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Geopolitik im Ostseeraum

Die »Zeitenwende« im Kontext von kritischer maritimer Infrastruktur, Eskalationsgefahren und deutschem Führungswillen

SWP-Aktuell 2023/A 06, 30.01.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A06

Research Areas

Aufgrund seiner strategischen Weite und der Möglichkeiten zu verdecktem Agieren ist der maritime Raum zum wichtigsten Schauplatz globaler Großmachtrivalität gewor­den. Im Schatten dieser Auseinandersetzung und des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ist die Ostsee in den Fokus geopolitischer Interessen und Konflikte gera­ten. Ausdruck dessen sind vermehrt auftretende hybride Aktivitäten, von Sabo­tageakten bis hin zum Einsatz unbekannter Drohnen. Vor allem den westlichen Staaten des Ostseeraums führt all dies ihre Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, kritischer maritimer Infrastruktur und sicheren Handelswegen vor Augen. Als Antwort auf den Krieg in der Ukraine und russische Marineaktivitäten in der Ostsee haben Anrainerstaaten ihre Militärs in erhöhte Bereitschaft versetzt. Inmitten dieser krisenhaften Lage verharren Nato-Verbündete und zukünftige Alliierte in einem überflüssigen Streit über Kräftedispositive, neue Strukturen und Führungsrollen. Von der deutschen »Zeitenwende« ist daher im Ostseeraum kaum etwas zu spüren.

Während des Ost-West Konflikts wurde die Ostsee vom Warschauer Pakt als Meer des Friedens bezeichnet. In der eigenen Auslegung beinhaltete diese Beschreibung einen »Mare clausum«-Anspruch, der geo­politisch auf der Ostsee als dem Ursprungs­meer sowjetischen Seemachtstrebens beruhte. De facto war die Ostsee geteilt in das vom Warschauer Pakt kontrollierte Gebiet östlich der Insel Fehmarn und das von der Nato kontrollierte Gebiet westlich von Fehmarn bis zum Skagerrak. Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland und Norwegen sicherten die Ostseezugänge.

Darüber hinaus gab es mit den beiden bündnisfreien Staaten Schweden und Finn­land ein Gebiet in der Ostsee, das geostrategische Relevanz für die Kon­trolle der wesent­lichen Seeverbindungs­linien in einem vom War­schauer Pakt dominierten Raum besaß. Deshalb hätte es Ziel einer sowjetischen Aggres­sion werden können, war aber in den Verteidigungsplänen der Nato nicht explizit berück­sichtigt worden. Aufgrund ihrer Erfah­rungen mit der Sowjetunion stellten beide Staaten jedoch frühzeitig kampfstarke Streitkräfte mit Konzepten der nationalen Mobilmachung und einer gesamtgesellschaftlichen Sicher­heitsvorsorge auf, um Abschreckung und Resilienz zu gewähr­leisten. Der geografische Raum der östlichen Ostsee, an den Schweden und Finnland grenzen, bildete für den Fall einer militärischen Konfron­tation ein militärstrategisches Einfallstor für das Vordringen hinter den Eisernen Vorhang des Ost-West-Konflikts.

Das geteilte Deutschland und damit auch die angrenzende Ostsee war dagegen die potentielle Frontlinie einer militärischen Eskalation zwischen dem Warschauer Pakt und der Nato. In der Ostsee verfügte die Sowjetunion zusammen mit Polen und der DDR über eine zahlenmäßige maritime Dominanz mit ihren U-Booten, Zer­störern, Korvetten, schnellen Patrouillenbooten, amphibischen Mitteln und Minen­legern. Die Seestreitkräfte der Nato kon­zentrierten sich auf Schließung und Kontrolle der Ost­seezugänge bis zu den dänischen Stra­ßen, also bis zum Öresund sowie zum Kleinen und Großen Belt. In der Ostsee verfügte die Allianz über rund 50 Flugkörper­schnell­boote, ebenso viele Minenräum- und Minen­­legeboote, 28 klei­nere kon­ventionelle U‑Boote, zahlreiche Küsten­batterien und ungefähr 100 Kampfflugzeuge, die auf Seekriegsführung spezialisiert waren. Die Nato glaubte der Über­legenheit des War-schauer Paktes im Falle einer Auseinandersetzung kaum etwas entgegensetzen zu können. Daher wurde eine sowjetische Besetzung großer Teile des dänischen, süd­norwegischen und norddeutschen Territoriums in den ersten Tagen eines möglichen Konflikts erwartet.

