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Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission impossible

SWP-Aktuell 2022/A 66, 28.10.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A66

Research Areas

Wladimir Putin eskalierte im September 2022 den russischen Krieg gegen die Ukraine. Er kündigte eine Teilmobilisierung an und wiederholte seine Drohung mit dem Ein­satz von Nuklearwaffen. Es war aber vor allem die proklamierte Annexion der ukrai­nischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, mit der er einen Schlussstrich unter die Friedensbemühungen seit dem 24. Febru­ar 2022 zog. Wolo­dymyr Selenskyj hatte Putin seit seiner Wahl 2019 und auch in den ersten Wochen nach dem erneuten russischen Überfall immer wieder zu einem Gipfeltreffen aufgefordert. Am 4. Oktober 2022 erteilte er in Reaktion auf die Schritte der russischen Seite direkten Gesprächen per Dekret eine Absage. Die ukrainisch-russischen Verhandlungen seit dem Beginn der russischen Aggression 2014 sowie seit dem 24. Februar 2022 zeigen, wie sehr diese vom Kriegsverlauf, aber auch vom politischen Kontext abhängen.

Der russische Krieg gegen die Ukraine be­gann mit der Annexion der Krim und dem Krieg im ukrai­nischen Donbas im März und April 2014. Seit damals wird auch über den ukrai­nisch-russischen Konflikt verhandelt. Die Aussichten auf eine baldige Verhandlungslösung sind heute schlechter denn je.

Von den Minsker Vereinbarungen bis zum russischen Überfall

Zu Beginn des Krieges 2014 gab es zahl­reiche Vermittlungsinitiativen, die jedoch die Eskalation nicht stoppen konnten. Im Juni 2014 bildete sich am Rande der Gedenk­feiern zum 70. Jahrestag der alliierten Lan­dung in der Normandie das »Normandie-Format« heraus, damals bestehend aus dem ukrainischen Präsidenten Petro Poro­schen­ko, Wladimir Putin, dem französischen Staatspräsidenten François Hollande und der deutschen Bundeskanz­lerin Angela Merkel. Das Normandie-For­mat verhandelte im September 2014 und Februar 2015 in Minsk über einen Waffenstillstand im Donbas. Verhandlungen über die Krim fan­den zu keinem Zeitpunkt statt, weil Russ­­land sie nach der Annexion der Halbinsel grundsätzlich verweigerte.

Die aus dem Normandie-Format hervorgegan­genen Minsker Vereinbarungen regel­ten die Bedingungen für eine Feuerpause und skizzierten Schritte zu einer politischen Lösung des Konflikts. Alle Beteiligten ein­schließlich Russlands erkannten die besetz­ten Gebiete im Donbas als Teile des ukraini­schen Staatsterritoriums an. Diese sollten Autonomierechte erhalten und über einen politischen Pro­zess und Wahlen wieder unter Kyjiwer Kontrolle gelangen. In den acht Jahren bis zum großflächigen russi­schen Einmarsch in die Ukraine konnten sich die Parteien indes weder über elemen­tare Statusfragen noch auf die Reihenfolge politischer und die Sicherheit betreffender Bestimmungen einigen. Die Umsetzung der Vereinbarungen war damit während des gesamten Zeitraums blockiert. Dabei ging Obstruktion durchaus von beiden Konfliktparteien aus. Russland war jedoch für eine grundlegende Unwucht in der Verhandlungskonstellation verantwortlich, da es die eigene Rolle im Konflikt durchweg leug­­nete. Stattdessen behauptete Moskau, es handele sich um einen innerstaatlichen Konflikt, und ver­suchte auf allen Wegen, Kyjiw zu direkten Verhandlungen mit den russisch ge­spon­serten De-facto-Machthabern in Donezk und Lu­hansk zu zwingen. 2019 begann der Kreml, die Bevölkerung in den bei­den Ge­bieten systematisch einzubürgern, und ver­stieß damit eklatant gegen den Geist der Minsker Vereinbarungen. Dieses Vorgehen lieferte die Grundlage für die Anerkennung der »Eigenstaatlichkeit« von Donezk und Lu­hansk am 21. Februar 2022. Die Situation entlang der Konflikt­linie blieb während des gesamten Zeitraums seit 2014 instabil. Regelmäßig kam es zu Waffen­stillstandsverletzungen mit Opfern unter der Zivil­bevölkerung. Von den knapp 14.000 Men­schenleben, die der russische Krieg gegen die Ukraine vor dem 24. Febru­ar 2022 forderte, entfielen deutlich über die Hälfte auf die Zeit nach dem Abschluss der Minsker Verein­barungen im Februar 2015.

