Rechtsaußenparteien gewinnen europaweit an Zustimmung. In immer mehr Staaten der Europäischen Union (EU) sind sie an nationalen Regierungen beteiligt, und für die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) im Juni 2024 wird erwartet, dass sie weitere Zuwächse erreichen. Angesichts der zunehmenden Mitentscheidungsrolle dieser Parteien ist es für die außen- und sicherheitspolitisch herausgeforderte EU wichtig, wie sie sich in diesem Politikfeld positionieren. Ein genauerer Blick zeigt, dass die geostrategische Positionierung sehr unterschiedlich ausfällt und zur Fragmentierung des Rechtsaußenspektrums beiträgt. Die Positionen reichen von transatlantischer Orientierung und deutlicher Unterstützung für die angegriffene Ukraine, wie sie die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) vertreten, bis hin zu fundamentaler Opposition mit antiwestlicher Ausrichtung unter Teilen der rechtspopulistisch bis rechtsextremen Parteien der Fraktion Identität und Demokratie (ID). Bedeutend für die Handlungsfähigkeit und Kohärenz der EU-Außen- und ‑Sicherheitspolitik werden die nationalen Wahlen und Koalitionsentscheidungen sein.
Die Europawahlen im Juni werden unter dem Schatten zweier zentraler politischer Trends stattfinden:
Zum einen ist die EU außen- und sicherheitspolitisch herausgefordert wie kaum jemals zuvor in ihrer Geschichte. Gründe sind der anhaltende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, in dem angesichts abnehmender US-amerikanischer Hilfe das Kräfteverhältnis zu Ungunsten der Ukraine zu kippen droht; der Krieg in Gaza, der die Gefahr einer regionalen Eskalation birgt; militärische Konflikte wie etwa um Bergkarabach sowie Instabilität im Westlichen Balkan. Und über all dem liegen die zunehmende sino-amerikanische Rivalität und die potenzielle Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus.
Zum anderen erhalten die europäischen Rechtsaußenparteien stetig mehr Zulauf. Als rechts außen werden hier alle Parteien betrachtet, die sich rechts der christdemokratisch-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) positionieren. Schon bei den Europawahlen 2019 gewannen Parteien dieses Spektrums knapp 25 Prozent der Sitze im EU-Parlament. Dies hat die Mehrheitsbildung in der laufenden Legislaturperiode erschwert – für Mehrheiten sind derzeit jeweils mindestens drei Fraktionen notwendig. Laut aktueller Umfragen könnten Rechtsaußenparteien bei den Europawahlen 2024 sogar 30 Prozent der Sitze erreichen (Stand: Februar 2024).
Heterogener ist das Bild auf nationaler Ebene. Italien, drittgrößter EU-Staat, wird seit 2022 von einer Rechtsaußen-Mitte-rechts-Koalition aus Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia regiert, wohingegen die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen die Wahlen verloren hat. Nach dem Wahlsieg von Geert Wilders und seiner Partij voor de Vrijheid (PVV) in den Niederlanden besteht zudem erstmals die Möglichkeit, dass ein Mitglied der rechtspopulistisch bis rechtsextremen Partei Identität und Demokratie die Regierung eines EU-Landes führt. In Finnland sind ›Die Finnen‹ als kleiner Koalitionspartner an der Regierung beteiligt, die Schwedendemokraten tolerieren die schwedische Minderheitsregierung. Nicht zuletzt sind der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und die Regierungspartei Fidesz spätestens seit ihrem Austritt aus der EVP im März 2021 deutlich nach rechts außen gerückt. Alle diese Regierungen entscheiden im Rat und im Europäischen Rat über die EU-Außen- und ‑Sicherheitspolitik mit und werden nach den Europawahlen jeweils Kandidaten für die EU-Kommission nominieren.
Während die EU also vor großen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen steht, setzt sich intern der Prozess der parteipolitischen Fragmentierung und der Abkehr von den Parteien fort, die lange die EU-Integration dominiert haben, das heißt von den Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien. Umso wichtiger ist ein Blick darauf, wie sich Rechtsaußenparteien in außen- und sicherheitspolitischen Fragen positionieren.