Die wesentliche strategische Engstelle war aus sowjetischer Sicht ein Gebiet in und um Südnorwegen. Dort verliefen die See­verbindungslinien zu den Opera­tions- und Wirkungsräumen der stra­tegischen Ein­heiten des Warschauer Paktes, und dort befanden sich die Zugänge für russische Schiffe und U-Boote der Ostsee­flotte und der Nordflotte zum Nordatlantik, zur Nordsee und zur Ostsee. In diesem Ge­biet fürchtete man einen Eingriff der Nato in die russischen Seeverbindungs­linien.

Die neue geostrategische Lage

Die geostrategische Realität hat sich in den letzten Jahren fundamental gewandelt. Gründe dafür sind die Folgen des Zusammen­bruchs der Sowjet­­union und des War­schauer Pakts, die russische Außen- und Sicherheitspolitik der neoimperialen Inter­essens- und Ein­fluss­sphären, die sich in der anhaltenden Aggression in der Ukraine manifestiert, und der beabsichtigte Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands. In der neuen Lage sind Ostsee und Nordsee ein Teil des größeren arktisch-nordatlantischen Raumes, dem auch das Schwarze Meer als Operationsgebiet zuzu­rechnen ist. Aus russischer Sicht ist dieser Raum Bestandteil seiner Strategie gegenüber Europa, mit der Moskau einen Wirt­schafts- und Sicherheitsraum vom Atlantik bis zum Pazifik etab­lieren und darin eine zentrale und kontrol­lierende Position ein­nehmen will. Für die ost- und nordeuropäischen Länder hingegen handelt es sich um die Region, in der sie sich mit ständiger Bedrohung und wiederkehrenden Provokationen konfrontiert sehen.

Mit Schwedens und Finnlands Beitritt zur Nato wird die Ostsee – abge­sehen von den beiden Gebieten um Kalinin­grad und Sankt Petersburg – von Nato-Mitglied­staa­ten umgeben sein. Das im Jahr 2022 mit der Veröffentlichung der neuen russi­schen Marinedoktrin erneut proklamierte Ziel der Etablierung einer russischen See­macht wäre in dieser strate­gisch wichtigen Region nicht reali­sierbar. War Norwegen während des Ost-West-Kon­flikts aus Sicht der Sowjet­union ein poten­tielles Bindeglied zwischen geo­strategisch wichtigen Bezugs­punkten, ist dies in russi­scher Perspektive heute die Region der bal­tischen Staaten, vom Finni­schen Meerbusen bis zum Suwalki-Korridor. Das schließt die schwedische Insel Gotland und die dänische Insel Born­holm ein. In der Region verlaufen vitale See­verbindungs­linien, und die Kon­trolle dieses Raums wird in einer nicht mehr auszuschlie­ßenden Konfrontation eine militärische Prio­rität für alle Beteiligten sein. Diese Bedeu­tung wurde zuletzt für die breite Öffentlichkeit sichtbar, als Anfang Januar 2022 zunächst drei russische Landungsschiffe der Nord­flotte in die Ostsee einliefen und in Kalinin­grad nachversorgt wurden. Aufgetankt und ausgerüstet, bewegten sie sich während der folgenden Tage mit drei weiteren Landungs­schiffen der Ost­seeflotte im Seegebiet zwischen Kaliningrad und Gotland. Schwe­den war deshalb derart alar­miert, dass es auf der Insel unver­züglich seine militä­ri­sche Präsenz erhöhte, die es bis heute wei­ter ausgebaut und verstetigt hat. Nach einigen Tagen verließen die sechs Lan­dungsschiffe die Ostsee und fuhren via Ärmelkanal und Mittelmeer ins Schwarze Meer, um die rus­sischen Seestreitkräfte dort in Vor­bereitung des anstehenden Angriffs auf die Ukraine zu verstärken.

