wohl für die Kunden als auch für das be­trof­fene Unternehmen, wobei Ausmaß und Qualität der Schäden stets von der Art des Angriffs und dessen Inten­tion abhängen.

Im Falle einer Attacke auf das Glied einer Lieferkette, die »supply chain attack«, wird das betroffene Unternehmen erpresst und großer finanzieller Schaden angerichtet; in der Folge können mit dem Ausfall eines einzigen Glieds in der Lieferkette im Sinne eines Kaskadeneffekts weitreichende Pro­duk­tions­ausfälle eintreten. Die Angreifer nutzen beispielsweise ein kompromittiertes/gehacktes E‑Mail-Konto oder sorgen für die Verbreitung von Malware-Infektionen (sogenannte Ransomware-Angriffe) per Mail­versand, der über eine E‑Mail-Adresse des Lieferanten erfolgt. Aufwändigere An­griffe können auch das gesamte Netzwerk eines Lieferanten kompromittieren und dessen administrativen Zugang nutzen, um das eigentliche Zielnetzwerk zu infiltrieren. Bei beson­ders schwerwiegenden Angriffen werden zudem vertrauenswürdige Soft­ware-Tools modifiziert.

Während Staaten diese Form von Cyber­angriffen bislang im Kontext nachrichtendienstlicher Aktivitäten nutzten, stecken insbesondere hinter Ransomware-Attacken immer häufiger kriminelle Akteure. Der Angriff auf den Software-Dienstleister Kaseya im Juli 2021 durch die russische Hackergruppe REvil infizierte die Rechner betroffener Unternehmen mit Malware und machte diese unbrauchbar. Die digitale Infrastruktur des Unternehmens ließ sich in der Folge nicht mehr nutzen, solange es kein Lösegeld zahlte. Zwar wurden REvil primär kriminelle und monetäre Beweggründe für den Ransomware-Angriff zu­geschrieben, eine trennscharfe Klassifizierung solcher Angriffe ist häufig jedoch schwierig.

Als im Dezember 2020 das Netz­werk­management-System Orion der Software­firma SolarWinds kompromittiert wurde und 18.000 Netzwerke betroffen waren, die diese Anwendersoftware nutzten, fiel der Verdacht rasch auf die Hackergruppe APT29 / Cozy Bear; sie gilt als Teil des rus­sischen Auslandsnachrichtendienstes SWR. Mittlerweile geht man davon aus, dass von den potenziell 18.000 Betroffenen des An­griffs auf SolarWinds weniger als 100 Ge­schädigte waren. Allerdings befinden sich hierunter auch Teile der Bundesregierung der USA, wie unter anderem das Verteidigungsministerium oder auch das Finanzministeriums. Solche Vorfälle legen nahe, dass Hackergruppen nicht nur rein mone­täre Intentionen haben, die sich auf das Erpressen von Lösegeldzahlungen beschrän­ken, sondern dass sie auch weiter reichender Schadinteressen verfolgen können. Darauf deutet jedenfalls die implizite oder auch explizite Involvierung staatlicher Stellen hin, wie des russischen Auslands­nachrichtendienstes SWR im Falle des Ran­somware-Angriffs auf SolarWinds.

Handlungsoptionen für die deutsche Wirtschaft und Politik

Globale Lieferketten werden zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Unsicherheit ihrer Strukturen, aber auch potentieller Risiken betrachtet, die sich aus Störungen für die Versorgungssicherheit ergeben. Dies gilt zumal für die stetig steigende Nach­frage und Bedeutung wachstumsrelevanter Güter. Unternehmen und Politik sind daher gefordert, durch geeignete und möglichst gemeinsame Maßnahmen die Anfälligkeit von Lieferketten zu reduzieren und denk­baren Krisen vorzubeugen, indem sie erwei­terte Instrumente nutzen, wie strategische Versorgungssicherheitspolitik und ver­mehrte Lagerhaltung. Die Umbrüche inner­halb der Wertschöpfungsketten bieten so auch die Chance, bislang vernachlässigte Aufgaben der strategischen Aufstellung Deutschlands in Sachen Versorgungssicher­heit neu anzugehen. Hier eine gute Balance zwi­schen De-Globalisierung, Re-Regio­nalisierung und Entschleunigung von Wirt­schaftsprozessen zu finden ist die gemeinsame Gestaltungsaufgabe in Deutschland, aber auch im europäischen Verbund.