Das Normandie-Format verhandelte bis kurz vor der erneuten russischen Invasion 2022 über den politischen Rahmen einer Lösung. Bis Anfang 2022 tätig war auch die Trilaterale Kontaktgruppe (TKG), die von der OSZE koordiniert wurde und für die kon­krete Umsetzung und Kon­sultationen über die Situation im Konfliktgebiet zuständig war. Sie bestand aus Vertreterinnen und Vertretern der Ukraine und Russlands; die De-facto-Macht­haber in den besetzten Gebieten des Don­bas nahmen regelmäßig an den Treffen teil. Die OSZE unterhielt außerdem eine Special Monitoring Mission (SMM) in der Ukraine, die hauptsächlich das Konfliktgebiet im Osten beobachtete.

2021 nahmen die Spannungen zwischen den Konfliktparteien drastisch zu. Russland zog Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen und verschärfte seine aggressive und imperialistische Rhetorik. Im Dezember 2021 wechselte Moskau, ermutigt durch den chaotischen Abzug aus Afghanistan, die Verhandlungsebene und wandte sich direkt an die USA und die Nato. In Gestalt zweier Vertragsentwürfe über »Sicherheits­garantien« für Russland stellte es den west­lichen Verbündeten ein Ultimatum: Die Nato sollte sich verpflichten, keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen und von jeder Form militärischer Aktivität in der Ukraine und anderen Nach­barstaaten Russ­lands abzusehen. Zudem sollte das Bündnis seine militärische Infra­struktur auf den Stand von 1997 zurückbauen. Die USA soll­ten ihre Atomwaffen aus Europa abziehen. Russland forderte nichts Geringeres als die Aufteilung Euro­pas in eine russische und eine amerikanische Einflusszone und die »Lösung der Ukraine-Frage« über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg. Folgerichtig zielte die diplomatische Offen­sive vor allem auf Washington und erst in zweiter Linie auf die europäischen Nato-Verbündeten. Neben den zitierten Maximalforderungen enthielten die Dokumente auch Vorschläge zu Konsultationsmechanismen, Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle. Wäh­rend der intensiven diplo­matischen Kon­takte zwischen den west­lichen Hauptstädten und Moskau im Januar und Februar 2022 zeigte sich jedoch, dass Putin nicht bereit war, seine Forderungs­pakete auf­zuschnüren. Die USA griffen in ihrer Ant­wort einige der russischen Vor­schläge auf. Moskau seinerseits beharrte auf seinen Maximalforderungen und steuerte auf den offenen Bruch zu.

Vom russischen Einmarsch bis zum Istanbuler Kommuniqué

Mit der Anerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk am 21. und dem großflächigen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 zerstörte Moskau mit einem Schlag alle beste­henden Verhandlungsformate. Auch den Minsker Vereinbarungen und der SMM entzog es die Grund­lage, denn sie beruhten auf der prinzipiellen Anerkennung der territorialen Integ­rität der Ukraine durch alle beteiligten Parteien (aus russischer Perspektive aller­dings immer ohne die Krim). Das Mandat der Monitoring-Mission, deren Mitarbeitende zu Beginn des Angriffs aus der Ostukraine fliehen muss­ten, endete am 31. März 2022.

Zeitgleich mit dem Überfall verkündete die russische Seite ihre »Verhandlungs­bereitschaft«. Ihre Bedingungen für ein Ende des Krieges kamen jedoch einer tota­len Kapitulation und Selbstauflösung des ukrainischen Staates gleich: Die Ukraine müsse die Waffen nieder­legen, ihre Nato-Beitrittsambitionen aufgeben und einen dauerhaft neutralen Status akzeptieren, Russisch den offiziellen Status einer Staats­sprache verleihen, die Krim als russisch und die sogenannten Volks­republiken Donezk und Luhansk als unabhängig anerkennen, sich »entnazifizieren« und »entmilitarisieren« – mit anderen Worten, einen Regime­wechsel in Moskaus Sinne durchlaufen.

