Pretoria, 12. Februar 2024: Während eines Festakts unterzeichnen der deutsche Gesundheitsminister und sein südafrikanischer Kollege das Abkommen »Together We Care« über die Ausbildung und Entsendung von 20 000 südafrikanischen Alten- und Krankenpflegerinnen und -pflegern nach Deutschland. Dieses Abkommen ist Teil einer umfassenden Kooperationsvereinbarung. So sollen in mehreren südafrikanischen Städten Ausbildungszentren für medizinisches Fachpersonal aufgebaut werden. Zudem enthält die Vereinbarung Zusagen über die Unterstützung für ein duales Ausbildungssystem und für Visaerleichterungen. In den Medien wird das Ereignis ausgiebig kommentiert und überwiegend positiv bewertet. Die FAZ veröffentlicht einen Leitartikel mit dem Titel »Deutschland beweist, dass es im globalen Wettbewerb bestehen kann«, die taz begrüßt den Vertrag mit der Meldung »Deutschland bleibt Einwanderungsland«.
Das Abkommen ist Ergebnis intensiver Verhandlungen zwischen Deutschland und Südafrika. Der in Deutschland seit langem bestehende Fachkräftemangel in der Pflege hat sich seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie 2020 dramatisch verschärft. Mittlerweile bemühen sich viele osteuropäische Regierungen, ihre Gesundheitsfachkräfte durch finanzielle Anreize im eigenen Land zu halten oder zur Rückkehr zu bewegen. Deshalb hat der Personal- und Nachwuchsmangel solche Ausmaße angenommen, dass die Funktionsfähigkeit des gesamten deutschen Gesundheitssystems in Frage steht. In den europäischen Nachbarländern sieht es ähnlich aus. Im Jahr 2016 prognostizierte die WHO, bis 2030 werde in Europa ein zusätzlicher Bedarf an 18,2 Millionen Gesundheitsfachkräften entstehen. Diese Vorhersage erscheint immer realistischer.
Wie alles begann
Aus diesen Gründen legt die Bundesregierung seit Anfang 2021 Priorität darauf, dass die Personalausstattung in der Pflege verbessert wird. Dabei folgt sie Empfehlungen des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) von 2019, denen gemäß vor allem die Ausbildungskapazitäten erweitert, die Teilzeitquoten verringert, eine »Stille Reserve« gebildet und ein längerer Verbleib in der Pflege gewährleistet werden sollen. Da die Bevölkerung außereuropäischer Zuwanderung skeptisch gegenübersteht, wird die ebenfalls vom DKI empfohlene Akquise zusätzlicher Pflegekräfte aus dem Ausland zunächst ausgeklammert. Dann aber muss das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) seine 2018 erstellte Prognose, bis zum Jahr 2035 werde ein Bedarf an 130 000 bis 150 000 neuen Vollzeitpflegekräften allein in der Altenpflege entstehen, deutlich nach oben korrigieren. In der Folge mehren sich in Politik und Öffentlichkeit Stimmen, die nach verstärkten Anwerbebemühungen im Ausland rufen.
Die Bundesregierung muss reagieren. In einer vom Kanzleramt einberufenen ressortübergreifenden Sitzung im Oktober 2021 beraten Ressortvertreter darüber, welche außereuropäischen Länder sich für die Rekrutierung von Pflegekräften eignen würden. Beteiligt sind das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), das Auswärtige Amt (AA), das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und das Bundesministerium des Innern (BMI). Schon früh richtet sich der Blick auf den afrikanischen Kontinent, da sich diese regionale Schwerpunktsetzung mit den fortwährenden Bemühungen der Bundesregierung um eine neue Partnerschaft zwischen der EU und Afrika verknüpfen ließe.
