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GASP: Von der Ergebnis- zur Symbolpolitik

Eine datengestützte Analyse

SWP-Aktuell 2020/A 86, 03.11.2020, 8 Pages

doi:10.18449/2020A86

Research Areas

Die weltpolitische Lage hat sich für Europa in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Südlich und östlich von Europa mehren sich die Konflikte, Russland und China zeigen zunehmend expansive Tendenzen, und die USA sind als Partner immer weniger verlässlich. Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass die Handlungs­fähigkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) noch immer weit hinter dem zurückfällt, was man von Europa angesichts der Größe seines Binnenmarktes erwarten würde. Häufig wird hierfür das Einstimmigkeitsprinzip verantwort­lich gemacht. Eine Auswertung der Daten zur GASP zeigt jedoch, dass sich die Mitglied­staaten offenkundig mit Maßnahmen symbolischer Politik zufriedengeben. Dieser Zu­stand wird weder durch Einführung einfacher Mehrheitsentscheidungen noch durch bloße politische Willenserklärungen der Regierungen zu überwinden sein. Der Dialog zur Zukunft Europas sollte als Gelegenheit verstanden werden, der außenpolitischen Handlungsunfähigkeit durch eine Vergemeinschaftung der GASP abzuhelfen.

In den 90er Jahren ging mit der intergouvernementalen Zusammenarbeit in der EU die Erwartung einher, dass die Realisierung einer politischen Union auch in der GASP nur noch eine Frage der Zeit sei. Die Grün­dung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) 1999, der Stabi­litätspakt für Südosteuropa 1999, die bei­den Erweiterungsrunden 2004 und 2007 und die mehr als 20 zivilen, mili­tärischen oder zivil-militärischen Missionen bzw. Operationen bis 2009 galten vielen als Meilensteine auf dem Weg zu einer kollek­tiven europäischen Außen- und Sicherheits­politik (siehe SWP-Aktuell 10/2010). Diese Erwartungshaltung besteht bis heute. In der »geopolitischen Kommission« unter Kom­missionspräsidentin Ursula von der Leyen spiegelt sich der Anspruch der neuen Kom­mission und des Hohen Vertreters (HV) für die europäische Außen- und Sicherheits­politik Josep Borrell Fontelles. Die EU solle laut Borrell die Sprache der Macht lernen und geopolitisch mit mehr Realismus und innerer Einigkeit handeln. Eine eigensinnige Außenpolitik der Mitgliedstaaten schade ihnen selbst und der Union. In ihrer Rede zur Lage der Union im September 2020 hatte die Kommissionspräsidentin gefordert, in der GASP im Falle von Menschen­rechtsverletzungen qualifizierte Mehrheitsentscheidungen bei Ratsbeschlüssen ein­zuführen und restriktive Maßnahmen zu treffen, also Sanktionen.

Geringer Outcome

Wenige dieser Forderungen wurden bislang erfüllt. Die mangelnde außenpolitische Handlungsfähigkeit zeigt sich in den Resul­taten der intergouvernementalen Entscheidungsverfahren, hier verstanden als GASP-Output. Aber wen oder was will die EU mit ihrer GASP erreichen, und welche Wirkung will sie damit erzielen? Die Antwort gibt der GASP-Outcome. Die Wirkungen des GASP-Outputs sind hingegen kaum mess­bar, da die faktische EU-Politik gegenüber bzw. in Drittstaaten oftmals von den er­klärten Zielen abweichen. Ein kursorischer Blick zeigt, wie stark allein in den letzten Mona­ten die strategischen Interessen der Mitgliedstaaten, aber auch der EU-Institu­tionen in der GASP differierten. Außen­politische Blockaden sind zahlreich. Anfang 2019 blockierte Italien Sanktionen gegen Venezuela. Einige Nato-Länder verhinderten mit Rücksicht auf Washington eine Stellungnahme der EU gegen den Kollaps des INF-Abrüstungsvertrags. Polen und Ungarn torpedierten die Schlussfolgerungen eines EU-Gipfels mit arabischen Staa­ten, weil sie mit Passagen zur Migration nicht einverstanden waren.