Sobald Schweden und Finnland der Nato beigetreten sind, können die Streitkräfte der Allianz die wichtigen Seewege in der Ostsee leich­ter überwachen und kontrollieren. Die balti­schen Staaten sowie Bornholm und Gotland in der zentralen Ostsee werden aus strategi­scher Sicht für den russischen Zugang und die Verbindung zur Exklave Kaliningrad immer wichtiger. Gotland wird die potenti­elle Kontrolle des Ostseeraums durch die Nato erleichtern, während Kali­nin­grad für Russland zur Belastung wird. Ein Land, des­sen Flotte keinen freien Zu­gang zu den eigenen Stützpunkten und Seeverbindungslinien hat, kann keine Seemacht sein. Nach dem Seerechtsübereinkommen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO), einer Unterorganisation der Ver­ein­ten Nationen, hat Russland legitime Rechte, die lebenswichtigen Seeverbindungslinien in der Ost­see zu seinen Gebieten zu nutzen. Im Falle eines bewaff­neten Konflikts könn­te sich das dramatisch ändern. Die Nato hätte einen großen Hebel in der Hand, um die russische Exklave Kali­ningrad und den wirtschaftlich essen­tiellen Zugang zu Sankt Petersburg durch Blockaden und mili­täri­sche Operatio­nen zu erschweren oder diese Seeverbindun­gen sogar für russische Nut­zung zu sperren. Der See­weg endet nicht in Sankt Petersburg, son­dern setzt sich über Flüsse, Seen und Kanäle nach Süden ins rus­sische Kernland, nach Norden zum Weißen Meer fort. Der Sankt Petersburg passierende mari­time Güterverkehr umfasst jährlich über 300 Millio­nen Tonnen. In den letzten Monaten probte Russland, kleinere Kriegs­schiffe, ausgerüstet mit durchsetzungsfähigen Abstands­­waffen wie dem Flugkörper Kalibr, über diese inne­ren Wasserwege von der Ostsee ins Weiße Meer zu verlegen. Den erfolgreichen Ab­schluss der Übung bildete der scharfe Schuss mit einem Kalibr-Marsch­flugkörper.

Diese Übungen dienen auch zum Erhalt der eigenen Bewegungsfreiheit, wenn der Ostseeraum durch die Ausdehnung der Nato immer mehr eingehegt wird. Ähnlich ver­hält es sich mit den Vorwärtsverteidigungs- und Angriffsfähigkeiten, die Moskau mit modernen Waffen­systemen in und um Kali­ningrad und Sankt Petersburg aufgebaut hat. Schwedens und Finnlands Beitritt zur Nato würden es der Allianz erlauben, ihre Fähig­keiten um bessere Aufklärungsmittel sowie defen­sive und offensive Waffensyste­me zu erweitern.

Regionales Konfliktpotential

Neben dem bevorstehenden Beitritt Schwe­dens und Finnlands zur Nato können weite­re Entwicklungen und Konstellationen in der Ostseeregion eine Eskalation zwischen Nato-Staaten und Russland begünstigen:

  • Die Sanktionen des Westens gegen Russ­land schränken den Transitverkehr von Waren nach Kaliningrad und Sankt Petersburg ein.

  • Die anhaltende und stetig wachsende militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine wird auch über die balti­schen Staaten koordiniert und gefördert.

  • Nach wie vor sind die baltischen Staaten vom russischen Energienetz abhängig.

  • Entlang der estnischen und polnischen Grenze sind immer mehr Grenzverletzun­gen durch Russland zu verzeichnen, nämlich durch Militärflugzeuge, Kriegsschiffe und fehl­geleitete Geschosse auf­grund des Krieges in der Ukraine.

  • Zu beobachten sind zahlreiche hybride Aktivitäten, vom Auftauchen von Drohnen entlang kritischer ziviler und militärischer Infrastruktur bis hin zu Sabotage­akten wie dem Nord-Stream-Vorfall.

  • Die Nato passt ihre Pläne und Maßnahmen zur Versicherung ihrer öst­lichen und nördlichen Verbündeten an und stärkt ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten in diesen Regio­nen.

  • Die USA stationieren weitere Waffen­systeme in der Region und weiten die bilaterale Kooperation unter anderem mit Norwegen aus. Künftig kann die US-Luft­waffe die Flugplätze von Rygge und Sola bei Oslo sowie Sta­vanger nutzen, um den Schiffs­verkehr an den Zugängen zur Ostsee zu über­wachen.

In der Summe lassen solche und andere Maßnahmen eine potentielle horizontale Konflikt­eskalation als realistisches Szenario erscheinen, also die Verlagerung eines be­ste­henden Konfliktes in einen anderen geo­grafischen Raum. Wegen der geostrategischen Zusam­menhänge könnte der gesamte Be­reich vom arktisch-nord­atlan­tischen Raum bis hin zur Ostsee gleichermaßen betroffen sein.

