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Frankreichs Atomwaffen und Europa

Optionen für eine besser abgestimmte Abschreckungspolitik

SWP-Aktuell 2023/A 07, 30.01.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A07

Research Areas

Ein französischer Nuklearschirm für Europa als Ersatz für die US-Nukleargarantie stände vor großen politischen und militärisch-technischen Herausforderungen. Dennoch wäre es aufgrund der wachsenden Unsicherheit in Europa und Asien sinn­voll, wenn die Bundesregierung sich mit Szenarien und Optionen aus­einandersetzte, die über die heutige Abschreckungsarchitektur hinausgehen. Denkbar wäre vor allem, dass Frankreich eine sichtbarere ergänzende Rolle zur erweiterten nuklearen Abschreckung der USA übernähme. Dies könnte unterschiedliche Formen annehmen, von gestärkten Konsultationen bis hin zu gemeinsamen Nuklearübungen. Auch wenn solche Schritte zurzeit unwahrscheinlich sind, schei­nen sich die Interessen der USA und der Europäer in einer Weise anzunähern, die eine besser abgestimmte west­liche Abschreckungspolitik ermöglichen könnte.

Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Nuklearrhetorik haben in Deutschland eine neue Diskussion über Abschreckung ent­facht. In diesem Kontext werfen politische Eliten, besonders aus dem bürgerlichen Spektrum, immer wieder die Idee einer französischen nuklearen Rück­versicherung für Europa auf. Hinzu kom­men aber auch Zweifel, dass die nuklearen US-Sicherheits­garantien für Europa bestehen bleiben, da sich Washington trotz des Ukraine­-Krieges immer mehr auf Asien konzentriert.

Seit den Anfängen des Kalten Krieges stützen die europäischen Nato-Verbündeten ihre Sicherheit auf die Schutzversprechen Washingtons. Daher hängt die europäische Sicherheit letztlich weiterhin von der Glaubwürdigkeit der US-Regierung ab, im Extremfall nicht nur einen konventionellen Krieg zu führen, sondern auch Atomwaffen einzu­setzen. Die US-Reaktion auf Pekings wach­sende Ambitionen, aber auch der zunehmende innenpolitische Druck in den USA haben die Zweifel an deren langfristigem Engagement in Europa verschärft.

Angesichts dessen richtet sich der Blick einiger Beobachter und Beobachterinnen immer wieder auf Paris. Zwei Forderungen werden dabei regelmäßig aufgestellt. Einer­seits wird von Zeit zu Zeit die Idee geäußert, dass Frankreichs Atomwaffen die erweiterte nukleare Abschreckung der USA in Gänze ersetzen könnten. Im Gegensatz dazu ver­langen andere lediglich, Frankreich solle Washingtons nukleare Rückversicherung stärken.

Die europäische Dimension

Die Vorschläge der französischen Regierung waren jedoch stets wesentlich begrenzter. So sprach Präsident Emmanuel Macron in einer Grundsatzrede zur französischen Ab­schreckungspolitik im Februar 2020 beson­ders zwei Aspekte an. Er unterstrich erneut die Solidarität Frankreichs mit seinen euro­päischen Verbündeten und betonte, Frank­reichs »vitale Interessen« besäßen eine »europäische Dimension«. Schon während des Kalten Krieges hatten französische Entscheidungsträger darauf hingewiesen, dass eine Bedrohung der grundlegenden Sicherheitsinteressen seiner Nachbarn auch Frankreichs Sicherheit betreffe. Auch hat Frankreich in den letz­ten Jahren einige bi­laterale Sicherheits­vereinbarungen mit Nachbarstaaten abgeschlossen, unter ande­rem mit Deutschland 2019 im Vertrag von Aachen. Neu in Macrons Rede war der Vor­schlag, einen »stra­tegischen Dialog« über die Rolle der fran­zösischen Atomwaffen in der kollektiven Verteidigung Europas zu initiieren. Die europäischen Partner könn­ten beispiels­weise an Übungen der franzö­sischen Abschreckungskräfte teil­nehmen. Ein solcher Austausch könne dazu bei­tragen, die Entwicklung einer euro­päi­schen stra­tegischen Kultur voranzutreiben.