Inkohärenz zeichnet sich auch schon seit längerer Zeit in der Politik der EU im Nahen und Mittleren Osten ab. Im Konflikt zwi­schen den USA und Iran, der im Januar 2020 in der Tötung des iranischen Generals Soleimani und im iranischen Angriff auf eine US-amerikanische Militärbasis im Irak gipfelte, offenbarte sich eine doppelte Trennlinie in der GASP. Einerseits versuchte sich die EU als Mittler zu positionieren und rief wiederholt zu Deeskalation auf. Ande­rerseits unterminieren die zahlreichen und sich teils widersprechenden Institutionen die außenpolitische Glaubwürdigkeit der EU. So gab die EU kein gutes Bild ab, als sich der neue Ratspräsident Charles Michel zur Tötung Soleimanis äußerte, bevor der HV eine Erklärung abgegeben hatte, was auf einen interinstitutionellen Machtkampf in der EU-Außendarstellung hindeutete.

Auch zwischen den Mitgliedstaaten do­minierte Uneinigkeit. Deutschland, Frank­reich und Großbritannien (E3-Staaten) unterstützten die USA, was von anderen Mitgliedstaaten nicht mitgetragen wurde. Die eigens gegründete Handelsgesellschaft Instex, die unter Vermeidung US-amerika­nischer Sanktionen Handel mit dem Iran ermöglichen soll, ist bisher wenig effektiv. Zwar traten ihr bis April 2020 neben Deutschland, Frankreich und Großbritan­nien sechs weitere europäische Staaten bei (Belgien, Dänemark, Finnland, die Nieder­lande, Norwegen und Schweden). Doch konnte Instex bislang nur eine einzige Trans­aktion durchführen, und die betraf Medi­zin­produkte und damit eine Kategorie von Waren, die ohnehin von den Sekundär­sanktionen der USA ausgenommen ist.

Die EU hat es auch nicht vermocht, eine gemeinsame Politik zur Initiative der Trump-Administration zu formulieren, eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Paläs­tina zu finden. Ungeachtet dessen kritisierte der HV Borrell die amerikanischen Vor­schläge scharf und sprach von einer Abkehr von internationalen Vereinbarungen. Ein ähnliches Muster zeigte sich nach der Video­konferenz der EU-Außenminister im Mai 2020. Sie konnten sich dabei nicht auf ein gemeinsames Vorgehen gegen israelische Annexionen des Westjordanlands einigen. Gleichzeitig rief der HV dazu auf, Israel stärker unter Druck zu setzen, und erklärte, ein unilaterales Vorgehen der israelischen Regierung in Jerusalem hätte Konsequenzen.

Die Mitgliedstaaten ließen auch die Auf­rufe des HV Ende August 2020 unbeantwor­tet, militärische Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, um das UN-Waffenembargo für Libyen im Rahmen der EU-Operation Irini durchzusetzen. Die Uneinigkeit der EU-Staaten äußert sich auch darin, dass Poli­tiken gegeneinander ausgespielt werden. Seitdem im östlichen Mittelmeer reiche Gas­vorkommen entdeckt wurden, streiten sich die Türkei, Zypern und Griechenland heftig um deren Ausbeutung. Erst nach vielen Wochen hat Zypern Anfang Oktober 2020 sein Veto gegen Sanktionen aufgegeben, die gegen belarussische Vertreter des Regimes von Präsident Alexander Lukaschenko verhängt werden sollten.

Deutlich zum Ausdruck brachte der HV Borrell die Uneinigkeit, als er im Mai 2020 in einem Beitrag in mehreren europäischen Tages­zeitungen zu diplomatischer Disziplin mahnte und die Mitgliedstaaten aufforderte, dem chinesischen »divide et impera«-Ansatz gemeinsam entgegenzutreten. Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch des neuen HV und den divergierenden Positionen der Mitgliedstaaten trat ein weiteres Mal zutage, als der chinesische Volkskongress Ende Mai 2020 Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam den Auftrag erteilte, ein neues Sicherheitsgesetz für die Sonderverwaltungszone zu erlassen. Trotz Borrells For­derung nach einer »robusteren« Strategie gegenüber China gelang es den Mitgliedstaaten erst nach mehreren Anläufen, sich im Juli 2020 auf gemeinsame Maßnahmen zu einigen, etwa einen Stopp der Ausfuhr von Überwachungstechnologien und Dual-use-Gütern.