Kyjiw lehnte ab und machte Gespräche von einer Waffenruhe abhängig. Wolody­myr Selenskyj forderte Wladimir Putin zu sofortigen direkten Unterredungen auf. Angesichts des immensen militärischen Drucks erklärte sich die ukrainische Seite schließlich dennoch bereit, am 28. Feb­ruar eine Delegation ins belarussische Gomel zu entsenden. Weitere Treffen fanden am 3. und 7. März statt; danach wurden die Gespräche im Online-Modus fortgeführt. Am 10. März trafen sich die Außenminister Kuleba und Lawrow in Ankara. Am 29. März kamen die beiden Delegationen unter tür­kischer Vermittlung in Istanbul zusammen. Dort legte die ukrai­nische Seite das »Istan­buler Kommuniqué« vor, das in zehn Punk­ten die Bedingungen für einen Waffenstillstand, dauerhafte ukrainische Neutralität und internationale Sicherheitsgarantien skizzierte. Um den Status der Krim zu klären, wurde ein Zeitraum von 15 Jahren vorgeschlagen. Weitere strit­tige Punkte sollten bei einem Treffen der Präsidenten Selenskyj und Putin aus der Welt geschafft werden. Nicht in den Text eingeschlossen war die Forderung der ukrainischen Seite, die russischen Truppen sollten sich hinter die Kontaktlinie vom 23. Februar 2022 zurückziehen.

Im Istanbuler Kommuniqué formulierte die ukrainische Seite ihre Position und Ant­wort auf das ursprüngliche Moskauer Ulti­matum. Das Papier enthielt weitgehende Kompromissangebote. An den Verhandlungen beteiligte Akteure betonten, das Kom­muniqué sei von den Konfliktparteien vor­abgestimmt worden. Es hätte zur Grund­lage einer Ver­handlungslösung werden können.

Vom Istanbuler Kommuniqué zum Abbruch der Waffen­stillstands­verhandlungen

Bereits am Tag nach dem Istanbuler Treffen lehnte der Kreml Verhandlungen über die Krim kategorisch ab. Wladimir Putin er­klärte dem italienischen Regierungschef Mario Draghi in einem Telefonat, die Zeit sei noch nicht reif für eine Waffenruhe oder ein Treffen mit Wolodymyr Selenskyj. Während der ersten Aprilhälfte wurde im Online-Format weiter über den ukraini­schen Vorschlag verhandelt. Arbeitsgruppen diskutierten über Sicherheitsfragen, huma­nitäre Fragen, Gefangenenaustausche und anderes. Laut Aussagen von Beteiligten gab es einige Fortschritte. Die Positionen der Kriegsparteien blieben jedoch in zwei Punkten un­vereinbar:

Sicherheitsgarantien: Als Voraussetzung für Neutralität verlangte die Ukraine Sicherheitsgarantien, die möglichst nah an die Konditionen des Nordatlantikvertrages (Beistandsklausel nach Artikel 5) heranreichen sollten. Im Laufe des April verfestigte sich auf ukraini­scher Seite die Überzeugung, dass zwei Ver­einbarungen nötig seien: ein Waffenstillstandsabkommen mit Russ­land und ein Vertrag über Sicherheitsgarantien mit einer Gruppe von Garantiestaaten – ohne Russ­land. Kyjiw war also nicht mehr bereit, Russland als Sicherheitsgaranten zu akzep­tieren. Moskau hingegen beharrte darauf, selbst eine Rolle bei den Sicherheits­garantien zu spielen, den Sicher­heitsrat der Ver­einten Natio­nen als Ort ihrer Verankerung zu bestimmen und sämt­liche stritti­gen Fra­gen in einem einzigen Vertragsdokument zu regeln. Außerdem stellte die russi­sche Seite wiederholt einen Zusammenhang mit den eigenen For­derun­gen vom Dezember 2021 nach Sicherheitsgarantien gegen­über den USA und der Nato her.