Auch spätere Klarstellungen französischer Offizieller unterstreichen, wie restrik­tiv Frankreichs Vorstellungen sind. Zwar möchte Paris die Sorgen seiner Verbündeten um ihre Sicherheit ernst nehmen, will aber die vollständige Entscheidungsgewalt über sein Atom­waffenarsenal behalten. Laut offizieller Lesart stärken französische Kernwaffen die europäische Sicher­heit, indem sie Kalkula­tionen von Gegnern er­schweren. Jegliche Art nuklearer Teilhabe kommt bisher allerdings nicht in Frage.

Dabei lassen sich die französischen Ideen zur nuklearen Zusammenarbeit in Europa in zwei Komponenten unterteilen. Die erste und wichtigere hat einen pädagogischen Impetus: Französische Offizielle sind der An­sicht, dass es Frankreichs engsten Ver­bündeten sowohl an soliden Kenntnissen über nukleare Abschreckung als auch an politi­scher Unterstützung für deren Not­wendigkeit mangelt. Paris würde gerne dazu bei­tragen, dieses Verständnis zu ver­bessern, um unter anderem den eigenen Ein­fluss auf die Abschreckungs- und Vertei­digungspolitik der Nato auszuweiten.

Die zweite Komponente betrifft die prak­tische Zusammenarbeit. Paris möchte, dass enge Verbündete an französischen Nuklear­übungen teilnehmen. Sie sollen dabei aber keine entscheidenden, sondern nur zusätz­liche Aufgaben und Fähigkeiten der nukle­aren Mission übernehmen. Das Haupt­ziel besteht nicht darin, dass die Partner an der nuklearen Abschreckung teilhaben, sondern dass sie sich mit deren Prozessen vertraut machen.

In Berlin und anderen europäischen Haupt­städten wurden diese Vorschläge mit Skepsis aufgenommen. Unklar blieb, ob Paris mittels seines Atomwaffenarsenals die strategische Autonomie Europas auf Kosten Washingtons vorantreiben wollte oder ledig­lich eine ergänzende Ebene der nukle­aren Rückversicherung innerhalb des Bünd­nisses anstrebte. Während des Kalten Krie­ges und Anfang der 1990er Jahre glaubten französische Strategen, dass diese Ziele sich gegen­seitig verstärkten: Solange sich die USA für die europäische Sicherheitsarchitektur einsetzten, wollte Paris mit seinem eige­nen Nuklearpotential seine Position in einer von Washington dominierten inter­nationalen Ordnung festigen, eine kon­struk­ti­ve Rolle in der Nato spielen sowie Sicherheit und Stabilität in Europa fördern. Frankreich bereitete sich aber auch darauf vor, im Fall eines US-Rückzugs mehr Ver­antwortung zu übernehmen.

Abgesehen von den wenigen Phasen, in denen sich Washington nur mäßig inter­essiert an europäischen Belangen zeigte, waren Frankreichs Nachbarn daher nicht sonder­lich geneigt, dessen differenzierten Ansatz zu akzeptieren. So wurde auch nur wenig aus Macrons Angeboten an seine Ver­bündeten zur nu­klearen Zusammen­arbeit. Und gerade in Anbetracht der Zweifel, die am Engagement der USA unter Präsi­dent Trump in Europa aufkamen, sowie an­gesichts Macrons Kritik an der Nato fürch­teten deutsche Regie­rungsvertreter, dass es die Präsenz der USA in Europa und das Bündnis nur noch mehr gefährden könnte, wenn Berlin auf die Ideen aus Paris einginge.

Begrenzte Fähigkeiten 

Die Antwort auf die Frage, ob Frankreich überhaupt den US-Nuklearschirm ersetzen könnte, hängt so­wohl von politischen Standpunkten als auch von technischen Fähigkeiten ab. Kern des Problems ist, dass erweiterte nukleare Abschreckung – also die Androhung, zur Verteidigung eines Alliierten notfalls Nuklearwaffen einzusetzen und damit das Risiko eines nuklearen Gegen­schlags einzugehen – per se wenig glaubwürdig ist. Über die Glaubwürdigkeit von Abschreckung und Rückversicherung entscheiden am Ende die Gegner und die Verbündeten. In der Forschung werden vor allem drei Faktoren als zentral angesehen: der politische Wille und die Interessen des rückversichernden Staates, dessen militärische Fähigkeiten und das sicherheitspolitische Umfeld.