Der maritime Raum wird konfliktträchtiger und instabiler

Der maritime Raum ist mit am stärksten von den Veränderungen im Sicherheits­umfeld der letzten Jahre betroffen. Immer mehr verschwimmen die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, wäh­rend Aspekte hinzukommen, die bisher kaum aus sicher­heitspolitischem Blickwinkel be­trachtet wurden. Dazu zählen unter ande­rem Fra­gen der Energiesicherheit, Schutz der Handels- und Wirt­schaftsstandorte, trans­nationale Kriminalität, Sabotage oder zielgerichtete Beeinflussung von Gesellschaften im Informations- und Cyberraum. In diesem Kontext ist der maritime Raum instabiler und anfälliger für hybride Bedrohungen geworden. Minde­stens sieben Faktoren kennzeichnen diese Entwicklung:

(1) Maritime Räume bilden Schauplätze eines geopolitischen Wettbewerbs. Global ist die Konkurrenz zwischen den USA, China und Russland bestimmend. Regional sind weitere Machtwettstreite zu beobachten, zum Beispiel zwischen der Türkei und Russ­land im Schwarzen Meer und Nahen Osten oder zwischen der Türkei, Griechenland und Israel im östlichen Mittelmeer, ver­bunden mit zunehmender Militarisierung. Zugleich bietet das maritime Umfeld eine stra­tegische Tiefe jenseits der Hoheitsgewäs­ser und einen Bereich unter der Wasserober­fläche, der selbst mit mo­dern­ster Satellitenaufklärung nur schwer zu überwachen ist.

(2) Ungelöste Territorialstreitigkeiten und Gebietsansprüche im Mittelmeer, im Pazifik oder in der Arktis markieren eine Entwicklung zunehmend umstrittener Räume und damit vom Mare liberum hin zum Mare clausum. So kollidiert etwa die Vorstellung vom freien und offe­nen Indo-Pazifik mit Pekings Gebiets­ansprüchen im Süd­chinesi­schen Meer.

(3) Maritime Räume sind Verbindungsräume für illegale grenzüberschreitende Aktivitäten, zum Bei­spiel Drogenhandel, illegale Migration, Waffenhandel und Terrorismus.

(4) Im maritimen Raum wächst die Kon­kurrenz um den Zugang zu großen, teils unerschlossenen Res­sourcen und ihre Nut­zung. Vor allem geht es um Erdöl, Erd­gas und Metalle der Sel­tenen Erden, aber auch Wasserkraft als re­generative Energiequelle oder entsalztes Meerwasser in Zeiten schwin­dender Trink­wasserressourcen.

(5) Die Folgen des Klimawandels sind im maritimen Raum besonders gra­vierend. Der Meeres­spiegel steigt, Land- und Meer­eis gehen zurück, der Permafrost taut, und das Meerwasser erwärmt sich. Letzteres zieht Veränderungen in der Meeresbiologie und die Verschmut­zung der Süßwasserressourcen nach sich.

(6) Lebenswichtige Seeverbindungs-, Transport- und Kommunikationswege werden fragiler. Beispiele sind die Blockade des Suezkanals durch das havarierte Con­tainerschiff Ever Given im März 2021 sowie die Unterbrechung der weltweiten Getreide­lieferungen durch die russische Invasion in der Ukraine.

(7) Die Abhängigkeit von kri­tischen Infra­strukturen etwa in den Bereichen Energie und Kommunikation tritt im maritimen Raum deutlich zutage. Schlagendes Beispiel sind die Angriffe auf Nord Stream 1 und 2.

Im Ostseeraum lassen sich derzeit min­destens vier dieser Faktoren identifizieren, nämlich die Bedrohung kritischer maritimer Infra­struktur, die potentielle Störung vitaler Seeverbindungswege, die wachsende und teilweise provokative Präsenz militärischer Einheiten sowie die Auswirkungen des Klimawandels auf die Meeresbiologie.