Status von Krim und Donbas: Die ukrai­nische Seite hatte im Istanbuler Kommuniqué Statusverhandlungen über die Krim, nicht aber über Donezk und Luhansk an­geboten, da sie es ablehnte, Moskaus völker­rechtswidrige Anerkennung teilweise zu legitimieren. Russland hingegen verweigerte Gespräche über die Krim und pochte auf die »Eigenstaatlichkeit« der »Volksrepu­bli­ken«. Diese Statusfragen machten jede Eini­gung un­möglich. Sie erstreckten sich auch auf die Diskussion über Sicherheits­garan­tien: Im Istanbuler Kommuniqué hatte die Ukraine noch zugestanden, dass die Krim und die besetzten Gebiete im Don­bas von den Sicherheitsgarantien ausgenommen werden sollten. Im Laufe des April forderte Kyjiw, die Sicherheitsgarantien auf beide Gebiete auszudehnen.

Die russische Seite wirft der Ukraine immer wieder vor, die Verhandlungen ab­gebrochen zu haben bzw. von den Inhalten des Istanbuler Kommuniqués abgewichen zu sein. Für die Beurteilung des Verhandlungsverlaufs im April 2022 muss jedoch der politische und militärische Kontext berücksichtigt werden. Die drastische Ver­schlechterung der Atmosphäre erklärt sich aus dem Kriegsverlauf. Nach dem Scheitern des An­griffs auf Kyjiw gab Moskau die Nord­front auf und konzentrierte seine Kriegs­anstrengungen auf den Donbas und den Süden der Ukraine. Während die russische politische Führung von einer »Geste des guten Wil­lens« sprach, wuchs in der Ukraine und auf inter­nationaler Ebene das Entset­zen über die in den befreiten Gebieten auf­gedeckten Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Kyjiw hielt vorerst noch an den Ver­handlungen fest. In der ukrainischen Gesell­schaft je­doch schwand angesichts der Bilder aus Butscha, Irpin und anderen Orten die Unterstützung für einen Kom­promiss mit Russland. Dafür trat die Frage in den Vorder­grund, wie die russischen Kriegsverbrechen geahndet wer­den sollten und ob Russland einen Genozid an der ukrai­nischen Bevöl­kerung verübe.

Im selben Zeitraum erreichten erste substantielle westliche Waffenlieferungen die Ukraine. Auf der Ramstein-Konferenz am 26. April kamen die westlichen Verbün­deten und andere befreundete Staaten überein, Kyjiw systematisch militärisch zu unterstützen. Diese Änderung der west­lichen Haltung war eine Reaktion auf die Verbrechen der russischen Streitkräfte. Sie wurzelte auch in der Erkenntnis, dass die Ukraine sich dem russischen Angriff erfolg­reich widersetzen konnte. In der Ukraine wuchs nun die Überzeugung, den Gegner militärisch abwehren zu können.

In den letzten Wochen vor dem endgültigen Abbruch der Waffenstillstandsgespräche war es auch die Schlacht um Mariupol, die die Verhandlungen dem Ende zutrieb. Immer wieder scheiterten internationale Bemühungen um humanitäre Korridore für die Zivilbevölkerung und die im belagerten Stahlwerk Asow-Stahl ein­gekesselten ukrai­ni­schen Soldaten und Zivilistinnen. Bereits Mitte April schloss Wolodymyr Selenskyj weitere Waffenstillstandsverhandlungen aus, sollten Zivilisten oder gefangene Mili­tärs ermordet werden. Am 16. Mai fiel Asow-Stahl endgültig in die Hände der rus­si­schen Streitkräfte. Über 1.700 ukrainische Soldaten und Kämpfer gerieten in Gefangen­­schaft (von denen einige in der Zwischenzeit durch Gefangenenaustausche wieder freigekommen sind). In Russland wurden damals härteste Konsequenzen bis hin zur Todesstrafe für die »Nazi-Verbrecher« gefordert. Am 17. Mai kündigte zunächst die Ukraine und dann Russland die Waf­fen­stillstandsverhandlungen offiziell auf.