So hatten die USA schon immer Schwierigkeiten, glaubhaft ihre Bereitschaft zu signalisieren, dass sie im Extremfall auch bei einer begrenzten Aggression gegen Ver­bündete ihre Drohungen wahr machen würden und durch die Verteidigung ihrer Alliierten einen begrenzten Nu­klearangriff gegen eigenes Territorium akzep­tieren würden. Der hohe Stellenwert Euro­pas in Washing­tons globaler Strategie und für die US-geprägte Weltordnung stützte jedoch die Sicherheitsversprechen. Außerdem ver­suchten die USA zu verhindern, dass ihre Sicherheitsgarantien gegenüber Alliierten in Frage gestellt werden. Zu diesem Zweck verwarfen sie eine Strategie der Minimal­abschreckung, diversifizierten stattdessen ihre Nuklearfähigkeiten und schufen die nukle­are Teilhabe, die auch einen institu­tionellen Rahmen für Kon­sul­tationen zu Nuklear­politik bietet.

Washingtons Dilemmata kann auch Paris nicht einfach umgehen. Fran­zösische Experten argumentieren zwar, dass Frank­reichs räumliche Nähe und Iden­tität als europäische Atommacht der Glaubwürdigkeit einer erweiterten fran­zösischen Abschreckung grundsätzlich förderlich sei. Dennoch kann Paris in der heutigen strate­gischen Architektur Europas nur schwerlich glaubhaft machen, seine Interessen an der europäischen und internationalen Ordnung seien so gewichtig, dass es für die Vertei­digung seiner Ver­bündeten die Zerstö­rung des eigenen Landes in Kauf nähme. Selbst wenn Frankreich eine größere Rolle in Europas politischer Architektur spielte, ständen einer glaubwürdigen französischen Abschreckung immer noch fundamentale geo­graphische und wirtschaftliche Aspekte im Wege. Im Gegenteil hat Paris mit seiner Russlandpolitik der letzten Jahre vor allem unter den Zentral- und Osteuropäern grund­sätz­liche Zweifel daran genährt, dass es nationale Interessen hinter gesamteuropäische Ziele zurückstellen würde.

Derlei Zweifel kann Paris auch nicht mit dem Verweis auf seine nuklearen Fähig­keiten und seine Abschreckungsdoktrin ausräumen. Frankreich ver­fügt mit rund 300 Atomsprengköpfen über ein wesentlich kleineres und weniger breitgefächertes Arsenal als die USA. Die meisten dieser Sprengköpfe sind für U-Boot-gestützte ballistische Raketen vorgesehen. Eine zwei­te, luftgestützte Komponente besteht aus nuklearen Marschflugkörpern, die von eini­gen Dut­zend Kampfflugzeugen eingesetzt werden kön­nen. An­ders als Washington verfolgt Paris zudem eine Politik der Mini­malabschreckung. Demnach will Paris einem gegnerischen Staat »inakzeptablen Schaden« zu­fügen können. Frankreichs Kernwaffen richten sich daher nicht gegen Nuklearstreitkräfte eines potentiellen Kontrahenten, sondern gegen dessen »poli­tische, wirtschaftliche und militärische Nervenzentren«. Ferner verfügt Frankreich im Gegen­satz zu den USA kaum über begrenztere Nuklearoptionen, die eine »ab­gestuftere« Eskalation ermöglich­ten.