»Verantwortungsvolle Liefer­ketten« als unmittelbare unter­nehmerische Verantwortung

Von zentraler Bedeutung ist, dass Unternehmen gegenüber ihren Zulieferern Sorg­faltspflichten wahrnehmen. Diese Pflichten bezie­hen sich nicht nur auf die nun gesetz­lich verankerten Vorschriften, die für die Durchsetzung von Menschenrechten und Nachhaltigkeit gelten, sondern sollen grundsätzlich auch für Transparenz und Nachverfolgbarkeit von Einkaufspraktiken im Sinne von Stabilität und Zuverlässigkeit sorgen. Reputations- und Haftungsrisiken sind hier direkt angesprochen, die Zertifizierung der eigenen Lieferkette ist dabei ein wich­tiges Instrument.

Neben das etablierte Prinzip des »know your customer« muss ein ebenso ausgefeiltes Verfahren treten, das der Maxime »know your provider« folgt. Der Druck auf die Roh­stoffhändler, mehr Transparenz über Her­kunft und Abbau von Mineralien herzustellen, muss daher steigen. Dies bei sich ver­schärfender Konkurrenz um Rohstoffe durchzusetzen bedarf großer internatio­naler Handlungskompetenz der Unternehmen: Nach Schätzungen der Internatio­nalen Energieagentur wird im Jahr 2040 mehr als das Sechsfache an mineralischen Rohstoffen benötigt, um bis 2050 die ge­wünschte Netto-Null-Treibhausgasemission zu erreichen. Bei einigen Stoffen wie etwa Lithium könnte die Nachfrage bis zum Jahr 2030 sogar um das Dreißigfache steigen.

Nachvollziehbare Transparenzregeln und umfassende Risikoabschätzung ermög­lichen es, die Anfälligkeit und Verletzbarkeit von Lieferketten zu reduzieren; dies liegt in hohem Maße im Interesse von Unter­nehmen, wenn sie weiterhin im Markt erfolg­reich bleiben wollen. Damit verbunden ist aber auch eine Modifizierung der bislang geltenden Grundprinzipien für das Management von Lieferketten, die vor allem geprägt sind von Machtasymmetrien der Arbeitsteilung, Kosten- und Zeitdruck, umfassende Zergliederung und räumliche Entkopplung von Produktionsprozessen sowie Anonymität. Solange sich die wert­schöpfungs­intensiven Stufen der Lieferkette in den Industrieländern konzentrieren, die Förderung und Produktion aber in Länder mit weniger hohen Standards ausgelagert werden, ist ein »sauberes« und weniger krisenanfälliges Management von Liefer­ketten nicht zu erwarten.

Selektive Re-Regionalisierung von Produktionsverflechtungen

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Strategie des »reshoring« neu begriffen werden muss, insbesondere wenn es darum geht, den Zugang zu kritischen (Medizin-) Gü­tern sicherzustellen. In Anbetracht der starken Einbindung der deutschen Wirt­schaft in die globalen Wertschöpfungs­ketten und ihrer umfassenden Rolle inner­halb der Europäischen Union (EU) ist ein generelles »reshoring« nicht angezeigt. Dagegen sollte vor allem eine Sicherstellung der Versorgung mit kritischen Gütern und Produkten, für die Rohstoffvorkommen außerhalb der EU benötigt werden, im Fokus der politischen Gestaltung von Liefer­ketten-Governance stehen. Die aktuelle Knappheit an Rohstoffen, die für die Pro­duktion von Industriegütern unverzichtbar sind, ist nur ein Beispiel, das eine gemeinsame Strategie von Wirtschaft und Politik ebenso sinnvoll erscheinen lässt wie ein Überdenken bisheriger rohstoffstrategischer Erwägungen. Im Austausch mit den EU-Part­nerländern sollte im Sinne einer gemein­samen europäischen geopolitischen Stra­tegie ein einheitliches Vorgehen angestrebt werden. Nur so wird sich in Zukunft die Frage adäquat beantworten lassen, wie Versorgungssicherheit durch stabile Liefer­ketten gewährleistet werden kann.

