Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) kommt am 15. und 16. September in Usbekistan zum Gipfeltreffen zusammen. Sie als anti-westliche Allianz zu interpretieren, wird den komplexen Bündnislagen in außereuropäischen Politikräumen nicht gerecht, meint Andrea Schmitz.
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt sich in der medialen Berichterstattung die unerfreuliche Tendenz, internationale Politik anhand der Leitdifferenz »Freund oder Feind« zu beobachten. Was sich dem Schema entzieht, wird der Einfachheit halber auf der einen oder anderen Seite der Distinktion verortet: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns – und umgekehrt. Auch das Gipfeltreffen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) im usbekischen Samarkand als Versuch zu deuten, eine neue anti-westliche Achse des Bösen zu etablieren, greift zu kurz. Für die Mitglieder der Organisation besteht die wichtigste Funktion der SOZ seit jeher darin, die Interessen untereinander auszutarieren. Dies gilt vor dem Hintergrund der geopolitischen Konfrontation mehr denn je.
Die SOZ war im Juni 2001 als Nachfolgeorganisation der »Schanghai-Fünf« gegründet worden, einem seit 1996 bestehenden Bündnis, dem Russland, die Volksrepublik China sowie ihre drei zentralasiatischen Nachbarn Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan angehörten. Mit der Überführung in die SOZ trat auch Usbekistan bei. In der Folge hat sich die Organisation, in die 2017 auch Indien und Pakistan aufgenommen wurden, als überregionales sicherheitspolitisches Format etabliert, in dem Beobachter stets eine Art sino-russisches Pendant zur Nato sahen.
Solche Ambitionen mögen auf russischer Seite durchaus vorhanden gewesen sein. Doch die Interessen und Präferenzen der Mitglieder standen ihnen immer entgegen. Die führende Rolle in der Organisation spielte von Anfang an China. Der Volksrepublik ging es vor allem darum, unter dem Dach des Multilateralismus mit seinen drei zentralasiatischen Nachbarn eine Reihe offener Fragen zum Grenzverlauf zu klären und die Gefahr der »drei Übel: Separatismus, Extremismus und Terrorismus« einzudämmen beziehungsweise ein Übergreifen islamistischer Bewegungen von Zentralasien ins eigene Land zu verhindern. Die Mehrzahl der Vereinbarungen zwischen den SOZ-Mitgliedern war dabei de facto stets bilateraler Natur.
Russlands Bemühungen, eine supraregionale sicherheitspolitische Allianz zu schaffen und die SOZ mit der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS – der Russland, Weißrussland, Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan angehören – zu verschmelzen, sind nicht weit gediehen. Das liegt zum einen daran, dass eine solche Fusion von der Mehrzahl der Mitgliedstaaten nicht gewünscht war. Zum anderen vertraten Russland und China seit jeher unterschiedliche Auffassungen über Funktion und Stellenwert der SOZ, die sie vor allem als Vehikel für die Durchsetzung der eigenen politischen und wirtschaftlichen Ziele betrachteten. Folglich bestand die Hauptfunktion der SOZ in erster Linie darin, die Politik Russlands und Chinas in Zentralasien auszubalancieren.
An diesen Gegebenheiten wird das Gipfeltreffen in Samarkand wenig ändern. Zu unterschiedlich sind nach wie vor die Zielsetzungen und Präferenzen der beteiligten Staaten. Dem chinesischen Staatschef Xi Jinping bietet die Teilnahme am Gipfel Gelegenheit, Chinas Anspruch als Gestaltungsmacht in Eurasien im Rahmen der Seidenstraßeninitiative (One Belt One Road) zu erneuern. Präsident Putin wird das Treffen seinerseits nutzen, um Rückhalt für seine Politik zu gewinnen, die in hartem Kontrast zu westlichen Vorstellungen steht und folglich auch anti-westliche Rhetorik impliziert. Die Anwesenheit weiterer Staatschefs, die in einem kritischen Verhältnis zum Westen stehen, dürfte unweigerlich dazu führen, dass sich die Gipfelteilnehmer über solche Kritik nicht nur hinter verschlossenen Türen verständigen.
Doch diese Konstellation bedeutet keineswegs, dass das Gipfeltreffen in Samarkand die SOZ in ein Bündnis gegen den Westen transformiert. Mutmaßungen dieser Art verkennen nicht zuletzt die Interessen der zentralasiatischen Kernmitglieder der Organisation. Insbesondere für die beiden zentralasiatischen Schlüsselstaaten Usbekistan und Kasachstan wäre eine gegen den Westen gerichtete Blockbildung alles andere als wünschenswert. Für diese Staaten, deren politisches Gewicht innerhalb der SOZ seit den Gründungsjahren erheblich gewachsen ist, liegt der Wert der SOZ gerade in ihrem bündnisfreien Status, wie Usbekistan als Gastgeber im Vorfeld des Gipfels hervorgehoben hat. Aufgrund der historischen Erfahrung mit den hegemonialen Bestrebungen Russlands und Chinas ist außenpolitische Unabhängigkeit für die zentralasiatischen Mitglieder ein Wert von allerhöchstem Rang. Besonders mit Russland verbindet sie ein komplexes Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten. Diese würden sie lieber lockern als festigen – und das Mittel der Wahl ist eine diversifizierte Außenpolitik. Dabei kommt gerade den Beziehungen zu westlichen Staaten große Bedeutung zu.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Erweiterung der SOZ um Länder wie den Iran und, perspektivisch, die Türkei sowie arabische Staaten eine ausgesprochen attraktive Option für die Zentralasiaten. Sie verbinden damit aber gerade nicht die Aussicht auf eine machtvolle Allianz gegen den Westen, von der sie keinerlei Vorteil hätten. Vielmehr liegt der Nutzen einer erweiterten SOZ für sie darin, die Vielstimmigkeit innerhalb der Organisation zu vergrößern, Machtansprüche einzelner Mitglieder dadurch zu zähmen und gleichzeitig den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern.
Strategien und Perspektiven
doi:10.18449/2020S13