Das Rechtsaußenspektrum bleibt europaweit gespalten
Betrachtet man das Spektrum von Parteien rechts der EVP in der EU und ihren Mitgliedstaaten, hat sich dieses in der ablaufenden EU-Legislaturperiode nicht wesentlich verändert. Versuche der Einigung sind bisher an den unterschiedlichen Positionen gescheitert, auch und gerade zu Russland. So verteilen sich die europäischen Rechtsaußenparteien weiterhin auf drei Gruppierungen:
Die erste bilden die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), die mit zurzeit 68 Abgeordneten die fünftgrößte Fraktion im EP stellen. In dieser Fraktion / Partei versammeln sich vor allem nationalkonservative Parteien wie die polnische PiS, Giorgia Melonis Fratelli d’Italia und die spanische VOX. In den EU-Institutionen beteiligen sich Vertreter der EKR-Parteien in einigen Fällen an der Kompromissbildung, so zum Beispiel 2019 an der Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin. Die EKR sind aber nicht Teil der europäischen »großen Koalition« aus EVP, Sozialdemokraten (S&D) und Liberalen (Renew). Die EKR-Parteien lehnen weitere Integrationsschritte ab und fordern in der Regel eine Rückkehr zu mehr Kompetenzen für die Nationalstaaten, aber keine Austrittsperspektive für ihre jeweiligen Länder.
Die zweite Partei / Fraktion, Identität und Demokratie (ID), ist aktuell mit 59 Abgeordneten im EP vertreten und damit sechstgrößte Fraktion. In ihr haben sich rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien zusammengefunden. Dominiert wird sie von drei großen nationalen Gruppen: dem französischen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen, der italienischen Lega und der Alternative für Deutschland (AfD). Weitere wichtige ID-Parteien sind die niederländische PVV sowie die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ).
In den EU-Institutionen nehmen ID-Mitgliedsparteien bislang weitgehend eine Oppositionsrolle ein. Keine nationale Regierung wird bisher von einer ID-Partei geführt, so dass die ID nicht direkt im Europäischen Rat vertreten ist. Im EP trägt sie nicht zur Kompromissfindung bei und ist nur selten an Mehrheiten beteiligt. Eine formelle europäische »Brandmauer« hat zwar nie existiert, aber auf Grund ihrer eindeutig extremeren Haltung steht die ID im Parlament erheblich weiter rechts außen als die EKR. In vielen Fragen sind die ID-Mitgliedsparteien gespalten, so auch in ihrer Haltung zur EU: Während etwa die Lega, der RN sowie zum Teil die PVV ihre Fundamentalopposition zur EU abgeschwächt haben, um ihre Regierungsfähigkeit zu bekunden, geben sich die AfD und teilweise die FPÖ offen für die Option eines Referendums über einen EU-Austritt ihres jeweiligen Landes.
Zuletzt gibt es noch unter den fraktionslosen Abgeordneten (Non-Inscrit/NI) im EP einige, deren Parteien rechts außen verortet werden; dies trifft aber nicht auf alle fraktionslosen Mitglieder des EP zu. Die größte fraktionslose Partei, die dem Rechtsaußenspektrum zuzurechnen ist, ist die ungarische Fidesz, die während der aktuellen Legislaturperiode aus der EVP ausgetreten ist. Obwohl auf oberster Ebene Treffen stattgefunden haben und Anfang 2024 aus den Reihen der EKR und der ID Einladungen ausgesprochen wurden, ist Fidesz bisher keiner der beiden Fraktionen beigetreten. Das politische Spektrum rechts der EVP bleibt daher gespalten. Jedoch sind Fraktionswechsel einzelner Parteien vor und nach den Europawahlen nicht ausgeschlossen.