Grafik 1

Quelle: Minna Ålander / Annegret Bendiek / Paul Bochtler, Datenerhebung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Berlin: SWP-Forschungsgruppe EU / Europa, Arbeitspapier (AP) 2020/Nr. 02, November 2020, <https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/arbeitspapiere/AP_022020_Alander_et_al_Datenerhebung_GASP-Output.pdf>.

An all diesen Fällen lässt sich Folgendes ablesen: Die Mitgliedstaaten versuchen eifersüchtig ihre nationalen Kompetenzen zu schützen und unternehmen keinerlei ernsthafte Anstrengungen, ihre Uneinigkeit auf supranationaler Ebene zu überwinden. Und die EU-Institutionen sind ebenso wenig einig darüber, wer die Außenvertretung der EU übernehmen und die politische Verbind­lichkeit nach innen herstellen soll.

GASP-Output

Dem geringen Outcome der GASP entspricht ein wenig ergebnisorientierter Output (siehe FG EU / Europa, 2020/AP 02). Die GASP und die anderen Unionspolitiken sind nach Arti­kel 40 EU-Vertrag (EUV) durch jeweils spe­zifische Verfahren der internen Willens­bildung strikt getrennt. Gesetzgebung ist in der GASP ausgeschlossen. Die wesentlichen GASP-Beschlüsse – sei es die Einsetzung einer GSVP-Mission, der Beschluss von Sank­tionen oder die Positionierung der EU in zen­tralen außenpolitischen Fragen – werden vom Rat für Auswärtige Angelegenheiten (RfAA) gefasst (vgl. FG EU / Europa, 2020 / AP 02, Tab. 1, S. 7). Doch seine politisch bin­denden Beschlüsse haben keine direkte rechtliche Wirkung für die Mitgliedstaaten.

Eine Analyse der EUR-Lex-Datenbank ergibt, dass der Rat in den Jahren 2009 bis 2020 506 Beschlüsse zu Sanktionen, 245 Beschlüsse über Missionen und Operationen der EU, 123 zur Ernennung von Son­der­beauftragten und 86 Beschlüsse zu Waf­fenkontrollregimen gefasst hat (Grafik 1, S. 4). Weitere 94 Beschlüsse betrafen insti­tu­tionelle Neuerungen wie die Schaffung von Agenturen oder andere Vereinbarungen und Abkommen. Insgesamt hat der Rat seit 2009 1 045 politische bindende, aber rechtlich unverbindliche Beschlüsse in der GASP gefasst und in anderen Politikbereichen 1 146 legislative Rechtsakte erlassen.

Die Zahlen deuten auf eine wachsende Diskrepanz zwischen dem relativ hohen quantitativen Output im Kontext der GASP und einer faktisch mangelhaften ergebnisorientierten Politik gegenüber Drittstatten hin. Tatsächlich hat die EU seit 2009 ledig­lich 114 Wahlbeobachtungen, 12 militärische Operationen und 25 andere Missionen (humanitär, rechtsstaatlich, polizeilich) durchgeführt und ihren Anspruch auf eine politische und wirtschaftliche Transformation der Nachbarstaaten zurückgenommen (siehe das Buch von A. Bendiek, Europa ver­teidigen). Derzeit laufen davon nur noch 6 militärische Operationen und 11 zivile Mis­sionen der EU. Gegenwärtig gibt es 7 Son­der­beauftragte für Drittstaaten bzw. Regio­nen, die in Artikel 33 EUV vorgesehen sind. Im Vergleich dazu hat die ebenfalls inter­gouvernemental angelegte Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zwar weniger Resolutionen verab­schiedet, unterhält dafür aber aktuell ins­gesamt 16 zivile Feldoperationen. Der OSZE gehören immerhin 57 Teilnehmerstaaten an, ihr Geltungsraum erstreckt sich über drei Kon­tinente (Asien, Europa, Nordamerika), in ihm leben über eine Milliarde Einwohner.