Humanitäre Fragen und Sekundäreffekte des Krieges

Auch nach dem 17. Mai brachen die Kon­takte jedoch nicht vollständig ab. Die Kriegs­parteien sprachen weiter über huma­nitäre Fragen, besonders den Austausch von Gefangenen und gefallenen Soldaten. Dieser Gesprächskanal existiert bis heute. Unter Vermittlung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und des VN-General­sekretärs Antonio Guterres entwickelte sich außerdem ein dyna­mischer Verhandlungsstrang über die Öff­nung blockierter ukrainischer Schwarzmeer­häfen für die dringend an­stehende Verschif­fung ukraini­schen Getrei­des. Er mün­dete am 22. Juli 2022 in den sogenannten Getreide-Deal, der den Export ukrainischen Getrei­des aus den ukrainischen Schwarzmeer­häfen Odesa, Tschornomorsk und Piwdennyj er­möglicht. Weder gab allerdings Russland seine mili­tärische Blockade der ukrainischen Häfen auf, noch war die Ukraine bereit, die Gewäs­ser vor ihrer Küste zu entminen. Worauf sich die Parteien einig­ten, ist ein höchst komplexer und fragiler Mechanismus: Ukrainische Lotsenboote geleiten kom­merzielle Fracht­schiffe durch die verminten Küstengewässer. In Istanbul stellt ein Gemeinsames Koordinierungs­zentrum mit türkischem, VN-, ukrainischem und russi­schem Personal sicher, dass auf diesem Wege keine Waffen an die Ukraine gelan­gen. Um das enorme Risiko für die betei­ligten Transportunternehmen zu mindern, wurde eine »Marine Cargo and War Facil­ity« an der Londoner Versicherungsbörse Lloyd’s ins Leben gerufen. Russ­land erhielt außerdem von den Vereinten Nationen die Zusicherung, bei der »Förderung des Exports rus­sischer Ernährungsprodukte und Düngemittel auf die Welt­märkte« behilflich zu sein. Wie zerbrechlich diese Einigung ist, lässt sich auch daran ablesen, dass die Konflikt­parteien kein gemeinsames Doku­ment zu unterzeichnen bereit waren. Statt­dessen signierten beide Seiten jeweils einen Ver­trag mit den vermit­telnden Akteuren. Die Konfliktparteien müssen den Getreide-Deal alle 120 Tage er­neuern – das erste Mal im November 2022.

In den Wochen nach dem erfolgreichen Abschluss des Getreide-Deals versuchten die Türkei und die VN die positive Dynamik zu nutzen, um weitere Sekundäreffekte des Krieges einzuhegen. Im Vordergrund stand dabei die Situation um das Atomkraftwerk in Saporischschja. Es konnte erst Ende August von der Internationalen Atomenergie-Agentur inspiziert werden, weil Russ­land darauf bestand, dass die Delega­tion über russisches Territorium anreisen sollte. Nach Wochen zäher Verhandlungen fand die Reise völkerrechtskonform über Kyjiw statt.

In seiner Rede zur Annexion der besetzten Gebiete im Osten und Süden der Ukra­ine kündigte Putin am 30. September 2022 an, Russland werde keine Ver­handlungen über deren Status mehr führen. Damit dehn­te er die russische Verhandlungs-Verweige­rung von der Krim auf die neuen besetzten Gebiete aus. Gleichzeitig drohte er im Falle weiterer Angriffe auf »russisches Territorium« mit Vergeltung bis zum Ein­satz von Nuklearwaffen. Die rus­si­sche Seite hat auf diese Weise eine diplomatische Lösung des Konflikts bis auf weiteres äußerst unwahrscheinlich gemacht.

Die Positionen der Kriegsparteien

Die Ukraine sieht sich seit März 2014 in einem zwischenstaatlichen Krieg mit Russ­land, der durch einen russischen Angriff aus­gelöst wurde. Aus ukrainischer Per­spek­tive waren die Annexion der Krim und der Krieg im Donbas zwischen 2014 und 2022 untrennbare Teile dieses Krieges, an dessen Ende die vollständige Wiederherstellung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine stehen muss. Kyjiw weigerte sich deshalb immer, direkt mit den von Russland unterstützten De-facto-Macht­habern in den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk zu verhandeln. Zwar versprach Wolodymyr Selenskyj nach seinem Amts­antritt im Frühjahr 2019, sich mehr um die Belange der Zivilbevölkerung in den besetz­ten Gebieten zu kümmern. Auch er bestand aber darauf, dass eine Lösung des Konflikts nur mit Moskau ver­handelt werden könne. Folgerichtig for­derte er Wladimir Putin immer wieder zu direkten Gesprächen auf. Eine dauerhafte Versöhnung mit Russland hielt man in der Ukraine auch vor dem 24. Februar 2022 kaum für realistisch. Statt­dessen wurde nach möglichst enger politi­scher und mili­tärischer Anbindung an den Westen gesucht. Der erneute russische An­griff hat diese Positionen weiter zementiert. Der EU-Kandidatenstatus ist ein wichtiger Teilerfolg für die Ukraine. Auch das Thema Sicherheits­garantien verfolgt Kyjiw aktiv weiter und veröffentlichte im September 2022 einen Vorschlag für einen Sicherheits­pakt zwischen der Ukraine und unterstützenden Staaten (Kyiv Secu­rity Compact).