Die geostrategische Positionierung
Ein zentraler Streitpunkt zwischen den verschiedenen europäischen Rechtsaußenparteien war und bleibt das Verhältnis zu Russland. Doch die Unterschiede gehen tiefer, betreffen auch weitere Themen und lassen sich nicht nur zwischen EKR, ID und NI-Parteien finden, sondern ebenso innerhalb der drei Gruppierungen.
Um besser zu verstehen, wie sich die Rechtsaußenparteien geostrategisch positionieren, wurde das Abstimmungsverhalten ihrer Abgeordneten im Europaparlament in der aktuellen Legislaturperiode analysiert. Außen- und sicherheitspolitische Beschlüsse des EP sind oft nicht bindend, geben den Parteien aber gerade deswegen die Möglichkeit, sich durch namentliche Abstimmung der Abgeordneten zu positionieren. Insgesamt wurden für diese Publikation 74 Abstimmungen zwischen Juli 2019 und Dezember 2023 untersucht. In keiner davon waren EKR- oder ID-Parteien zwingend notwendige Mehrheitsbeschaffer, die Abstimmungen wären ohne sie also nicht gescheitert.
In diesen Abstimmungen ging es um folgende fünf außen- und sicherheitspolitische Dimensionen: das Verhältnis der EU zu Russland, zu China und zu den USA bzw. zur Nato, die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit der EU sowie die Erweiterung der EU um die Ukraine und Moldau, potenziell auch um Georgien und die Staaten des Westbalkans. Die Grafik auf Seite 4 zeigt, wie stark die prozentuale Zustimmung bei Abstimmungen im EP zu diesen Schlüsseldimensionen war, und zwar von Seiten der EKR, der ID sowie der Fidesz als größter fraktionsloser Partei.
Die nationalkonservativen EKR
Die nationalkonservativen Europäischen Konservativen und Reformer nehmen über den Erhebungszeitraum hinweg in der Außen- und Sicherheitspolitik eine größtenteils konstruktive und anschlussfähige Rolle ein. In vier der fünf betrachteten außen- und sicherheitspolitischen Dimensionen stimmte die Fraktion der EKR in der überwiegenden Zahl der Fälle mit der Parlamentsmehrheit und unterstützte mehrheitlich geschlossen die vorgebrachten Resolutionen und Beschlüsse.
Blickt man auf das Verhältnis zu Russland, so wird schnell deutlich, dass die EKR-Parteien die rechtsstaatliche und humanitäre Lage in der Russischen Föderation ebenso wie den Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Folgen überwiegend geschlossen verurteilen. Dies entspricht der Position der Mehrheit im Europaparlament. Die dezidiert russlandkritische Einstellung der EKR-Fraktion insgesamt wird etwa dadurch illustriert, dass sie im Januar 2024 mit EVP, S&D, Renew und Grünen eine gemeinsame Erklärung zur weiteren militärischen Unterstützung der Ukraine unterzeichnet hat. Lediglich bei Resolutionen, welche die Dimensionen Flucht und Vertreibung oder den besonderen Schutz von Frauen und Mädchen im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg thematisierten, haben sich große Teile der EKR-Fraktion enthalten.
Wird nach Parteien differenziert, stellt man fest, dass sich insbesondere die beiden großen deutlich russlandkritisch positionieren, die polnische PiS und die Fratelli d’Italia. Auch die EP-Abgeordneten der belgischen Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) stimmten tendenziell bei russlandbezogenen Abstimmungen zu. Für die Schwedendemokraten, die spanische VOX und die niederländische JA21 ergibt sich ein weniger eindeutiges Bild, da sie sich entgegen der Fraktionslinie in Abstimmungen zu Russland häufiger enthielten.
Was die Beziehungen zur Volksrepublik China angeht, hat sich das EP im untersuchten Zeitraum vor allem mit der menschenrechtlichen Lage in Hongkong und der China-Strategie der EU befasst sowie chinesische Sanktionen gegen EP-Abgeordnete und EU-Einrichtungen verurteilt. Hier konnten in der EKR-Fraktion über die gesamte Zeit lediglich eine einzige Gegenstimme und nur sehr wenige Enthaltungen gezählt werden. PiS, VOX, Schwedendemokraten und Fratelli d’Italia nehmen als größte Parteienblöcke eine distanzierte Position zu Peking ein und stimmten stets mit der Parlamentsmehrheit.