Weil Frankreichs atomares Arse­nal also eher klein und wenig flexibel ist, müsste Paris als Reaktion auf einen rus­sischen kon­ven­tionellen Angriff etwa auf die baltischen Staaten den Einsatz strategischer Kernwaffen gegen russische Städte androhen. Damit müsste Paris einen russischen nu­klearen Vergeltungsschlag gegen französisches Territorium in Kauf nehmen. Selbst in einer Welt, in der die USA nicht mehr die nukle­are Abschreckung für Europa garan­tieren, dürfte es daher unwahrscheinlich sein, dass Frankreichs Alliierte ihre Sicher­heit ohne Wenn und Aber Paris anvertrauen.

 schaffen begrenzte Optionen

Sollten die Europäer eines Tages auf­grund geopolitischer Ent­wick­lungen dennoch ernsthaftes Interesse an einer französischen Rückversicherung hegen, wären theo­retisch unterschiedliche Optionen denkbar. Diese würden jedoch neue Kosten und Probleme verursachen.

Ein Szenario könnte darin bestehen, dass Paris seinen Alliierten Entscheidungsgewalt über die französischen Atomwaffen über­trägt. Frank­reichs Verbündete könnten so glaub­haft drohen, angesichts einer Aggres­sion im Notfall Kernwaffen einzusetzen. Dafür müsste aber das französische Nuklear­­waffenarsenal ausgebaut und diver­sifiziert werden. Notwendig wäre auch ein insti­tu­tioneller Rahmen zur gemeinsamen Kon­trolle und Steuerung. Darüber hinaus käme eine derartige Anpassung einer ge­ziel­ten Prolife­ration gleich. Diese wäre aus heuti­ger Per­spektive nicht nur unvereinbar mit dem Völkerrecht, sondern zöge vermut­lich auch unübersehbare sicherheitspolitische Kon­sequenzen nach sich. In erster Linie stellte sich allerdings die Frage, ob Paris überhaupt ein poli­tisches Inter­esse daran hätte, die Entscheidungsgewalt so breit zu teilen und damit seine her­aus­gehobene Rolle als Nuklearmacht zu verlieren.

Solange Paris die Kontrolle über sein Atomwaffenarsenal nicht abgibt, könnte Frank­reich seine Sicherheitsversprechen nur dadurch untermauern, dass es einen insti­tutionellen Rahmen errichtet, der die Alliierten bis zu einem gewissen Grad ein­bindet. Eine Möglichkeit wäre, ein Arrange­ment zu schaffen, welches dem heutigen System der nuklearen Teilhabe der USA gliche. Doch auch solche Mechanismen wären ohne Abkehr von der Minimal­abschreckung und ohne massiven Ausbau von Frankreichs Fähigkeiten wenig glaub­würdig – und selbst dann noch von Frankreichs politischem Interessengefüge abhängig.

Eine solche franzö­sische nukleare Teilhabe würde hohe Investitionen Frankreichs und der Verbündeten erfordern. Vor allem müssten Optionen für eine begrenzte Eska­lation aufgewertet werden. In Gestalt der oben erwähnten luftgestützten Kompo­nen­te bietet Frankreichs Arsenal dafür durch­aus eine Basis. Der gegenwärtige Bestand an Nuklearsprengköpfen für bombergestützte Marschflugkörper dürfte allerdings zu klein sein, um eine erweiterte Abschreckung zu gewährleisten. Um die Drohung, man werde auch auf begrenztere Aggressionen reagie­ren, glaubwürdiger zu machen, wäre es wohl notwendig, französische Atomsprengköpfe mit geringerer Spreng­kraft zu produ­zieren.

Die an diesem Teilhabemechanismus mitwirkenden Nato-Staaten wiederum müssten Lager­stätten stellen. Bei den fünf Staaten, die zurzeit in die nukleare Teil­habe einbezogen sind und über Bunkeranlagen verfügen, wäre dies mutmaßlich mit weni­ger Aufwand ver­bunden. Neue Gastländer jedoch müssten Lagerstätten erst errichten. Darüber hinaus müssten die betei­ligten Staaten Trägerflugzeuge bereit­stellen. Amerikanische F‑35-Kampfflugzeuge für französische Waffen zu nutzen wäre indes wegen möglicher poli­tischer Differenzen und fehlender technischer Zertifizierung keine Option. Daher müssten neue euro­päische Kampfflugzeuge für diese Auf­gabe konstruiert werden. In Frage käme hier das Future Combat Air System (FCAS). Es wird derzeit von Frankreich, Deutschland und Spanien entwickelt und soll frü­hestens 2040 in Betrieb genommen werden.