Russland dagegen leugnete von 2014 bis 2022 konsequent seine Rolle als Kon­flikt­partei. Im russischen Diskurs wurde sorg­sam zwischen Krim und Don­bas unterschieden. Der Donbas-Krieg wurde als innerstaatlicher Konflikt konstruiert, in dem sich die rus­sischstämmige und russischsprachige Bevöl­kerung im Osten der Ukraine gegen ein »illegitimes Regime von Neonazis und Faschisten« wehre. Eine russische Beteiligung wurde vehement bestritten. Stattdessen beharrte Moskau darauf, dass es selbst einer feindlichen westlichen Politik aus­gesetzt sei, die den russi­schen Einfluss in Europa zurückdrängen und sich Russland untertan machen wolle. Die Ukraine war in den Augen der russischen politischen Führung nie ein eigenständiger Akteur oder Konfliktgegner, sondern eine Marionette der USA bzw. des Westens. Lösungen in seinem Sinne strebte Moskau deshalb nicht im Rahmen der russisch-ukrainischen Bezie­hungen, sondern mit dem Westen an. So sind auch die Vertragsentwürfe über »Sicherheits­garantien« vom Dezember 2021 zu verstehen: als Ver­such, den USA eine Verständigung abzu­pressen. Angesichts des Ultimatum-Charakters kann bezweifelt wer­den, ob Putin wirklich neue geopolitische Absprachen mit den westlichen Mächten erzielen wollte oder nur einen Vorwand zum Los­schlagen suchte. Beide Texte waren aber klar darauf angelegt, die »Ukraine-Frage« unter Umgehung Kyjiws direkt mit den USA zu regeln. Auch die Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen muss als Ver­such gedeutet werden, die westliche Unter­stützung für die Ukraine zum Erliegen zu bringen und ein direktes Arrangement unter Großmächten zu erreichen.

Vermittlungsbemühungen

Mit dem erneuten, auf Vernichtung zie­len­den Überfall auf die Ukraine zerschlug Mos­kau die bisherigen Verhandlungsformate vollständig. In das Vakuum, das der Zusam­menbruch von Normandie-Format und Trilateraler Kontaktgruppe hinterließ, stie­ßen rasch andere Akteure vor. Während der ersten Kriegswochen gab es unter ande­rem Initiativen aus Israel, Italien und Süd­afrika. Im März und April festigte sich jedoch die Posi­tion des türkischen Präsidenten Erdoğan als tonangebendem Ver­mittler. Für beide Konfliktparteien ist er ein sowohl gewichtiger als auch akzeptabler Gesprächs­partner: Die Ukraine kann sich auf die tür­kische Unterstützung für ihre Sou­veränität und territoriale Integrität ver­lassen und bezieht militärische Aus­rüstung aus der Türkei. Außerdem spricht aus ukrai­nischer Per­spek­tive für Erdoğan, dass er direkten Zugang zu Wladimir Putin hat. Dieser wiederum pflegt ein transaktionales Ver­hältnis zu seinem türkischen Amtskollegen, das in der Vergangenheit immer wie­der Kompromisse über strittige Fragen im russisch-türkischen Verhältnis ermöglichte. Ankara hat seine geopolitische Machtposi­tion in der südlichen Nachbarschaft Russ­lands immer weiter aus­gebaut und sich damit in Moskau Respekt verschafft. Die Türkei hat vielschichtige Interessen in diesem Konflikt. Sie unterhält intensive politische und wirtschaftliche Beziehungen zu beiden Parteien. Von dem Konflikt profi­tiert sie derzeit wirtschaftlich, unter ande­rem durch ver­günstigte Energie­importe aus Russland und durch Mechanis­men zur Umgehung der westlichen Sanktio­nen. Gleich­zeitig destabilisiert der Krieg die geo­strategische Situa­tion in der für die Türkei wichtigen Schwarz­meerregion. Präsi­dent Erdoğan forderte Moskau wiederholt auf, die Kon­trolle über die besetzten Gebie­te an Kyjiw zu­rück­zugeben. Die proklamier­ten Annexionen Ende September erschweren auch seine weitere Vermittlungsarbeit erheblich.