Der GASP-Output stellt zudem die rechtliche Sonderstellung der GASP innerhalb der Vertragskonstruktion in Frage. Formal gehen aus den Entscheidungsverfahren der GASP keine Gesetzgebungsakte hervor. Mit der Einführung qualifizierter Mehrheits­entscheidungen in der GASP wären für die Mitgliedstaaten rechtlich bindende Ent­scheidungen möglich. Hinweise auf das auswärtige Handeln der EU über die GASP hinaus geben die Daten zu öffentlichen Abstimmungen im RfAA, die der Rat der EU mit dem öffentlich zugänglichen Doku­mentenregister und im Rahmen der »Open Data Initiative« zur Verfügung stellt. Eine Analyse dieser Daten zeigt, dass in anderen Ratsformationen in den Jahren 2009 bis 2020 insgesamt 92 Entscheidungen im Poli­tikbereich »Auswärtiges« getroffen wurden. Jede der insgesamt zehn Ratsformationen kann Rechtsakte im Namen des gesamten Rates erlassen. Der RfAA hat 36 Gesetz­gebungsakte verabschiedet, die jedoch kei­nen Bezug zur GASP haben.

Insgesamt drängt sich die Frage auf, welchen Sinn und Zweck die vertraglich verankerte Sonderrolle der GASP gemäß Artikel 40 EUV hat. Sollen die Entscheidungsverfahren in der GASP ef­fizienter und rechtlich bindend sein, dann ist es not­wendig, die Sonderrolle der GASP durch ihre Vergemeinschaftung zu beenden.

Sanktionen statt Politik

Restriktive Maßnahmen der EU wie Sank­tionen liegen im Graubereich zwischen einer Ergebnis- und einer Symbolpolitik. Robert Blackwill und Jennifer Harris argu­mentieren in ihrem Buch War by Other Means, dass Sanktionen kostengünstiger sind als Operationen und Missionen, wenn es gilt, ein bestimmtes außenpolitisches Ziel zu erreichen. Sanktionen können flexibel und gezielt gegen Einzelpersonen, Entitäten oder Drittstaaten verhängt wer­den. So ist es nicht verwunderlich, dass einer der weni­gen Felder, in denen die GASP gehandelt hat bzw. noch handelt, die Annahme von Sanktionsbeschlüssen ist.

Grafik 2

Quelle: Minna Ålander / Annegret Bendiek / Paul Bochtler, Datenerhebung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Berlin: SWP-Forschungsgruppe EU / Europa, Arbeitspapier (AP) 2020/Nr. 02, November 2020, <https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/arbeitspapiere/AP_022020_Alander_et_al_Datenerhebung_GASP-Output.pdf>.

Restriktive Maßnahmen (Art. 215 Ver­trag über die Arbeitsweise der Europäischen Union), konkret Wirtschaftssanktionen gegen Drittstaaten und Einzelpersonen, sind an der Schnittstelle zwischen dem aus­wärtigen Handeln und der GASP angesiedelt. Sanktionsverordnungen können nur mit einem einstimmig getroffenen Beschluss des Europäischen Rats initiiert werden. Seit 2009 haben sich die Mitglieder des Rats auf insgesamt 1 264 Sanktionsdokumente eini­gen können. Hierunter fallen sowohl Sank­tionsbeschlüsse als auch Sanktionsverord­nungen. Von 2009 bis 2019 ist die Zahl der jährlich verhängten oder abgeänderten Sanktionen von 21 auf 152 angestiegen (Gra­fik 2). Darunter fällt aber auch eine nicht zu ver­nachlässigende Zahl von Beschlüssen zur Fortsetzung oder Erweiterung bereits gel­tender Sanktionen. Bei lediglich 47 han­delt es sich um erstmals getroffene restrik­tive Maßnahmen, ausweislich der Website sanctionsmap.eu, einem EU-Projekt, das Rechtsakte zu Sanktionen veröffentlicht.