Die Destabilisierung der maritimen Räu­me entlang dieser Faktoren hat un­mit­tel­bare Folgen für Staaten und Gesellschaften und deren Funktionieren. Betroffen sind auch Staaten ohne direkten Zugang zur offe­nen See. Wirtschaftliche Verflechtungen sind die Hauptursache für weit­reichende und grenzüberschreitende Auswirkungen destabilisierender Aktivitäten. Daher soll­te die Ostsee nicht nur als Randmeer, son­dern als größerer geopolitischer Raum verstanden werden, der eng mit angrenzenden Räumen und Regionen verbunden ist. Aus globaler geostrategischer Perspektive lässt sich sogar eine Parallelität zwischen vielen Regio­nen und Konflikten erken­nen. Von der Arktis über den Nordatlantik, die Ostsee und Ost­europa bis nach Südostasien werden politi­sche, wirtschaftliche und mili­tärische Instru­mente angewandt, um die genannten Fakto­ren im Sinne eigener Interessen zu nutzen.

Kritische maritime Infrastruktur im Ostseeraum

Von den oben erwähnten vier Faktoren sind es im Ostseeraum vor allem die kritische maritime Infra­struktur im Meer und an den Küsten sowie die Seeverbindungslinien, die Anlass zur Sorge geben. In Deutschland sind (maritime) kritische Infrastrukturen bisher am wenig­sten in staatliche Sicherheitskonzepte und ‑maßnahmen eingebunden, da sie überwiegend privat betrieben werden. Infrastrukturen sind unverzicht­bare Lebensadern moderner, leistungsfähiger Gesellschaften. Das betonte Nato-Gene­ral­sekretär Jens Stoltenberg im Dezember 2022 in Berlin, als er die deutsch-norwegi­sche Initiative lobte, die im Rahmen der Allianz die Sicherheit unter Wasser, vor allem der kritischen Infrastruktur dort, ver­bessern soll. Seit den ersten russischen U‑Boot-Akti­vitäten 2015 spielte in militärischen Planungen die Verwundbarkeit der alliierten Nationen durch ihre extraterritoriale maritime Infrastruktur eine wichtige Rolle. Das schließt die Gefahr ein, dass externe Mächte diese Infrastruktur unter Kontrolle bringen, zur Unterwanderung bestehender Sicherheitskonzepte nut­zen und damit einzelne Nationen oder gar die Allianz im Ganzen destabilisieren. Damit wird kritische Infrastruktur verteidigungsrelevant und zum Gegenstand militärischer Planungen oder Schutzbedürfnisse. Die jüngsten Sabotageakte und Zerstörungen haben dafür gesorgt, dass das Thema nun­ auch auf der politischen Agenda gelandet ist und öffentlich diskutiert wird. In ihrem neuen strategischen Konzept vom Juni 2022 stellt die Nato die Handlungen staat­licher Akteure, zum Beispiel Chi­nas, und die Gefahren für die langfristige Sicherheit der Mitglieder des Bündnisses durch externe Einflussnahme in einen Zusammenhang. So heißt es dort, die Volksrepublik strebe »die Kontrolle über technologische und industrielle Schlüsselsektoren, kriti­sche Infrastrukturen sowie strategische Materialien und Liefer­ketten an«.

Innere und äuße­re Sicherheit zu gewährleisten hängt zunehmend von­einander ab. Neue Bedrohungen durch staatliche Akteu­re richten sich gegen Energieversorgung, Handelswege und Wirt­schaftsressourcen. Als Element einer Gesamtstrategie bereiten solche Bedrohungen konventionelle mili­tärische Aktivitäten vor oder ergän­zen sie teilweise. Daher muss die militärische Ver­teidigungsplanung diese für die natio­nale Sicherheit und Wohlfahrt entscheidenden Aspekte berücksichtigen.

Schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine haben außerdem Aktivitäten zu­genommen, die sich nur schwer zuordnen lassen. Dazu zählen die Beeinflussung von Gruppen und Meinungen im Informationsraum, der Einsatz von Drohnen ent­lang kri­tischer militärischer und maritimer Infra­struktur, die Zuspitzung der rhetorischen Eskalation seitens der russischen Führung gegenüber dem Westen sowie Versuche, die europäi­sche Energiesicherheit zu schwächen und so die Bevölkerung zu verunsichern. Es liegt also mittler­weile klar auf der Hand, dass Energiesicher­heit, Wirtschaftspolitik sowie Cyber- und Informations­aktivitäten sich immer stärker mit gesamt­staatlicher und militärischer Sicherheit verschränken.