Die hieraus abzulesende grundsätzlich kritische Einstellung gegenüber der Volksrepublik schlägt sich auch in diversen Pressestatements der EKR-Fraktion nieder. Darin wird sogar betont, dass die Positionen der EKR und der Mehrheit der im EP vertretenen Parteien bezüglich China nahe beieinanderliegen, zudem wird die Charakterisierung Chinas als »systemischer Rivale« übernommen. Dazu passt ferner die Entscheidung Melonis, dass Italien aus der chinesischen Initiative »Neue Seidenstraße« ausgetreten ist.
Ähnlich klar ist das Abstimmungsverhalten der EKR hinsichtlich der transatlantischen Beziehungen. Die überwiegende Mehrheit der EKR-Parlamentarier schloss sich der Mehrheitsmeinung des EP an, Enthaltungen und Gegenstimmen waren nur wenige zu verzeichnen. Im Einklang mit ihrer traditionell starken transatlantischen Bindung und ihrer wiederholt formulierten Nähe zur Nato ist die Zustimmung der PiS und der Fratelli d’Italia offenkundig und ohne Abweichler. Veröffentlichungen der EKR-Fraktion unterstreichen zusätzlich, welche Bedeutung die transatlantische Partnerschaft für sie hat.
Bei jeglichen Fragen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zeigt sich, dass die EKR-Fraktion eine weitere Vertiefung der EU ablehnt. Beim überwiegenden Teil der betrachteten Abstimmungen hat sie mehrheitlich nicht für die eingebrachten Vorhaben gestimmt. Bei solchen, die die jährlichen Umsetzungsberichte zur GASP / GSVP oder den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) betrafen, hat sie sich meist enthalten. Schwedendemokraten, VOX und JA21 votierten sogar zu einem großen Teil gegen die Resolutionen und Vorhaben.
Interessant ist in diesem Kontext jedoch, dass die EKR-Fraktion bei bestimmten Abstimmungen weitestgehend geschlossen dafür votierte, nämlich wenn es sich um konkrete außen- und sicherheitspolitische Instrumente wie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) handelte, um die Verordnung zur Förderung der Munitionsproduktion (ASAP) oder um Strategiedokumente wie den Strategischen Kompass.
Auch bei Fragen der EU-Erweiterung stimmten die EKR mit großer Mehrheit für die eingebrachten Fortschrittsberichte, die Erweiterungsstrategien der Kommission sowie die Assoziierungsabkommen mit der Republik Moldau und der Ukraine. Ausnahmen bildeten die Schwedendemokraten, die niederländische JA21 und gelegentlich VOX, die sich entweder enthielten oder mit Nein votierten. Lediglich wenn es um den Beitritt der Türkei und Bosnien und Herzegowinas ging, konnte innerhalb der EKR-Fraktion eine eindeutige und über die Zeit stabile Tendenz zur Enthaltung beobachtet werden; dies gilt ebenfalls für die sonst mit dem Mainstream stimmenden Parteien PiS und Fratelli d’Italia.
Identität und Demokratie
In starkem Kontrast dazu steht die Fraktion Identität und Demokratie. In keiner der untersuchten Dimensionen stimmte die ID-Fraktion eindeutig und konsistent mit der Parlamentsmehrheit. Vielmehr zeigt sich die ID auch in der Außen- und Sicherheitspolitik als Zweckbündnis, das oft gespalten ist und anders als die EKR so gut wie keine gemeinsamen Stellungnahmen abgibt.
Auf der einen Seite steht die italienische Lega, die die außenpolitischen Leitlinien der mehrheitstragenden Fraktionen im Europaparlament meist unterstützt, auf der anderen Seite die AfD und der französische Rassemblement National als Parteien der Fundamentalopposition.