Gemeinsam stellen die Ressorts Kriterien auf: Das BMG legt Wert darauf, dass die betreffenden Länder Erfolge beim Umgang mit der immer noch schwelenden Covid-19-Pandemie verzeichnen und dass der durchschnittliche Bildungsstandard der Bevölkerung hoch genug ist, um eine pflegerische Ausbildung nach deutschem Standard anzuschließen. Das AA betont den Mehrwert schon bestehender Deutschkenntnisse und erklärt, dass es in dem jeweiligen Land bereits Sprachvermittlungsinstitutionen wie das Goethe-Institut geben müsse. Das BMZ mahnt an, die Kriterien Jugendüberhang und Jugendarbeitslosigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, um den entwicklungspolitischen Nutzen möglicher Anwerbeprogramme zu erhöhen und Bedenken zu entkräften, es könne sich ein Brain-Drain-Effekt einstellen. Immer wieder schaltet sich auch das BMI ein, das einer Fachkräfteakquise nach wie vor kritisch gegenübersteht und regelmäßig Sicherheitsbedenken geltend macht. Das Wochenmagazin Der Spiegel zitiert den Bundesinnenminister mit den Worten: »Erst arbeiten wir jahrelang daran, die Afrikaner aus Deutschland fernzuhalten, und nun laden wir sie ein.« Diese skeptische Grundhaltung behindert lange Zeit die Verhandlungen und verzögert das Vorhaben.
Dennoch einigen sich die Ressorts angesichts des dringenden Handlungsbedarfes schließlich auf Sondierungsgespräche mit einer Reihe afrikanischer Länder, die nach Auffassung der Ministerien zumindest einige dieser Kriterien erfüllen und mit denen Deutschland auf bestehende Kooperationen aufbauen kann. Hierzu gehören die Elfenbeinküste, Ghana, Kenia, Marokko, Senegal, Tunesien und Südafrika. Da zahlreiche junge Afrikanerinnen und Afrikaner gern in Europa arbeiten möchten, ist der Ressortkreis optimistisch, binnen eines Jahres erste Anwerbeabkommen mit manchen Herkunftsländern vereinbaren zu können.
»Germany is late to the party«
Kurz vor der Sommerpause, im Juni 2022, macht sich Ernüchterung in der Bundesregierung breit: In der ersten Verhandlungsrunde zeigt keiner der angesprochenen Staaten Interesse am Angebot der deutschen Regierung, klar festgelegte Kontingente an Pflegekräften aus den betroffenen Ländern in Kompaktseminaren fortzubilden und für zunächst zwei Jahre in deutschen Einrichtungen zu beschäftigen. Die Begründungen ähneln sich überall: »Uns wurden schon attraktivere Angebote von anderer Seite gemacht«, »Warum sollten wir weltweit begehrte Pflegekräfte ohne Gegenwert nach Deutschland senden?« und (im Originalton): »Germany is late to the party«.
Wie konnte es dazu kommen? Offensichtlich ist in kurzer Zeit ein globaler Wettbewerb um Gesundheitsfachkräfte entstanden, als nicht nur andere europäische Länder begannen, Pflegekräfte aus Afrika zu rekrutieren, sondern auch China, Australien und Kanada. Berichte in den Medien taten ihr Übriges. Die zuständigen deutschen Entscheider haben die Dynamik dieser Entwicklung unterschätzt. Das lag zum einen daran, dass sie den Blick überwiegend nach innen richteten. Zum anderen nutzten andere europäische Länder, allen voran die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, bilaterale Kanäle, um möglichst ohne öffentliches Aufsehen zu verhandeln. Grund waren die Vorbehalte in der eigenen Bevölkerung.
Inzwischen hat Frankreich mit Algerien, Marokko und Tunesien ein Abkommen geschlossen, und Großbritannien mit Kenia. Die chinesische Regierung wiederum konnte an bestehende Austauschprogramme für afrikanische Studierende anknüpfen und hat dafür öffentlichkeitswirksam beim letzten Forum on China-Africa Cooperation (FOCAC) geworben. Weil schon vor Beginn der Pandemie ein immenser, rapide steigender Bedarf im eigenen Land bestanden hatte, sagte die Regierung in Peking dem Senegal, der Elfenbeinküste und Ghana beträchtliche Direktinvestitionen für den Fall zu, dass die drei Länder China umfassenden Zugang zu ausgebildeten Pflegekräften gewähren. Deshalb schlugen diese Länder ähnliche Verhandlungsangebote anderer Staaten aus. Südafrika ließ sich zwar nicht zu solchen nahezu exklusiven Anwerbeabkommen drängen. Mit Blick auf die Verhandlungserfolge der anderen afrikanischen Staaten erhob es aber hohe Forderungen.