Im Jahr 2014 ist die höchste Inzidenz zu beobachten. Damals hat die EU neue Sank­tionen gegen Russland, die Terrororganisation »Islamischer Staat« (ISIS) und gegen die syrische Regierung erlassen. Aktuell hält die EU gegen 30 Regime bzw. Organisationen Sanktionen aufrecht, davon sind 23 autonome Sanktionen der EU. Die rest­lichen 7 Sanktionen dienen dazu, VN-Reso­lutionen in EU-Recht umzusetzen.

Anstieg von Pressemitteilungen

Der Rat der EU tagt in der Regel monatlich unter Vorsitz des HV als RfAA. Seit 2009 sind 172 öffentlich zugängliche und 4 nicht öffentliche Protokolle von Ratssitzungen ent­standen. Die Protokolle zeigen, dass viele Tagesordnungspunkte nicht in Schlussfolge­rungen überführt wurden. Ratsschluss­folge­rungen sollen die Haltung der EU zu Fragen mit politischer Bedeutung, zu Krisensitua­tionen oder Konflikten förmlich darlegen.

Der mit Ausnahme der Sanktionsregime geringe verbindliche Outcome und Output des Rates geht mit einem wachsenden rhe­torischen Engagement der EU einher. Seit­dem Josep Borrell Fontelles am 1. Dezember 2019 sein Amt als neuer Hoher Vertreter angetreten hat, zeichnet sich ein neuer Po­litikstil ab. Dabei werden Pressemitteilungen dort genutzt, wo einstimmige Beschlüsse im Rat, die gemeinsame Standpunkte oder Aktionen nach sich ziehen, nicht zu­stande kommen. Und wenn eine Ratsschluss­folgerung zustande kam, wird in Presse­mitteilungen die Haltung der EU zu Fragen von großer politischer Bedeutung, zu Kri­sensituationen oder Konflikten dargelegt.

Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) und der HV haben seit 2014 2 053 Pressemitteilungen zu außen- und sicherheits­politischen Themen verfasst (Grafik 3). Mehr als die Hälfte davon (1 206) sind Erklärungen. Allein 78 Pressemitteilungen bezogen sich auf Ratsschlussfolgerungen, lediglich 47 auf Menschenrechts- und politische Dialoge. Ein beträchtlicher Teil (315 Pressemitteilun­gen) spiegelt die hohe kalendarische Dichte diplomatischer Treffen des HV mit Vertre­terinnen und Vertretern von Dritt­staaten und internationalen Organisationen wider.

Die zahlreichen Pressemitteilungen kön­nen aber nicht über die mangelnde Ergeb­nisorientierung der GASP hinwegtäuschen. Dieser Mangel wiederum zeigt nicht nur, wie schwierig es im Rat ist, einen außen- und sicherheitspolitischen Konsens zu fin­den; er zeigt noch viel mehr, dass es auf der politischen Ebene des Rates zwar den poli­tischen Willen zu einer intergouvernemental, aber nicht zur vergemeinschafteten Außen- und Sicherheitspolitik zu geben scheint, um so in wichtigen Fragen gemein­same Standpunkte zu vertreten und inter­national Verantwortung zu übernehmen.

Die Erwartungs- und Fähigkeitslücke

Unterschiedliche strategische Interessen, außenpolitische Traditionen und Vorstel­lungen über die institutionelle Ausgestaltung der GASP, inklusive das Einstimmigkeitsgebot, werden seit langer Zeit in der Literatur als Argumente angeführt, um die Ineffizienz der GASP zu erklären.