Die Frage der Beziehungen der EU zu Russland spiegelt diese Spaltung gut wider: Abgeordnete der Lega und der finnischen Perussuomalaiset (›Die Finnen‹) trugen die zu diesem Thema im EU-Parlament eingebrachten Vorhaben zum Großteil geschlossen mit. Letztere verließen im Frühjahr 2023 jedoch die ID-Fraktion und wechselten zu den EKR, nachdem Differenzen innerhalb der ID zum Umgang mit Russland und dessen Angriffskrieg immer offensichtlicher wurden. Die russlandkritische Position der Lega ist vor allem Ausdruck des Pragmatismus der Partei, die sich als Regierungspartei in Italien nun der Mehrheitsmeinung anschließt, obwohl sie und ihr Parteivorsitzender Matteo Salvini in den 2010er Jahren noch eine besondere Nähe zu Russland und Wladimir Putin suchten.
RN und AfD hingegen enthielten sich in Bezug auf Russland-Resolutionen häufig oder stimmten geschlossen gegen die Parlamentsmehrheit. Allerdings lässt sich hierbei keine eindeutige Tendenz der koordinierten Stimmabgabe zwischen beiden Parteien feststellen. Oft genug kam es zur Enthaltung des RN und zur Ablehnung durch die AfD oder umgekehrt. Dieses beobachtbare Abstimmungsverhalten reiht sich ein in ein zumindest ungeklärtes Näheverhältnis der beiden Parteien zu Putins Russland.
Etwas anders gelagert ist das Abstimmungsverhalten der ID-Fraktion mit Blick auf die europäisch-chinesischen Beziehungen. Hier kann man zumindest beim Thema Verurteilung der menschenrechtlichen Lage in Hongkong Tendenzen erkennen: zur Zustimmung auf Seiten der Lega und der belgischen Vlaams Belang, zur Enthaltung auf Seiten von RN und AfD. Was die grundsätzliche Positionierung gegenüber China und die Unterstützung der China-Strategie der EU anbetrifft, wandelt sich die Enthaltung von RN und AfD in strikte Ablehnung.
RN und AfD kommen bezüglich China also zu keiner klaren zustimmenden Haltung. Dagegen kritisiert der Präsident der ID-Fraktion, der der Lega angehört, in Fraktionsstatements die menschenrechtliche Lage in Festland-China und Hongkong sowie den Einfluss der Volksrepublik auf kritische Infrastruktur in der EU ― was als weiterer Beleg für die Spaltung der Fraktion interpretiert werden kann.
Die transatlantischen Beziehungen stellen gleichfalls ein kontroverses Thema innerhalb der ID-Fraktion dar. Hier stimmten die Abgeordneten der Lega über den Untersuchungszeitraum hinweg geschlossen für die eingebrachten Resolutionen und Strategiedokumente. Die Abgeordneten von Vlaams Belang, der tschechischen Svoboda a přímá demokracie und des RN votierten sowohl bei Abstimmungen über die Beziehungen der EU zu den USA als auch bei denen über die Beziehungen zur Nato sämtlich mit Nein.
Konkrete außen- und sicherheitspolitische Instrumente der GASP und GSVP stießen bei den Abgeordneten der ID-Fraktion auf ebenso wenig Begeisterung. Hier kam es mehrheitlich zur Ablehnung, allen voran durch die Parlamentarier von RN und AfD. Diejenigen der Lega schwankten zwischen Enthaltung, etwa bei Abstimmungen zu PESCO oder zu der im Strategischen Kompass vorgestellten schnellen Eingreiftruppe, und Zustimmung, beispielsweise bei ASAP.
Auch die jährlichen Umsetzungsberichte zur GASP und GSVP wurden mehrheitlich abgelehnt und lediglich von der Lega unterstützt. In allen Abstimmungen, die die Aktivitäten des EAD zum Thema hatten, so wie die Budgetplanung oder klimaaußenpolitische Erwägungen, stimmten die Abgeordneten der ID mehrheitlich mit Nein, selbst in den meisten Fällen diejenigen der Lega (ähnlich wie diejenigen der EKR).