Vor diesem Hintergrund ist das deutsche Angebot, Pflegekräfte auf Zeit und ohne gewichtige Gegenleistung abzuwerben, nicht konkurrenzfähig. Zunehmend besorgt berichten die Medien über wachsende Schwierigkeiten, dringend benötigte Fachkräfte für Deutschland zu gewinnen. Schreckensmeldungen über vernachlässigte alte Menschen in unterbesetzten Pflegeheimen heizen die Debatte weiter an. Die Presse wirft der Regierung vor, schlecht verhandelt zu haben und sich nicht nachdrücklich genug für die deutschen Interessen einzusetzen.
Durchbruch bei den Verhandlungen
Nun steht die Bundesregierung unter Handlungsdruck und beschließt, ein Herkunftsland gezielt zu umwerben. Die Wahl fällt auf Südafrika, den wichtigsten deutschen Wirtschaftspartner in Subsahara-Afrika. Präsident Cyril Ramaphosa und seine ANC-geführte Regierung signalisieren grundsätzliches Interesse an einer Kooperation mit Deutschland. Doch der ANC ist in sich gespalten. In Anlehnung an die Politik des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma bevorzugt eine Fraktion die Zusammenarbeit mit anderen BRICS-Staaten, besonders China und Russland. Das hemmt die Aufnahme konkreter Verhandlungen.
Daraufhin berät der deutsche Ressortkreis, wie die Bedenken auf Seiten der Südafrikaner ausgeräumt werden können. Angesichts der aggressiven Verhandlungsführung Chinas ist es keine leichte Aufgabe, ein maßgeschneidertes Paket zusammenzustellen, das Südafrikas spezifischen Bedarfen Rechnung trägt und attraktiver ist als die Angebote weiterer Wettbewerber. Zudem sind inzwischen auch kleinere europäische Staaten wie die skandinavischen Länder und die Niederlande in den globalen Wettbewerb um Gesundheitsfachkräfte eingestiegen. Sie stellen der südafrikanischen Regierung umfangreiche Handels- und Investitionspartnerschaften in Aussicht.
Bei der Angebotsentwicklung helfen sollen kurzfristig angesetzte Konsultationen mit Länderexpertinnen und -experten aus Forschung und Entwicklungszusammenarbeit, der Pflegewirtschaft, den Außenhandelskammern, der Arbeitsverwaltung und der südafrikanischen Diaspora. In den Beratungen zeigt sich, dass der Bereich Berufsausbildung für die südafrikanische Regierung oberste Priorität hat, um die hohe Jugendarbeitslosigkeit bei Schulabgängern zu verringern. Hieran anknüpfend schlägt das BMZ vor, eine in Fachkreisen schon seit Jahren diskutierte Idee in die Verhandlungen einzubringen: transnationale Ausbildungspartnerschaften. Sie sehen vor, zweigliedrige Pflegeschulen in Südafrika aufzubauen, die von Deutschland kofinanziert werden. Diese Schulen sollen parallel für den heimischen und den deutschen Markt ausbilden. Mit dem Partnerschaftsgedanken und der Idee eines fairen Interessenausgleichs, welche diesem Konzept zugrunde liegen, könne sich das deutsche Angebot an die südafrikanische Regierung von dem anderer Länder abheben. Die übrigen Ressorts schließen sich dieser Strategie an. Im März 2023 unterbreitet die Bundesregierung bei einem Sondertreffen der deutsch-südafrikanischen Binationalen Kommission ihren Partnern ein neues Angebot für die Ausbildung und Entsendung von Pflegekräften. Auf dieser Basis stimmt die südafrikanische Regierung der Aufnahme konkreter Verhandlungen zu.
EU-interne Konkurrenz und südafrikanische Kontroversen
Zwar zeigt die südafrikanische Regierung grundsätzlich Interesse am deutschen Angebot der Ausbildungspartnerschaften. Dennoch ist sich das Kabinett in Pretoria darüber einig, dass man den globalen Wettbewerb um Gesundheitsfachkräfte auch als Chance nutzen sollte, um weitergehende Forderungen zu stellen, vor allem mit Blick auf die Visapolitik. Ein zäher Verhandlungsmarathon zwischen den beiden Regierungen beginnt. Die deutsche Delegation argumentiert, Visafragen müssten grundsätzlich auf europäischer Ebene abgestimmt werden und ständen deshalb in bilateralen Verhandlungen nicht zur Disposition. Diese Haltung lässt die südafrikanische Seite nicht gelten. Stattdessen verweist sie auf parallel geführte Verhandlungen mit Finnland und den Niederlanden, bei denen schon konkrete Visaerleichterungen angeboten wurden. Von dieser innereuropäischen Konkurrenz überrumpelt, bittet die deutsche Delegation im September 2023 um eine zweiwöchige Verhandlungspause, um intern ein neues Angebotspaket abzustimmen.