Aktualisierung der Rohstoff-Strategie und der Resilienz-Regime

Um den weltweit steigenden Bedarf bei­spielsweise an seltenen Erden zu decken und die Anfälligkeit von Lieferketten zu reduzieren, ist anzustreben, im Einklang mit den europäischen Partnern auch bi­laterale privatwirtschaftliche Kooperatio­nen zwischen Abbauländern und deutschen Unternehmen einzugehen und zu intensivieren. Die Bundesregierung kann hierzu durch Rechtssicherheit und Planbar­keit beitragen und dadurch einen stabilen außenpolitischen Rahmen schaffen. Dies sollte im Rahmen einer Anpassung der Rohstoffstrategie erfolgen.

Staatliche Eingriffe sind jedoch auf kom­plementäre und flankierende Maßnahmen zu beschränken, um etwaigen Abhängig­keiten vorzubeugen, die mit Abnahme­garantien oder der Bevorteilung einzelner Bereiche verbunden sind. Die zu schaffenden operativen Handlungsmuster sollten neben der Bewältigung externer Probleme auch ein Risikomanagement implizieren, das die internationalen Gefahren für Liefer­ketten minimiert.

Ein effektives Resilienz-Regime, das die Fähigkeiten von Unternehmen verbessert, auf unvorhergesehene Veränderungen ad­äquat zu reagieren, kann die Lieferketten-Netz­werke absichern und liegt insofern auch im Interesse der Politik. Gleiches gilt für die industrielle Transformation hin zur Supply Chain 4.0, bei der eine Integration neuer und digital vernetzter Technologien mit dem Ziel angestrebt wird, effizienter und intel­ligenter zu produzieren. Nur wenn die Bundesregierung hierzu geeignete Rah­menbedingungen etablieren kann, etwa ein höheres Maß an Digitalisierung und Auto­matisierung, bietet sie den Unternehmen ein verlässliches han­delspolitisches Umfeld.

Insbesondere Cyber­angriffe auf staatliche Stellen, kritische Infrastruktur und Liefer­ketten haben erheblich sowohl an finan­zieller als auch an geopolitischer Brisanz gewonnen. Insofern gilt es, bereits vorhan­dene Werkzeuge zur Verbesserung der Cybersecurity vollumfänglich auszuschöpfen und neue Handlungsmöglichkeiten zu ermitteln, auch gemeinsam mit den euro­päischen Partnern.

Aufbau einer strategischen Lieferketten-Politik

Jenseits akuter Störungen in den Liefer­ketten sind deren langfristige Auswirkungen auf die globale Wirtschaft derzeit nur begrenzt abzuschätzen. Eine Rückkehr zum Lieferkettenmodell vor Eintritt der Pan­demie ist nicht mehr möglich, denn Liefer­ketten müssen mittlerweile anderen, erwei­terten Anforderungen genügen. Lag in der Ver­gangenheit bei der Gestaltung einer Lieferkette der Schwerpunkt auf Kosten­minimierung, rücken unter dem Eindruck der jüngsten Störungen (veränderte Han­delsmuster, Lieferengpässe, Angriffe und Lock­downs) andere Kriterien in den Vor­dergrund: Den Unternehmen wird mehr Agili­tät abverlangt; umfassende Maßnahmen mit dem Ziel, die Resilienz und damit die Stabilität der gesamten Wertschöpfungs­kette zu steigern, sind unumgänglich gewor­den. Hinzu treten die Ausrichtung an den Zielgrößen Nachhaltigkeit und Versor­gungssicherheit. Lieferketten werden ein maßgebliches Instrument der Globalisierung bleiben, allerdings gilt es, gefährdende Faktoren effektiv anzugehen, um ein nach­haltiges Stocken der Weltwirtschaftsleistung zu verhindern. Angezeigt ist daher, das globale Lieferkettenmodell zu überdenken und umzugestalten.