Das psychologische Hauptziel solcher Aktivitäten besteht darin, die westeuropäischen Gesellschaften zu verängstigen, zu ver­unsichern oder gar Staaten zu destabilisieren. Beispiele dafür sind die Zerstörung norwe­gischer Unterwasserkabel und Senso­ren, Drohnenflüge über schwe­dischen Atom­kraftwerken, norwegischen Militäreinrichtungen und Energieinfrastrukturen sowie deutschen Truppenübungsplätzen oder die Sabotage von Nord Stream 1 und 2.

Die Attacken auf diese beiden Pipelines haben zwar vor Augen geführt, wie ver­wundbar die Meeresgebiete und die kriti­schen Infrastrukturen dort sind. Impulse für engere Zusammenarbeit zwischen den Partnern und Verbündeten im Ostsee­raum sind daraus aber nicht entstanden.

»Zeitenwende« im Ostseeraum

Drei Tage nach Beginn des russischen Ein­marsches in der Ukraine hielt Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag seine »Zeitenwende«-Rede. Seitdem hat die Bundes­regierung immer wieder den An­spruch geäußert, Deutschland zu einer füh­renden Militärmacht im Bündnis auszubauen und gleichzeitig Verantwortung für die Nato im Ostseeraum zu übernehmen, indem es bestimmte regionale Kommandoelemente oder Hauptquartiere zur Ver­fügung stellt.

Im maritimen Bereich soll es nach dem Wunsch der Bundesregierung ein deutsch geführtes regionales maritimes Hauptquartier geben. Ein solches Kommandoelement wurde der Nato bereits im November 2020 unter dem Titel Baltic Maritime Coordina­tion Function angeboten. Diese Koordinierungsfunktion sollte damals einen Rahmen für regionale Aktivitäten im Frieden und in sich anbahnenden Krisen bieten. Im Kon­flikt- und Kriegsfall sollte diese dann, basie­rend auf der bisherigen Führungsstruktur, an eines der drei streitkräfte­gemeinsamen Nato-Haupt­quartiere über­geben werden. Eine politische Ent­scheidung des Bündnisses über das Angebot wurde aber bis heute nicht getroffen.

Laut einem neuen deutschen Vorschlag soll das maritime Hauptquartier die mili­tärische Führung über Seestreitkräfte in Frieden, Krise und Krieg übernehmen. Da die Frage der Führungsrolle nach wie vor nicht beantwortet ist, wird eine Entscheidung wahrscheinlich nicht so bald fallen. Darüber hinaus überprüft die Nato ihre Kommandostruktur auf der Grundlage des neuen Sicherheitsumfelds und der erfor­der­lichen Anpassungen. Dies könnte zusätz­liche Reibungen hervorrufen, wenn gemäß dem neuen Streitkräfte­modell der Allianz bestimmte Zuständigkeiten in Frieden und Krieg häufiger regional an nationale Ein­heiten oder bi- und minilaterale Koopera­tionen delegiert werden sollen.

Derzeit scheint jedoch ein Richtungsstreit innerhalb der Allianz und ihrer Part­ner über die Führungsrolle an der Nordflanke und der Ostsee sowie über die regio­nale Ausgestaltung der militärischen Bei­träge die Umsetzung der Entscheidungen des Madrider Gipfeltreffens zu behindern. So hat etwa die Joint Expedi­tion­ary Force (JEF) unter britischem Kommando den An­spruch, die Verantwortung und Führung an der Nordflanke der Nato und in der Ostsee zu übernehmen. Dafür stellt das Vereinigte Königreich einen nationalen Führungsrahmen und, sofern vorhanden, Waffensysteme zur Verfügung. Von den neun weiteren Ländern, die sich an der JEF betei­ligen, wird erwartet, dass sie ihre Fähigkeiten einbringen. Für viele Teilnehmerstaaten gilt die JEF als ein Dach, unter dem sie Zugang zu be­stimmten schweren militärischen Fähigkeiten haben, die auch deutliche strategische Signalwirkung entfalten. Dazu gehören etwa amphibische Landeplattformen, Hub­schrauberträger oder sogar Flugzeugträger und andere große Kriegsschiffe. In den letzten Jahren war die JEF aber nicht in der Lage, eine nennenswerte Anzahl von Platt­formen und Einheiten zusammenzubringen, ausgenom­men für kurze Zeiträume bei bestimmten Schlüsselübungen. Ihren Anspruch haben die Regierungschefs der JEF-Nationen am 19. Dezember 2022 auf einem Treffen in Riga neu belebt. Im Laufe des Jahres 2023 soll dazu ein Strategiepapier für die kom­menden zehn Jahre erarbeitet werden. Bereits 2023 will die JEF mit der Großübung JEF Warrior an der Nordflanke und im Ostseeraum ihre Relevanz und Ge­schlossen­heit demonstrieren. Gleichzeitig jedoch breitet sich die Diskussion aus, ob das Vereinigte Königreich seine Nato-Zusagen überhaupt noch einhalten kann.