Bevor dies gelingt, tritt ein weiteres Hindernis auf: Ein interner Machtkampf im ANC bringt die Verhandlungen fast zum Scheitern. Innerparteiliche Gegner des Präsidenten Cyril Ramaphosa übermitteln heikle Informationen an die Presse, um ihn und seine Fraktion im ANC vor den 2024 anstehenden Wahlen zu schwächen und so innerhalb der Partei Verhandlungsmasse aufzubauen. Dazu gehören auch Informationen über die möglichen Ausbildungspartnerschaften mit Deutschland. »Ramaphosa is a sellout«, wird des Präsidenten schärfster Gegner Ace Magashule in der südafrikanischen Presse zitiert – ein Verräter also, der im Zuge einer neoliberalen Wirtschaftspolitik junge, schwarze Südafrikaner an den Westen verkaufe. Seriöse südafrikanische Medien führen die Diskussion differenzierter, aber mit ähnlichem Tenor: Warum ausgerechnet Deutschland? Warum wirbt die Bundesrepublik die guten Leute ab? Und was haben wir davon?
Eine Debatte über die Partnerschaften entbrennt vor allem an den südafrikanischen Universitäten, an denen seit 2014 kritisch über die Dekolonialisierung des Bildungssystems und der internationalen Beziehungen diskutiert wird. Deutschland wird dabei durchaus als problematischer Partner gesehen: Erstens habe die Bundesregierung die Schuld für den Genozid an den Herero und Nama in Namibia noch immer nicht hinreichend anerkannt und sei schon daher kein guter Partner. Zweitens seien der Rechtsruck in Europa und die rassistischen Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten, auch in Deutschland, besorgniserregend. Und drittens stelle sich die Frage, ob Südafrika die Pflegekräfte nicht eher im eigenen Land brauche.
Diese Diskussion bringt Ramaphosa nur knapp ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen innenpolitisch massiv unter Druck. Gleichzeitig verleiht sie ihm in den Verhandlungen aber den nötigen Rückenwind, um neben Ausbildungspartnerschaften und Visaerleichterungen auch weitreichende Unterstützung für Südafrika beim Ausbau eines dualen Ausbildungssystems zu verlangen. Mit diesem umfassenden Forderungspaket gelingt es ihm, die Kritiker aus den eigenen Reihen zu beschwichtigen und seine Verhandlungsergebnisse als Erfolg bei der Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit vor den anstehenden Wahlen zu verkaufen. Als sich im Dezember 2023 nach entschiedener Fürsprache der anderen Ressorts auch das BMI auf die Forderungen der südafrikanischen Regierung einlässt, ist der Weg frei, um die konkreten Inhalte festzulegen.
Das Abkommen
Herzstück des öffentlichkeitswirksam »Together We Care« benannten Abkommens ist der Aufbau von zehn zweigliedrigen Pflegeschulen in Südafrika, den Deutschland mitfinanziert. Sie sollen sowohl für den heimischen als auch für den deutschen Markt ausbilden. Das schließt ein, Absolventen und Absolventinnen in geeignete Arbeitsverhältnisse in Deutschland zu vermitteln, und zwar mindestens 17 500 aus den ersten fünf Jahrgängen. Um dem akuten deutschen Bedarf an Pflegekräften Rechnung zu tragen, sollen zudem 2 500 Südafrikanerinnen und Südafrikaner, die bereits die Grundlagen einer Pflegeausbildung absolviert haben, nach Deutschland entsendet werden und am jeweiligen Einsatzort berufsbegleitend fortgebildet werden.