Westliche Akteure waren nach dem 24. Februar 2022 bestenfalls indirekt in die Vermittlungsbemühungen involviert. Der von Moskau verursachte Zusammenbruch der Verhandlungsformate hat Deutsch­land, Frankreich und der OSZE erst einmal die Grundlage für weiteres Engagement ent­zogen. Hinzu kommt, dass die Minsker Ver­ein­barungen in der Ukraine, aber auch bei einigen westlichen Partnern politisch dis­kre­ditiert sind. Unabhängig davon, ob und bis zu welchem Punkt die Kritik gerechtfertigt ist, steht das Abkommen gemeinsam mit Nord Stream 2 und anderen Elementen für das Scheitern der deutschen (und fran­zösischen) Osteuropa-Politik. Westliche Staaten und die westlichen Allianzen sind zudem viel stärker in den Konflikt verstrickt als noch zwischen 2014 und 2022. Sie haben präzedenzlose Sanktionen gegen Russland verhängt und unterstützen die Ukraine massiv mit Waffen. Putin hat mit seiner Entscheidung zum Angriff die Beziehungen mit dem Westen komplett gekappt. West­liche Staats- und Regierungschefs, mög­licherweise mit Ausnahme des amerikanischen Präsidenten, haben keinen Zugang zum russi­schen Herrscher mehr. Überdies haben sie sich verpflichtet, mit Russland keine Verhandlungen »über die Ukraine ohne die Ukraine« zu führen, wie auch Joe Biden nicht müde wird zu betonen. Ihre Möglichkeiten werden bis auf weiteres auf die Flan­kierung von Verhandlungen be­schränkt bleiben. Daran könnte erst ein substantieller Kurswechsel der russischen Politik etwas ändern. In diesem Fall hätten westliche Akteure zahlreiche Instrumente und An­reize an der Hand, um positiv auf Verhandlungen einzuwirken. Weder das eine noch das andere zeichnet sich aber derzeit ab.

Ausblick und Handlungsoptionen

Friedensverhandlungen hängen stets von der militärischen Situation, also den Macht­verhältnissen zwischen den Kriegsparteien ab. Zu Beginn des erneuten Einmarschs versuchte Russland, die Ukraine zu über­rennen und Kyjiw einen Diktatfrieden auf­zuzwingen. Dies gelang weder militärisch noch politisch. Dennoch stand die ukrainische politische Führung in der ersten Ver­handlungsphase stark unter Druck und war zu weitreichenden Kompromissen bereit. Seit April hat sich das militärische Gleich­gewicht indes kontinuierlich zugunsten der ukrainischen Seite verschoben. Die russi­schen Kriegsverbrechen zer­störten jedes Vertrauen in eine Ver­hand­lungslösung, und die ukrainische Ver­hand­lungsposition verhärtete sich. Kyjiw hat darüber hinaus durch den Krieg und seine militärischen Erfolge international enorm an Gewicht gewonnen. Russland ist zwar nicht voll­ständig isoliert. Doch Putins Entscheidung, den Krieg trotz der militärischen Pro­bleme immer weiter zu eskalieren, wirft auch bei seinen Unterstützern in Peking oder Ankara Fragen auf. Mit den jüngsten Anne­xionen hat der russi­sche Herrscher weiteren Ver­handlungen einen Riegel vorgeschoben. Hoffnung auf eine diplomatische Lösung unter Wahrung der ukrainischen Eigenstaatlichkeit, Unabhängigkeit und territo­rialen Integrität wird es erst dann geben, wenn Russland keine Mög­lichkeiten mehr sieht, den Krieg militärisch zu ent­scheiden.