In der fünften untersuchten Dimension, der Erweiterung, votierte die ID-Fraktion ebenfalls bei keiner der Abstimmungen mehrheitlich für die eingebrachten Fortschrittsberichte oder die Strategiepapiere zur Erweiterungspolitik der EU. Auch hier lässt sich konstatieren, dass die Abgeordneten der Lega zwischen Enthaltung und Zustimmung wechselten. Wenn Teile der ID-Fraktion erweiterungsbezogene Vorhaben mit einem Ja unterstützten, dann waren dies ausschließlich Abgeordnete der Lega. Die bereits beschriebene De-facto-Allianz zwischen RN und AfD ist in dieser Frage stark ausgeprägt; beide Blöcke stimmten überwiegend gegen erweiterungsbezogene Berichte und Vorhaben ― und FPÖ, Vlaams Belang und Svoboda folgten diesem Vorbild.
Fraktionslose Rechtsaußenparteien
Die Betrachtung der Rechtsaußen- und / oder populistischen Parteien ohne Fraktionszugehörigkeit im Europaparlament ist deshalb notwendig, weil zwei dieser Parteien, die italienische Fünf-Sterne-Bewegung und die ungarische Fidesz, an Regierungen in Mitgliedstaaten beteiligt waren bzw. sind. Die Fidesz-Partei von Viktor Orbán ist im März 2021 nach langem politischem Streit aus der EVP-Fraktion ausgetreten; daher wird sie in dieser Analyse auch erst ab diesem Zeitpunkt berücksichtigt.
Die Fünf-Sterne-Bewegung entzieht sich dem klassischen Rechts- / Links-Spektrum. Sie war in der letzten EU-Legislaturperiode (2014–2019) Teil der rechtspopulistischen Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD), die sich 2019 allerdings nicht mehr als eigene Fraktion konstituieren konnte. Die Fünf-Sterne-Bewegung wird heute eher als (links-)populistisch und euroskeptisch eingestuft. Mit Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik lässt sich festhalten, dass sie beim überwiegenden Teil der Abstimmungen und über alle betrachteten außenpolitischen Dimensionen hinweg mehrheitlich mit der Parlamentsmehrheit votierte. Sie reiht sich somit ein in das konstruktive Abstimmungsverhalten von Fratelli d’Italia und Lega.
Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten von Fidesz hängt jedoch deutlicher von der jeweiligen außenpolitischen Dimension ab und bewegt sich zwischen Ablehnung, Enthaltung und Zustimmung.
In der Frage der Beziehungen der EU zu Russland zeigt sich die ambivalente Haltung Ungarns zum russischen Angriffskrieg. Die Fidesz trägt einen nicht unwesentlichen Anteil der Abstimmungen hinsichtlich Russland mit. So votierten ihre EP-Abgeordneten im März 2022 geschlossen für die erste Resolution zur Verurteilung des Angriffskrieges. Auch die Kritik an der Inhaftierung des nunmehr verstorbenen Alexei Nawalny und am Zusammenziehen russischer Streitkräfte an der ukrainischen Grenze im Jahr 2021 unterstützten sie. Auffällig ist jedoch, dass Fidesz ihre Unterstützung versagt, sobald eine gewisse Hürde der Verurteilung russischen Regierungshandelns überschritten wird: zum Beispiel als Russland als staatlicher Unterstützer von Terrorismus eingestuft oder als über einen Sondergerichtshof für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine abgestimmt wurde.
Eine deutliche und konsistente Ablehnung der EU-Russlandpolitik lässt sich bei den beiden slowakischen rechtsextremen Kleinstparteien Slovak Patriot und Hnutie Republika sowie der französischen Reconquête beobachten. Alle drei haben allerdings nur jeweils einen Sitz im EP; die Reconquête ist im Februar 2024 den EKR beigetreten und würde dort außen- und sicherheitspolitisch im Widerspruch zur bisherigen Fraktionslinie stehen. Dieses grundsätzlich ablehnende Abstimmungsverhalten betrifft alle fünf untersuchten Dimensionen.