Einseitige Abhängigkeiten reduzieren. Die Schwachstelle vieler Unternehmen liegt in ihrer Abhängigkeit von China, insbeson­dere von der Lieferung chinesischer Roh­stoffe, Bauteile oder Fertigprodukte. Daher müssen sich die Unternehmen bemühen, ihre Beschaffungspartner zu diversifizieren. Ein Ergebnis ist die sogenannte China+1-Strategie, mittels der Unternehmen, die frü­her bei Beschaffung und Herstellung von Chi­na stark abhängig waren, nun versuchen, ihre Kapazitäten auf zusätzliche Märkte aus­zudehnen. In der Folge sind Vietnam, Thailand, Malaysia, Kambodscha, Indo­nesien und Indien zu regionalen Produk­tions­zentren im asiatischen Raum geworden. Das Muster Chinas als »Fabrik der Welt« hat erhebliche negative Auswirkungen auf die globalen Lieferketten, die des­halb sehr viel flexibler ausgestaltet wer­den müssen, um Produktionsrisiken zu reduzieren.

Mit einer Modifizierung des »single sourcing« im Sinne einer stärker diversifizierten Lieferantenstruktur im upstream-Bereich ist gleichzeitig aber auch der Weg zu einer modularen Anlage von Liefer­ketten gewiesen, die höhere Ansprüche an deren Organisation und interner Abstim­mung stellen. Insofern erscheint es ange­zeigt, die Neuaufstellung von Lieferketten mit ergänzenden Elementen zu verbinden.

Näher am Ort der Nachfrage produzieren. Die Option des »nearshoring« gestaltet sich für die jeweiligen Produktionszweige sehr unter­schiedlich, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verfügbarkeit von Roh­stoffen. Die Überlegungen reichen dabei bis zu einer vermehrten Ansiedlung von Pro­duk­tionsstätten im Mittelmeerraum, aller­dings wird dies nicht für alle Produktions­zweige möglich sein. Gefordert ist daher eine politische Entscheidung darüber, wel­che Güter und Dienstleistungen strategische Bedeutung für die Versorgungssicherheit Deutschlands und Europas haben, um für die Wirtschaft klare und berechenbare Rahmenbedingungen zu setzen. Dies sollte nicht im Sinne einer staatlich verordneten Autarkiepolitik und eines überschießenden Protektionismus verstanden werden, son­dern dazu anregen, verschiedene Instrumente wie die Rohstoffstrategie und die Lieferketten-Politik verstärkt zusammen­zudenken. Daraus wären dann auch Vor­gaben für die Lagerhaltung strategischer Produkte oder redundante Formate bei essenziellen Dienstleistungen abzuleiten.

Dabei sind die Ansprüche an eine nachhaltige Transport-Infrastruktur (etwa die Energie- und CO2-Bilanz bei Transport und Verpackungsaufwand) als weiteres Kri­terium aufzunehmen. Um das Risiko von Störungen bei Transportinfrastruktur und Logistik gering zu halten, ist auch hier eine Diversifizierung zugunsten unterschied­licher Transportwege und ‑mittel angezeigt, was den Aufbau einer größeren Zahl regio­nal verteilter Logistik-Hubs erfordert. Sol­che multimodalen Lösungen können auch insofern kosteneffizienter sein, als sie die Transitzeit bei näher gelegenen Produk­tions­standorten oder Zwischenlagern ver­kürzen, die Zuverlässigkeit steigern und die Kundenversorgung verbessern.

Modular gestaltete Lieferketten führen zu Macht­verschiebungen. Eine Abkehr vom »single sourcing« verändert die Machtbeziehungen in den Lieferketten. Die Bindung an nur einen Zulieferer stärkt die Position des ein­kaufenden Unternehmens, das von dem Zulieferer Preisnachlässe und sonstige Ver­günstigungen erwartet. Eine Diversifizierung verbessert die Verhandlungsposition der Zulieferer und eröffnet ihnen mehr Möglichkeiten, eine günstigere Position in der Lieferkette zu erlangen. Dies dürfte auch außenpolitisch von Interesse sein. Denn wenn es um die Durchsetzung von Nachhaltigkeitskriterien und Sozialstandards geht, kommen zudem die Staaten mit ins Spiel, in denen die Zulieferer angesie­delt sind.