In der Zwischenzeit sollte deutsche Politik sich vor allem auf drei Bereiche konzentrieren:

Waffenlieferungen und Waffenstillstands­verhandlungen: Die militärische Unter­stützung für die Ukraine ist essentiell, um das Gleichgewicht zwischen den Kriegs­parteien zu verschieben und einen »reifen Moment« für aussichtsreiche Waffenstillstandsverhandlungen herbeizuführen. Nur so wird das Argument glaubwürdig, es sei Kyjiws Entscheidung, wann und unter welchen Bedingungen wieder Gespräche stattfinden können. Die Rückkehr zu den Kompromissformeln des Istanbuler Kom­muniqués wäre wünschenswert, ist aber durch die russi­schen Annexionen im Sep­tember unmöglich gemacht worden. Auch die Wirtschafts­sanktionen müssen ver­schärft werden. Bei­spielsweise sind seit der Mobilmachung auch in Russ­land tätige westliche Unternehmen ver­pflichtet, den Staat bei der Rekrutierung zu unterstützen. Dem muss ein Riegel vor­geschoben werden.

Waffenstillstandsverhandlungen sind eher eine mittelfristige Perspektive. Ein nach­haltiger Frieden zwischen der Ukraine und Russland, nicht nur im Sinne der Ab­wesenheit physischer Gewalt, ist bestenfalls lang­fristig denkbar. Möglich wird er nur dann, wenn die russische Politik sich grund­legend neu orientiert, mit anderen Worten: nach einem Regimewechsel. Das macht Ver­hand­lungen, wenn sie einmal beginnen, umso voraussetzungsreicher und komplexer. Ein Waffenstillstand muss international begleitet und abgesichert werden. Für eine dazu notwendige internationale Mission und andere Maß­nahmen werden bereits Blaupausen entwickelt. Das muss vorangetrieben und unter den westlichen Verbündeten und Kyjiw abgestimmt wer­den. Sicherheits­garantien für die Ukraine sind ein elementarer Teil dieses Prozesses.

Getreide-Deal: Der Getreide-Deal ist in Gefahr. Deutschland und andere internatio­nale Akteure müssen alles dafür tun, dass er trotz der neuerlichen russischen Eska­lation weiter funktioniert. Das ist nicht nur im Hinblick auf den Krieg und die wirtschaftliche Situation der Ukraine wichtig. Bricht das Abkommen zusammen, wird dies dramatische Auswirkungen auf die Ernährungssituation im Globalen Süden haben. Die russische Propaganda nutzt dies schon jetzt geschickt, um Koalitionsbildungen der Ukraine und des Westens mit Staaten des Globalen Südens zu erschweren. Hier müssen die westlichen In­dustrie­nationen hohen Einsatz zeigen, um ihre Position gegenüber diesen Staaten und Gesellschaften glaubwürdiger zu machen und zu verbessern.

Internationaler Kontext: Der internationale Kontext des russischen Krieges gegen die Ukraine ist ungeheuer komplex. Er spiegelt die strukturellen Veränderungen der glo­balen Ordnung. Es wird auch in Zukunft nicht gelingen, Russland international zu isolieren, denn Akteure wie China, Indien oder die Türkei werden weiterhin Nutzen aus ihrer Nähe zu Moskau ziehen. Deutsche und europäische Diplomatie sollten den­noch versuchen, in jenen Einzelfragen das Gespräch zu suchen, in denen sich die Interessen teilweise überlappen. Das betrifft vor allem die Gefahr der nuklearen Eskala­tion, die auch in Peking und Neu-Delhi Besorgnis erzeu­gen dürfte, oder Russlands versuchte impe­rialistische Aneignung ukrainischen Terri­toriums, die die Türkei vor Probleme stellt. Über die Gefahr einer nuklearen Eskalation muss auch mit Moskau weiter gesprochen werden. Dabei kann es jedoch nicht darum gehen, der russischen nuklearen Erpressung nachzugeben. Vielmehr muss der Westen seine Position hier immer wieder klarmachen und Russland von einer Eskalationsspirale abschrecken.

Frieden für die Ukraine liegt in weiter Ferne. Die bisherigen Verhandlungen zeigen, dass es vor allem Mos­kaus Krieg­führung und seine Herangehensweise an Verhandlungen sind, die eine diplomatische Lösung untergraben. Deutsch­land und seine europäischen und transatlantischen Partner können sich aber schon jetzt in enger Abstimmung mit Kyjiw auf den Moment vorbereiten, in dem Verhandlungen wieder möglich sind.

Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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