Und schließlich stellten sich Fragen über die institutionelle Einbettung sowie die Steuerung und Kontrolle eines solchen Teil­habemecha­nismus. Eine vollständige insti­tutionelle Anbindung an die Nato bliebe un­wahr­scheinlich, solange die USA Teil des Bündnisses sind. In dem Fall wäre ein neues institutionelles Gefüge vonnöten. Zudem wäre zu klären, wie ein Entscheidungs- und Konsultationsprozess zwischen Frankreich und beteiligten Staaten abliefe.

Eine glaubwürdige erweiterte franzö­si­sche Abschreckung wäre also zeitaufwendig und teuer. Bisher profitieren die europäischen Nato-Staaten nicht nur von den nuklearen, sondern auch von den konventionellen Fähigkeiten der USA, ohne sich selbst maßgeblich einbringen zu müs­sen. Trittbrettfahren bei konventionellen Fähig­keiten aber könnte Frankreich, das wirt­schaftlich schwächer ist als Deutschland, nicht mehr akzeptieren.

Rückversicherung durch Paris?

Die europäische und internationale Ord­nung müsste sich fundamental verändern, damit eine französische erweiterte Ab­schreckung als Ersatz für jene der USA zur Option wird. Dafür müssten wohl zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen müss­ten sich die USA als Ordnungsmacht und Sicherheitsgarant vollständig aus Europa zurückziehen. Zum anderen müsste die Bedrohung der Sicherheit in Europa gleich bleiben oder sogar wachsen. Und als Kon­sequenz dieser beiden Bedingungen müsste sich die Hal­tung der Nato-Staaten zu Frank­reichs Rolle als Ordnungs- und Nuklearmacht in Europa verändern. Dass sich diese Voraussetzungen in abseh­barer Zukunft erfüllen, ist jedoch kaum zu erwarten.

Erstens ist ein Rückzug der USA als Ord­nungsmacht aus Europa äußerst unwahrscheinlich. Zwar stehen die transatlantischen Partner vor zahl­reichen Herausforderungen infolge Chinas Aufstiegs, des Erstar­kens isolationistischer und populistischer Kräfte in den USA und wirt­schaftlicher Spannungen. Doch hat Washingtons Reak­tion auf den Ukraine-Krieg verdeutlicht, dass die USA ihr Engagement für die euro­päische Sicherheit bis auf Weiteres fort­setzen werden. Und auch mittel- bis lang­fristig scheinen weder die Europäer noch die Amerikaner viele Alternativen zu haben. Um weiterhin seine globalen politi­schen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen zu können, ist Wash­ington auf die Zusammenarbeit mit den Europäern angewiesen. Umgekehrt brau­chen diese die USA, um ihre Sicherheit zu gewährleisten und Russland einzudämmen.

Selbst eine US-Regie­rung, die entschlossen wäre, die Kosten ihres europäischen Engagements zu senken, gäbe die erweiterte nukleare Abschreckung wahr­scheinlich nur dann auf, wenn sie sich völlig von ihren globalen Verpflichtungen lösen wollte. Seit langem drängt Washington die Europäer zu mehr Investitionen in ihre Verteidigung. Gemeint sind hier aber vor allem konven­tionelle Streitkräfte. Mit Blick auf die nukle­are Abschreckung hat Washington nach wie vor erhebliche komparative Vorteile. Einerseits werden die USA wegen eines wiedererstarkenden Russlands und eines nuklear aufrüstenden Chinas ihre nukle­aren Fähigkeiten weiter modernisieren und erweitern müssen. Ande­rerseits verfügen die USA bereits über ein großes und breit­gefächertes Atomwaffenarsenal, das für eine erweiterte Abschreckung viel bes­ser geeig­net ist als alles, was Frankreich oder Europa im Verbund binnen kurzem auf­bieten könnten.

Ein künftiger US-Präsident, der die US-Sicherheits­garantien noch rigoroser als Donald Trump in Frage stellt, dürfte bei vielen Europäern gesteigertes Interesse an ergänzenden Sicherheitsmechanismen hervor­rufen. Die europäischen Reaktionen auf Trumps Politik deuten je­doch nicht darauf hin, dass die Haltung eines solchen Präsi­denten die Europäer veranlassen würde, alternative Formate wie einen französischen Nuklearschirm ernst­haft zu forcieren.