Die europäisch-chinesischen Beziehungen stellen mit Blick auf die Fidesz einen Sonderfall dar. Hier konnte für den Untersuchungszeitraum bzw. die Zeit nach Austritt der Fidesz aus der EVP festgestellt werden, dass ihre Abgeordneten Resolutionen zur menschenrechtlichen Lage in Hongkong einmütig ablehnten. Das gilt auch für solche, die die Sanktionsbelegung von EU-Einrichtungen und EP-Abgeordneten durch China zum Inhalt hatten. Anderen chinabezogenen Abstimmungen blieben die Fidesz-Abgeordneten geschlossen fern. Dies ist durchaus damit zu erklären, dass die Regierung in Budapest in jüngster Zeit verstärkt die Nähe zur Volksrepublik sucht, und steht im Gegensatz nicht nur zur Haltung der EKR, sondern auch zu der der ID-Fraktion.
Ein weniger eindeutiges Bild lässt sich bezüglich der transatlantischen Beziehungen zeichnen. Die Fidesz steht der Kooperation mit der Nato prinzipiell positiv gegenüber, enthielt sich allerdings bei Abstimmungen, die die Beziehungen der EU zu den USA betrafen. Dies reflektiert unter anderem das in letzter Zeit kühlere Verhältnis zwischen Orbán und der aktuellen US-Regierung, bedingt durch die Debatte um die Rechtsstaatlichkeit und auf Grund der Frage des Nato-Beitritts Schwedens.
Ein ebenso volatiles Abstimmungsverhalten der Fidesz lässt sich beim Thema GASP und GSVP erkennen. Die hierzu jährlich vorgelegten Berichte werden grundsätzlich geschlossen abgelehnt. Instrumenten wie ASAP oder dem Strategischen Kompass stimmten die Fidesz-Abgeordneten zu, wohingegen solche wie die schnelle Eingreiftruppe bzw. EU-Battlegroups auf Neutralität stoßen und eine eindeutige Positionierung bei Abstimmungen zum EAD nicht erfolgte. Dies entspricht der Politik Ungarns unter Viktor Orbán, der zwar eigene Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnt, aber Initiativen zur Stärkung europäischer militärischer Fähigkeiten in der Regel unterstützt hat.
In Fragen der Erweiterungspolitik zeigt sich ein interessantes Muster. Die Abgeordneten der Fidesz votierten in einzelnen Abstimmungen sämtlich gegen die eingebrachten Jahresberichte oder Strategiedokumente, etwa bei den Fortschrittsberichten zu Serbien. Letzteres liegt allerdings nicht daran, dass sie die Beitrittsperspektive Serbiens ablehnen, sondern daran, dass sie die Fortschrittsberichte als zu kritisch ansehen, insbesondere in puncto Rechtsstaatlichkeit. Auch die im November 2022 im EP besprochene neue EU-Strategie zur Erweiterungspolitik fand keine Zustimmung. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Fidesz, trotz der Blockadepolitik Orbáns, bei der Resolution zum Kandidatenstatus der Ukraine noch im Sommer 2022 geschlossen dafür gestimmt hat.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Die Analyse der außen- und sicherheitspolitischen Positionierung von Rechtsaußenparteien im Europäischen Parlament unterstreicht die Notwendigkeit zu differenzieren, denn auch und gerade in außen- und sicherheitspolitischen Fragen bleibt das Rechtsaußenspektrum tief gespalten: Auf der einen Seite stehen die nationalkonservativen Parteien der EKR. Sie sind in diesem Bereich weitgehend einmütig aufgetreten und haben sich bei den Themen Beziehungen zu Russland, zu China, zu den USA sowie der EU-Erweiterung dem europäischen Mainstream angeschlossen. Nennenswerte Ausnahmen bildeten Frauenrechtsfragen und die Unterstützung der EU-Integration in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Doch auch hier hat die Mehrheit der EKR-Parteien konkreten Initiativen (wie zum Beispiel PESCO oder ASAP) zugestimmt.