Im Zusammenhang mit der GASP formulierte Christopher Hill, Universitätsprofessor in Oxford, im Jahr 1993 das vielzitierte Theorem der »Capability-Expectations Gap« (CEG), in deutscher Sprache bekannt als die Erwartungs- und Fähigkeitslücke. Hills Ziel war es, »die Funktionen zu untersuchen, die die Europäische Gemeinschaft im inter­nationalen System erfüllen könnte, aber auch die Wahrnehmung ihrer Rolle durch Dritte«. Mit Fähigkeiten meint er konventio­nelle Instrumente (z. B. Diplomatie), Res­sour­cen (z. B. Wirtschaftskraft) und Kohärenz (»die Fähigkeit, eine kollektive Entscheidung zu treffen und daran festzuhalten«). Unter Erwartungen versteht er »jene Ambitionen oder Anforderungen an das internationale Verhalten der EU«, die sich »sowohl inner­halb als auch außerhalb der Union ergeben«.

Hill kam zu dem Schluss, dass sich eine Kluft zwischen den außenpolitischen Fähig­keiten der EU und den an sie gerichteten Erwartungen aufgetan habe. Diese Kluft sei »gefährlich«, da sie »zu Debatten über falsche Möglichkeiten sowohl innerhalb der EU als auch zwischen der Union und exter­nen Bittstellern führen könnte«. Eine Ana­lyse der verfügbaren Daten spricht dafür, dass die CEG nach Christopher Hill durch­aus existiert. Alle Exekutiven streben nach eigener Aussage eine handlungsfähige GASP an. Doch anders als von ihnen behaup­tet haben die verantwortlichen Exekutiven Europas in den letzten zehn Jahren keine ernsthaften Bemühungen unternommen, die Lücke zwischen hohen Erwartungen an die GASP und deren Fähigkeiten zu kollek­tiver Entscheidungsfindung zu schließen.

Keine ernsthaften Reformen …

Grafik 3

Quelle: Minna Ålander / Annegret Bendiek / Paul Bochtler, Datenerhebung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Berlin: SWP-Forschungsgruppe EU / Europa, Arbeitspapier (AP) 2020/Nr. 02, November 2020, <https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/arbeitspapiere/AP_022020_Alander_et_al_Datenerhebung_GASP-Output.pdf>.

Für Beschlüsse im Rahmen der GASP gilt seit ihrer Gründung mit dem Vertrag von Maastricht 1993 bekanntermaßen das Prin­zip der Einstimmigkeit. Die lange Serie von Vertragsrevisionen, die es in den letzten Jahrzehnten gab, und das Schicksal des Ver­fassungsvertrags haben gezeigt, dass im Europäischen Rat kein politischer Wille besteht, hieran etwas zu ändern. Aus dem Fehlen eines Bekenntnisses zur umfäng­lichen Vergemeinschaftung der GASP resul­tiert die Forderung, zumindest einige Berei­che wie die Sanktions- oder Menschenrechts­politik, in denen die Union bisher nur über begrenzte Kompetenzen verfügt und die daher noch nicht der Gemeinschafts­methode folgen, künftig dem supranatio­nalen Verfahren zu unterwerfen, indem man die Brückenklausel nach Artikel 48 Absatz 7 EUV nutzt. Dies gilt in besonde­rem Maße für die GASP. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende Juni 2009 in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag verfassungsrechtliche rote Linien definiert, die einer Europäisierung der GASP Grenzen setzen.

Die geringe Wertschätzung der Mitglied­staaten für die GASP kommt auch in deren dürftiger Finanzausstattung zum Ausdruck. Im Zeitraum 2021–2027 soll der Anteil der für die GASP vorgesehenen Mittel mit 2,4 Milliarden Euro weniger als 2,5 Prozent der gesamten Mittel für die Außenpolitik der EU betragen. In den aktuellen Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen zeigen sich wenige Ansätze, diese Mittel auf­zustocken. Im Gegenteil: Nach derzeitiger Beschlusslage sollen die Mittel für die GASP sogar um 10,3 Prozent des Volumens im vorherigen Mehrjährigen Finanzrahmen 2014–2020 gekürzt werden.