Zweitens ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Sicherheitslage in Europa ent­wickeln wird und wie sich die eurasischen Beziehungen im Fall eines kompletten Rückzugs der USA aus der europäischen Ordnung verändern würden. Einerseits könn­ten Russlands revisionistische Ambi­tionen die europäischen Nationen zwingen, bestimmte widerstreitende politische, wirt­schaftliche und sicherheitspolitische Ziele aufzugeben, um eine glaubwürdige Ab­schreckung gegenüber Moskau zu schaffen. Andererseits ist es ebenso plausibel, dass Frankreich, Italien oder Deutschland in­folge eines Rückzugs der USA geneigt sein könn­ten, einen kooperativeren Ansatz gegenüber Russland zu finden.

Drittens ist ebenso schwierig einzuschätzen, ob sicherheitspolitische Herausforderungen zu einer Stärkung der fran­zösischen Rolle oder aber zu einer euro­päischen Nuklearfähigkeit führen würden. Einerseits dürften sich unter den oben genannten Zwängen Fragen über unterschiedliche strategische Kulturen und Einstellungen zu Sicherheitspolitik erübri­gen. Andererseits sind die Ziele und Inter­essen Frankreichs und der anderen euro­päischen Nationen nur schwer in Einklang zu bringen. Eine dramatisch verschlechterte Sicherheitslage könnte Frankreich dazu bewegen, mehr Verantwortung für Ver­bündete zu über­nehmen und unter anderem mit nuklearer Abschreckung dafür zu sorgen, dass die Sicherheit Europas gewährleistet bliebe. Das hieße aber wohl, dass Frankreich im Gegenzug eine Vormachtstellung in Europa anstreben würde. Bisher lehnen die eher transatlantisch orientierten Staaten in Zentral- und Osteuropa eine dominantere Rolle Frank­reichs ab und misstrauen dessen Solidarität. Sollten die USA ihre Sicherheit und Stabi­lität und damit auch die Basis von Demokratie und Wohlstand jedoch nicht mehr garantieren, würden die zentral- und osteuropäischen Staaten womöglich ein stärker deutsch-französisch dominiertes System in Europa als naheliegenden Ersatz sehen. Dafür müssten sie zwar eine unter­geordnete Rolle akzeptieren, könnten aber weiterhin die Verantwortung für ihre Sicherheit an Dritte aus­lagern. Dennoch spricht vieles dagegen: Weder hat Frankreich ver­gleichbare wirtschaftliche oder militärische Fähig­keiten wie die USA, noch wäre der Preis, den Paris für seine Sicherheitsleistungen verlangen würde, ähnlich gering. Wahrscheinlicher wäre daher mut­maßlich, dass sich Europa in einem solchen Szenario für eine gemeinsame Nuklear­option ent­scheiden würde. In diesem Kon­text würden auch die Kernwaffen und strategischen Interessen des Vereinigten Königreichs eine bedeutende Rolle spielen. Der Aufbau einer europäischen Option wäre dann aber nicht der erste Schritt in dieser neuen Ära der euro­päischen Inte­gration, sondern der letzte.

Gestärkte Zusammenarbeit in der Nuklearpolitik

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass französische Atomwaffen in absehbarer Zeit eine entscheidende Rolle in der europäischen Sicherheit spielen werden. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat erwiesen, dass die USA nach wie vor eine zentrale Rolle in der euro­päischen Sicherheitsarchitektur einnehmen. Solange sich die Situation in Euro­pa und den USA nicht dramatisch ver­ändert, werden daher vermutlich nur wenige Euro­päer die Rolle Washingtons als Euro­pas Sicher­heitsgarant in Frage stellen. Daher werden die Europäer aller Voraussicht nach auch von Schritten absehen, welche die erweiterte nukleare Abschreckung der USA politisch gefährden könnten. Aufgrund des sich wandelnden strategischen Umfelds und dessen Aus­wirkungen auf die europäischen Verteidigungspolitiken könnten gleichwohl begrenzte Schritte möglich sein. Dabei sind vermutlich beson­ders zwei Über­legungen relevant:

Einerseits wächst wegen Moskaus Vor­gehen im Ukraine-Krieg das Interesse zahl­reicher europäischer Staaten, die nukleare Abschreckung aufzuwerten. Damit könnte auch ihre Motivation steigen, sich enger mit Frankreich abzustimmen. Positiv auf die Einstellung der zentral- und osteuropäischen Staaten dürfte sich auswirken, dass Paris erst­mals bereit war, sich an robusteren Trup­penstationierungen an der Süd-Ost-Flanke der Nato zu beteiligen und sich damit still­schweigend der amerikanischen »Stolperdraht-Strategie« anzunähern.

Andererseits käme es auch Paris angesichts des wachsenden Interesses der Euro­päer an Abschreckung womöglich gelegen, den Austausch zu intensivieren. Auf die französische Haltung in Nuklearfragen werden dabei voraussichtlich auch inner­europäische Dynamiken Einfluss haben. Deutschland hat sich mit der European Sky Shield Initiative (ESSI) zum Ziel gesetzt, wegen der Bedrohungslage in Europa die europäische Luft­verteidigung zu verbessern. Dieser Ansatz der Abschreckung durch Ver­weigerung (deter­rence by denial) widerspricht jedoch Frank­reichs traditionellem Vorrang einer Abschreckung durch Bestra­fung (deterrence by punishment), bei der die Franzosen in erster Linie auf ihr Nuklear­potential setzen. Zudem befürchtet Paris, dass ein solches Programm negative Folgen für die europäische Ko­ope­ration und Vertei­digungsindu­strie hätte und die Abhängigkeit von den USA eher noch verschärfen würde. Daher gehen französische Beobachter davon aus, dass Paris versuchen könnte, die Berliner Pläne zu bremsen, indem es seine Angebote für einen strategi­schen Dialog erneuert und eventuell ausweitet.

Optionen und Empfehlungen

Aufgrund der beschriebenen Entwicklungen sind unterschiedliche Optionen denkbar. Damit sie erfolgreich sein können, müssten die Ziele lauten, (1) Europas Abschreckungs­politiken besser zu koordinieren, (2) Frank­reichs Rolle als euro­päische Atommacht nach außen auf­zuwerten und besser sicht­bar zu machen sowie (3) mehr Vertrauen der Alliierten in Frankreichs Soli­darität zu schaffen.

Am realistischsten erscheint eine wichtigere Rolle Frankreichs, wenn es darum geht, in Europa ein gemeinsames Verständnis der Erfordernisse nuklearer Abschreckung zu erzielen. Putins Drohungen mit Atomwaffen haben offenbart, dass es in Europa an vertieften Kenntnissen über Nuklearstrategie mangelt. So dürften viele Europäer ver­stärkte französische Anstrengungen in diesem Bereich begrüßen.

Daneben könnte Frankreich sich auch um intensivere Zusammenarbeit aller Nato-Staaten in Nuklear­fragen bemühen. Sinn­voll wäre es, Konsultationen zu Nuklear­politik unter Einbindung Frankreichs auf­zuwerten und zu institutionalisieren. Die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der Nato wäre dafür der perfekte Rahmen, doch wird es kaum möglich sein, Frankreich zur Mit­wirkung darin zu bewegen. Bisher ist es wegen Souveränitätsbedenken nicht Teil der nuklearen Kommandostruktur der Nato und beteiligt sich deswegen nicht an Kon­sultationen in der NPG oder an Nuklear­übun­gen der Allianz. Zwar nimmt Paris seit 2010 eine proaktivere Rolle mit Blick auf Nuklear­fragen im Bündnis ein, und einige französische Experten halten einen fran­­zösischen NPG-Beitritt für unproblematisch. Dennoch dürfte ein solcher Schritt auf massiven innenpolitischen Widerstand stoßen, da viele darin die Gefahr sähen, dass Frankreich seine nukleare Sonderrolle und Souveränität ver­lieren könnte. Parallel­strukturen oder bi­laterale Formate wiede­rum wären nicht im Interesse der anderen Nato-Staaten. Damit wäre eine Intensivierung des Nuklear­dialogs allein im Nord­atlantikrat denkbar, wo bereits unregel­mäßige Sitzun­gen zu all­gemeinen Fragen nuklearer Abschreckung stattfinden.