Auf der anderen Seite stehen die rechtspopulistisch bis rechtsextremen Parteien der ID-Fraktion, die in der Außen- und Sicherheitspolitik auch innerhalb der Fraktion gespalten sind. In der Mehrheit nehmen sie eine oppositionelle, zum Teil sogar explizit antiwestliche Haltung ein, so hinsichtlich des Umgangs mit Russland oder China. Bedeutende Ausnahme ist die in Italien an der Regierung beteiligte Lega. Dagegen lehnen insbesondere der französische RN, die AfD, die FPÖ und die niederländische PVV den Großteil der außen- und sicherheitspolitischen Grundlinien der EU ab.
Auf Basis dieser Unterschiede sind auch die Wahlprognosen für das kommende Europäische Parlament differenziert zu betrachten. Diese erwarten aktuell (Stand: Februar 2024) nicht nur insgesamt deutliche Zuwächse für Rechtsaußenparteien, sondern ebenfalls, dass sowohl die ID als auch die EKR weitere Sitze gewinnen und eine der beiden Fraktionen zur drittstärksten im EP aufsteigen könnte. Mit ihrer antiwestlichen Grundhaltung würde die ID unter anderem in der Außen- und Sicherheitspolitik die EU-Grundsatzpositionen wesentlich stärker in Frage stellen als die EKR. Da gleichzeitig eine wachsende Fragmentierung erwartet wird, werden die Parteien links und rechts der Mitte klären müssen, unter welchen Umständen sie auch und gerade in außen- und sicherheitspolitischen Fragen zur Zusammenarbeit mit der EKR-Fraktion bereit wären, die in Zukunft potenziell sogar als Mehrheitsbeschaffer fungieren könnte.
Für das Kräfteverhältnis zwischen EKR und ID dürfte darüber hinaus wichtig sein, ob und, wenn ja, welcher der beiden Fraktionen sich die ungarische Fidesz unter Viktor Orbán anschließt. Medienberichten zufolge strebt Fidesz nach den Europawahlen eher eine Mitgliedschaft bei den EKR an, würde aber deren russlandkritische und prowestliche Positionierung schwächen. Zumindest in der Außen- und Sicherheitspolitik ist die Fidesz näher an der ID-Fraktion, in der China-Politik allerdings noch weiter entfernt von den anderen Parteien im EP als EKR oder ID.
Die größte Herausforderung für die Einheitlichkeit und Handlungsfähigkeit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik resultiert indes aus den Entwicklungen auf nationaler Ebene. Das hier analysierte Abstimmungsverhalten im EP ist ein Indikator für Positionierungen; die eigentlichen Entscheidungen zu den untersuchten Themen werden aber nicht im Europaparlament, sondern von den nationalen Regierungen im Rat getroffen. Hier ist das Disruptionspotenzial angesichts nationaler Vetos – siehe Viktor Orbán – erheblich größer. Denn mittlerweile ist eine Reihe von Rechtsaußenparteien an Regierungen in EU-Staaten beteiligt, bisher allerdings, mit Ausnahme der Lega, nur solche aus dem EKR-Spektrum.
2024 könnten jedoch nach dem Wahlsieg von Geert Wilders in den Niederlanden sowie dem aktuellen Vorsprung der FPÖ in Österreich (Wahlen im Herbst 2024) erstmals ID-geführte Regierungen hinzukommen. Aus dieser Perspektive ist es umso wichtiger, auf Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik hinzuarbeiten (siehe SWP-Aktuell 60/2022). Initiativen zur Stärkung der EU-Handlungsfähigkeit sollten möglichst rasch, und nicht erst nach einem möglichen Wahlsieg Donald Trumps, auf den Weg gebracht werden.
Max Becker ist Forschungsassistent, Dr. Nicolai von Ondarza Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
Wir möchten uns ausdrücklich bei Paul Bochtler für die ausgezeichnete Unterstützung bei der Datenanalyse bedanken.
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