Im Zuge einer solchen Diversifizierung sind die Unternehmen gefordert, zur Siche­rung von Qualitätsstandards und Liefermengen ihre Lieferketten vollständig sicht­bar zu machen (»end-to-end visibility«), zu wissen, wer ihre wichtigsten Lieferanten sind und welche Veränderungen sich an den verschiedenen Stufen der Lieferkette vollziehen. So wird erwartet, dass etwa die Verkürzung von Lieferketten und der Aus­bau von Mikro-Lieferketten die Versorgungssicherheit steigern kann. Bei einer dabei diskutierten Option wird mit einer Machtverlagerung zugunsten der Erzeuger und Produzenten gerechnet, insbesondere im Agrarbereich. Auf diese Weise ließen sich Wertschöpfungseffekte an der Quelle der Produktion erzielen und mittelbar auch die Verhandlungsmacht der dort aktiven Produzenten und Produzentenländer ver­bessern. Allerdings ist dies bei komplexen Lieferketten mit hoher Tiefenstaffelung eine nur sehr eingeschränkt umsetzbare Option. Hier wird man nicht an der Neuorganisa­tion der Beziehungen innerhalb der Liefer­kette herumkommen, sollen Übersicht und Transparenz gewährleistet werden. Die För­derung produktbezogener Wertschöpfungs­designs, die die wirtschaftlichen Akteure im upstream-Bereich – also bezogen auf die Bereitstellung der Rohstoffe für die Her­steller – begünstigen, ist daher nicht nur nach entwicklungspolitischen Kriterien sinnvoll.

Mögliche Störfaktoren könnten auch mit weiteren Instrumenten reduziert wer­den: Die Blockchain-Technologie wird als technische Option betrachtet, die eine sichere, unveränderliche Aufzeichnung von Herkunftsdaten ermöglicht, dabei aber keine Verwaltungszentrale mit hohem Ko­ordinationsaufwand benötigt und gleich­zeitig die Inte­grität von Transaktionen gewährleistet. Mit einem Netz mehrerer Standorte lässt sich eine konsumnahe Prä­senz ebenso erreichen wie die erforderliche Ausfallsicherheit, um die Gefahr von Kapa­zitätsunterbrechungen abzuwenden.

Vertikalisierung innerhalb der Lieferketten. Gerade für Deutschland als Handelsnation sind Ausfälle von Vorleistungen ein gravie­rendes Produktionsrisiko. Da die deutsche Wirtschaft einen hohen Vorleistungsbedarf hat, ist eine strategische Lieferkettenpolitik ein wesentlicher Bestandteil vorausschauender Gestaltung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Ein solcher auf Versorgungssicherheit ausgerichteter Ansatz kann zu geringeren Skalenerträgen führen und damit auch die Vorleistungen und Zulie­ferungen verteuern, was schließlich die Produktionskosten des Abnehmers und letztlich auch des Endverbrauchers in die Höhe treiben dürfte. All diese möglichen Folgen sollten offen diskutiert werden.

Auch die Organisationlogik innerhalb mancher Lieferketten könnte sich verschieben: Unternehmen würden im Interesse der Optimierung ihres Lieferantenportfolios ihre Fertigungsprozesse stärker vertikal integrieren, indem sie ihre Zulieferer über­nehmen oder Plattformen von Lieferanten­aggregaten nutzen, die von Investmentfonds gesteuert werden. Gerade bei solchen Prozessen der Reorganisation von Produk­tion und Zulieferung gewinnen die Sorg­faltspflichten zusätzliche Relevanz, die im deutschen Lieferkettengesetz enthalten sind. Sie tragen dazu bei, neben Versor­gungssicherheit und Zuverlässigkeit auch den Nachhaltigkeitskriterien größere Sicht­barkeit zu verschaffen.

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP und Leiter des SWP-Anteils am Forschungsnetzwerk Nachhaltige Globale Lieferketten; Fabian Mühlhöfer ist Praktikant in diesem Projekt, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert wird.

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