Der künftige Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato, die beide auch Mit­glie­der der JEF sind, unterstreicht ein weiteres Mal das Thema regionale Zusammenarbeit und Führung. Durch den Beitritt verlängert sich zwar die gemeinsame Grenze mit Russ­land um etwa 1.340 km, aber zugleich bietet sich die Möglichkeit, die russischen A2/AD-Fähigkeiten im subarktischen Raum durch Nato-eigene Verteidigungs- und Wirksysteme erheblich ein­zuschränken. In Vorbereitung der anstehenden Nato-Mitgliedschaft möchten die skandinavischen Länder ihre Ver­teidigungskooperation im Rahmen der Nordic Defence Cooperation (NORDEFCO) ebenfalls neu beleben und intensivieren. Im Zentrum der revitalisierten NORDEFCO sollen neben dem Ausbau gemeinsamer Fähigkeiten und Strukturen vor allem die gemeinsame Verteidigungsplanung sowie die Vorbereitung zur Durch­führung gemein­samer Operationen stehen. Die Übung Cold Response, bisher von Nor­we­gen geplant und geführt, soll 2024 in eine Großübung mit dem Titel Nordic Response umgewandelt werden, welche die skandinavischen Staaten gemeinsam ausrichten. Gleichzeitig soll sich diese Übung in eine Serie ineinander übergehender Großübungen der Nato für das Jahr 2024 entlang der Nordflanke bis zur Ostsee einfügen.

Als weiterer Ostseeanrainer und Alliierter schlägt Polen derweil seinen eigenen Weg ein. Der Anspruch lautet, Polens Streitkräfte zur stärksten europäischen Armee aus­zu­bauen. In bilateraler Kooperation mit den Vereinigten Staaten werden dazu neue Fähigkeiten angeschafft, Strukturen und Verbände eingerichtet sowie der Umfang der auf polnischem Boden stationierten Streitkräfte erhöht. Kann die Regierung in Warschau diese Ambitionen und deren Finanzierung über die kom­menden Wahlen hinweg aufrechterhalten, würden die polni­schen Landstreitkräfte mit­telfristig wohl zu den größten und bestaus­gestatteten Heeres­kräften der europäischen Alliierten avancie­ren. Im maritimen Raum dagegen ist keine ähnlich ehrgeizige Modernisierung und Neuaufstellung erkennbar, auch wenn der Anspruch auf die regionale Führungsrolle in der Ostsee unverändert fortbesteht.

Die Nato hat auf dem Madrider Gipfel den Weg dafür geebnet, ihre Abschreckungs- und Verteidigungsbemühungen im Ostsee­raum mit Truppen und Fähigkeiten zu verstärken. Die größte Herausforderung für die Umsetzung bildet zurzeit der Führungsstreit zwischen den Verbündeten. Wenn Deutschland die Führung übernähme und das regionale maritime Hauptquartier eta­blierte, hätte dies zwei Effekte: Das immer wieder geäußerte Bekenntnis, größere Ver­antwortung im Bündnis zu übernehmen und mehr zur Lastenteilung beizutragen, könnte mit Inhalt gefüllt werden. Zugleich würde Deutsch­land seine außenpolitischen Ziele konsequent verfolgen. Der proklamier­ten »Zeitenwende« würden Taten folgen.

Unabhängig davon, ob Deutschland sich mit seinem Angebot für eine regionale mari­time Führungsrolle durchsetzt oder nicht, bleibt der Kern der Herausforderung für die Streitkräfte im Ostseeraum aktuell: nämlich die Grundlage dafür zu schaffen, dass die laufende bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit gebündelt und effek­tiv genutzt werden kann. Dabei geht es in erster Linie um die Interoperabilität aus technischer Sicht. Grundlegend ist zum Beispiel, ein gemeinsames Netz zu nutzen, um Informationen und Lageberichte auszu­tauschen – auch als geheim eingestufte, wenn die beteiligten Nationen es wollen –, mit einer direk­ten Anbindung an die Nato. Dies erfordert keine weiteren Großprojekte und keine großen Sonderbudgets.