… und zufriedene Mitgliedstaaten

Die extensive Nutzung von Sanktionen, der Anstieg an Pressemitteilungen und die geringen politischen Bemühungen der Mit­gliedstaaten, die Gemeinschaftsmethode als supranationales Beschlussverfahren im Rat der EU einzuführen – all dies legt den Schluss nahe, dass es die Erwartungs- und Fähigkeitslücke, anders als von Christopher Hill behauptet, zumindest intern gar nicht gibt. Es existieren zwar hohe Erwartungen externer Akteure, dass die EU eine ihrer wirt­schaft­lichen Stärke entsprechende politi­sche und militärische Handlungsfähigkeit an den Tag legt. Die Erwartungen, die inner­halb der EU an sie herangetragen werden, sind dagegen eher gering. Die Differenzie­rung nach internen und externen Erwartun­gen und die Erkenntnis, dass die internen geringer sind als die externen, wird von Christopher Hill nicht weiter systematisiert.

Der Anstieg der Zahl an Sanktionen und Pressemitteilungen bei Inexistenz ernsthafter Reformbemühungen zeigt, dass die Kluft nicht zwischen Erwartungen und Fähigkei­ten besteht, sondern zwischen Rhetorik und politischem Willen. Die analysierten Daten lassen die Vermutung zu, dass die mitglied­staatlichen Exekutiven mit dem Status quo der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zufrieden sind, solange sie sich auf Symbolpolitik beschränkt, die vor allem der Kommunikation in die EU dient.

Der verstärkte Rückgriff auf Sanktionen und ihre Effektivität als Politikinstrument werden in der Wissenschaft kontrovers dis­kutiert. Die Global Sanctions Database des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel zählt von 1950 bis 2016 circa 730 Sanktions­regime. Rund ein Drittel davon wurde offi­ziell als erfolgreich klassifiziert. Zwei Drit­tel haben wenig bis gar keine Wirkung erzielt. Vor allem umfassende Sanktionen, die sich auf eine breite Koalition von Staa­ten über die EU hinaus stützen können oder die gezielt gegen kleine Staaten ver­hängt werden, hätten der Analyse zufolge die Chance, Verhaltensänderungen herbei­zuführen. Sanktionsregime, die nur kleine Teilbereiche umfassen – etwa dass Ver­mögen von Einzelpersonen gezielt eingefro­ren werden–, wirkten gegenüber großen Ländern nicht. Damit ist keineswegs gesagt, dass Sanktionen nur Symbolpolitik und wirkungslos sind. Es gibt durchaus anek­dotische Hinweise darauf, dass Sanktionen effektiv sein können. Und Symbolpolitik kann nach innen wirken, wenn damit Narrative bedient werden wie etwa das eines »geeinten Europas« oder eines »Europa, das schützt« und wenn damit politische Geschlossenheit demonstriert wird.

Überdies kann eine bewusste strategische Kommunikation durch Pressemitteilungen politisch signalisieren, dass die EU Haltung zeigt, oder sie kann Interesse an einer Region bzw. Akteuren bekunden. Von einem kon­struk­tiven Beitrag zum Konfliktmanagement oder einer ergebnis­orientierten Politik lässt sich aber nicht reden. Trotz aller ge­genteiligen Rhetorik haben sich Europas Exekutiven mit einer GASP eingerichtet, die sich weitestgehend auf Symbolpolitik be­schränkt. Unter den Bedingungen einer ver­gemeinschafteten GASP könnten Ratsentschei­dungen mit qualifizierten Mehrheiten getroffen werden. Mit der Vergemeinschaftung würde die notwendige Parlamentarisierung von Außen- und Sicherheitspolitik auf EU-Ebene realisiert. Will die EU den Multi­lateralismus auf der Grundlage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern, sollte sie als supranationale Organisation diese vertraglich verankerten Prinzipien und Normen eigenständig vertreten.

Dr. Annegret Bendiek ist Wissenschaftlerin der Forschungsgruppe EU / Europa.
Minna Ålander ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU / Europa.
Paul Bochtler ist Datenanalyst im Referat Informationsservices der SWP.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364