Schließlich wäre eine verstärkte Koope­ration auch bei Nuklear­übungen möglich. Dies könnte nicht nur die militärische Ko­ordinierung unter den Nato-Verbündeten verbessern, son­dern auch Frankreichs Sicht­barkeit und Rolle als euro­päische Atommacht nach außen unter­streichen, vor allem gegenüber Moskau. Schon jetzt nehmen Nato-Staa­ten unregelmäßig als Be­obachter an den viermal im Jahr abgehaltenen »Poker«-Übungen der französischen luft­gestützten Nuklearstreitkräfte teil. Ver­treter Frankreichs waren auch schon als Beob­achter bei Nato-Nuklearübungen zu­gegen. Diese Besuche könnten intensiviert werden und den Weg zu weitergehenden Schritten ebnen. Erstens könnten sie dahin­gehend ausgeweitet wer­den, dass Nato-Staaten, die keine Atomwaffen besitzen, gelegentlich aktiv an französischen Übun­gen teilnehmen, indem sie bestimmte kon­ventionelle Fähigkeiten stellen. Zweitens könn­ten Frankreich und die Nato gleich­zeitig Nuklearübungen abhalten, um nach­drück­lichere strategische Signale (Signalling) an Moskau zu senden. Drittens könnte Frank­reich nuklearfähige Kampf­flugzeuge reih­um auf Stützpunkten Verbündeter statio­nieren. Das wäre ein Zeichen der Solida­rität mit den Verbündeten und könnte Mos­kaus Kalku­lationen zusätzlich erschweren.

Diesen Optionen zum Trotz befindet sich der deutsch-französische Aus­tausch zu Nuklearfragen derzeit in einer Sackgasse: Paris scheint nach Macrons Vor­schlägen von 2020 eine Antwort von Berlin zu erwar­ten, während Berlin die Vorschläge für zu unkonkret hält und keine klare Vorstellung von Paris’ Überlegungen hat. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, könnte die Bundesregierung offen auf die französische Regierung zugehen. Sinnvoll wäre dies be­sonders für den Fall, dass die Bundesregierung wegen der verschärften Bedrohungs­lage die europäische nukleare Abschreckung inklusive Frank­reichs Potential auf­werten möchte oder im Nukleardialog mit Paris die bilateralen Beziehungen und mittel- bis langfristig auch die europäische Sicherheits­politik verbessern will. Ein er­gebnisoffener Austausch könnte aber auch helfen, gegenseitiges Verständnis für die unterschiedlichen Vorstellungen, Erwar­tungen und Positionen zu schaffen. Solche Gespräche könnten nicht nur ein Gegen­gewicht zu den wiederholten Rufen nach einer französischen Rück­versicherung bil­den. Darüber hinaus könnten sie als Grund­lage für eine differenziertere euro­päische strategische Szenarien­planung in einem zunehmend instabilen inter­nationalen Umfeld dienen.

Berlin müsste sich aber auch fragen, welche konkreten Ziele es mit einer bilate­ralen Nuklearkooperation ver­folgen würde und welche Kosten es dafür zu tragen bereit wäre. Paris nämlich dürfte unter anderem anstreben, dass Deutschland sich öffentlich zur Bedeutung des französischen Atom­waffen­arsenals für Europas Sicherheit be­kennt. Möglicherweise erzeugt dies innen­politische Kosten für Berlin. Diese könnten aber unter Umständen durch politische, militärische und strategische Vorteile auf­gewogen wer­den, etwa durch eine Teilnahme an fran­zösischen Nuklearübungen. Vorstellbar wäre auch, dass Berlin mittels eines Dialogs längerfristig Möglichkeiten für eine gewich­tigere Rolle Frankreichs in den nuklearen Strukturen der Nato aus­lotet. Am Ende kann aber nur ein gemeinsames Verständnis die Basis für weiter­gehende Schritte schaffen.

Lydia Wachs und Dr. Liviu Horovitz sind Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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