»Zeitenwende« europäisch abstimmen

Aufgrund der Beschlüsse des Madrider Nato-Gipfels im Juni 2022 ist Deutschland erstmals verpflichtet, eine eigene Verteidigungsplanung zu erstellen. Diese muss die Fähigkeiten, Kräfte und Maßnahmen im Falle der Landes- und Bündnisverteidigung im Frieden, in sich entwickelnden Krisen und im Krieg auflisten. Dazu gehört min­destens auch der Schutz identifizierter verbündeter und verteidigungsrelevanter kritischer Infrastrukturen – von bestimmten Seewegen, Häfen, Datenkabeln, Pipe­lines bis hin zu Offshore-Anlagen im eige­nen Hoheitsgebiet (und wegen deutscher gesetzlicher Bestimmungen auch in der erweiterten Wirtschaftszone). Ein weiter­gehender Ansatz würde auch den Beitrag umfassen, der auf Hoher See zum Schutz kritischer Infrastrukturen geleistet werden kann – sei es bilateral bis multi­lateral, sei es zur Unterstützung einzelner Verbündeter in ihren Hoheitsgewässern. Letzteres hat die Deutsche Marine bereits Ende Oktober 2022 praktiziert: Drei deutsche Fregatten mit Fähigkeiten zur Lagebilderstellung über und unter Wasser wurden in Norwegen eingesetzt, um die kritische maritime Infra­struktur dort zu schützen, besonders die Gas- und Ölplattformen.

Ein weiterer vielversprechender Ansatz ist der gemeinsame deutsch-dänische Akti­ons­plan vom August 2022, der die Aspekte maritimer Sicherheit und Zusammenarbeit in Ost- und Nordsee einschließt. Das starke Interesse vor allem der däni­schen Seite an bilateraler Kooperation könnte kurzfristig Handlungs­optionen er­öffnen, um wahrnehmbare Fort­schritte in Schlüsselbereichen zu erzielen und damit entsprechende politische Botschaften hinsichtlich der »Zeiten­wende« zu setzen. Dazu gehören die Einrichtung des regionalen maritimen Hauptquartiers in Rostock, die Verbesserung der Lagebilder und die ver­stärkte Präsenz auf See.

Ein besseres maritimes Situations­bewusstsein wird auch durch die deutsch-britisch-norwegische Zusammenarbeit im arktisch-nordatlantischen Raum möglich sein, sobald deren Streitkräfte vollständig mit einer neuen Generation von Seefernaufklärungsflugzeugen – der Boeing P-8A Poseidon – ausgerüstet sind. Boeing lie­fer­te das erste Flugzeug dieses Typs im Novem­ber 2021 an Norwegen. Dies ist nicht nur im Hinblick auf Russland wichtig, sondern auch angesichts künftiger mari­timer Aktivi­täten Chinas im arktisch-nord­at­lantischen Raum. Die »Zeitenwende« nähme allerdings eine fatale Fehlentwicklung, wenn auf deut­scher Seite künftig nicht mehr, sondern weniger See­fernaufklärungsflugzeuge zur Verfügung ständen. Bislang ist vorgesehen, nur noch fünf statt der bisherigen acht Flug­zeuge zu erwerben, und das, obwohl eigentlich weit mehr Aufklärer für dieses Gebiet erforderlich wären.

Vor diesem Hintergrund sollten Deutschland und seine Verbündeten im erweiterten Ostseeraum eine ständige Präsenz in der Nord- und Ostsee anstreben. Dazu sollten sie Ein­heiten der Länder in einer gemeinsamen Anstrengung rotieren lassen, vor­zugsweise unter Leitung eines regionalen maritimen Haupt­quartiers. Zweck dieser Bemühungen wäre, das Lagebild und das maritime Situationsbewusstsein zu ver­bes­sern, kritische maritime Infrastruktur zu schützen, die Seewege zu sichern und eine notwendige Abschreckung aufrechtzuerhalten.

Göran Swistek ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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