Jenseits des Gesundheitssektors enthält die Vereinbarung umfangreiche Zusagen der deutschen Regierung, duale Ausbildungsprogramme zu fördern und auf diese Weise den Ausbau südafrikanischer Kapazitäten in verarbeitender Industrie und Landwirtschaft zu unterstützen. Überdies hat die Bundesregierung Visaerleichterungen für Geschäftsreisen und Studienaustauschprogramme zugesichert.
Strittig ist zunächst noch, ob es sich bei den Entsendungen von Pflegekräften von Beginn an um befristete Arbeitsaufenthalte mit Rückkehrpflicht handeln sollte oder ob auf freiwillige Rückkehr der Arbeitsmigrantinnen und -migranten gesetzt wird. Schließlich einigt man sich auf einen mobilitätsorientierten Ansatz, wonach die Entscheidung den Migrantinnen und Migranten selbst überlassen wird. Somit könnte zirkuläre Migration gefördert werden, falls die Migrantinnen und Migranten dies wünschen. Um diesen Mobilitätsansatz und die Wahlfreiheit abzusichern, verlangt die südafrikanische Regierung von der Bundesregierung ein »Mobilitätsförderungspaket«. Es solle finanzielle und praktische Unterstützung von Rückkehrern nach Südafrika umfassen, ihnen gleichzeitig aber auch die Option einer Re-Migration nach Deutschland samt Arbeitserlaubnis eröffnen. Auch diese Forderung akzeptiert die Bundesregierung. Daraufhin titelt der südafrikanische Mail and Guardian: »Germany and South Africa finally seeing eye to eye.« Einer Unterzeichnung des Abkommens steht nichts mehr im Weg.
Blick in die Zukunft: Afrikanischer Kontext
Nach Abschluss der Verhandlungen drängt die deutsche Seite darauf, die Vereinbarungen zur Entsendung von Pflegekräften rasch umzusetzen. Ungeachtet warnender Stimmen aus dem BMZ wird auf eine Pilotphase verzichtet. Alle zehn Pflegeschulen werden gleichzeitig aufgebaut, und schon im März 2024 sollen die ersten der insgesamt 2 500 »Direktentsendungen« nach Deutschland stattfinden.
Dieser ambitionierte Zeitplan gibt Anlass zur Sorge. Die Zusammenarbeit bietet nicht nur Vorteile, sondern birgt auch Probleme für das südafrikanische Gesundheitssystem, das durch eine scharfe Zweiteilung zwischen öffentlicher und privater Versorgung gekennzeichnet ist. Zwar hat Südafrika seit Beginn der Corona-Pandemie erhebliche Anstrengungen unternommen, das öffentliche Gesundheitssystem zu stärken und die Korruption darin einzudämmen. Dennoch sind die Anreize, dort zu arbeiten, weiterhin schwach. Tatsächlich kommt das Gros der Bewerbungen für die Direktentsendungen nach Deutschland aus dem
schlecht bezahlten öffentlichen Sektor. Dessen ohnehin begrenzte Personalressourcen werden dadurch weiter reduziert. Vor allem im ländlichen Raum – in den Provinzen Eastern Cape, Mpumalanga und Limpopo – herrscht ein eklatanter Mangel an Pflegepersonal. Die Kritik aus der entwicklungspolitischen Community lässt nicht lange auf sich warten. Daher sieht sich das BMZ gezwungen, flankierend zum »Together We Care«-Abkommen neue Programme zur Stärkung des südafrikanischen Gesundheitssystems aufzulegen. Sie sollen in erster Linie der ländlichen Gesundheitsversorgung zugutekommen und darüber hinaus medizintechnische Kooperationen deutscher und südafrikanischer Unternehmen fördern.
Gleichzeitig hat die Ausbildungspartnerschaft unmittelbare Konsequenzen für das Nachbarland Simbabwe, das noch immer von Emmerson Mnangagwa und der ZANU-PF regiert wird. Nachdem das Land im Jahr 2020 in eine dramatische Wirtschafts- und Ernährungskrise gerutscht war und sich zudem die Repressionen der Regierung gegen die Bevölkerung weiter verschärft hatten, sind weitere Simbabwer nach Südafrika ausgewandert. Die desolaten Zustände im simbabwischen Gesundheitssystem wurden durch die Ausbreitung der Pandemie im ländlichen Raum – welche die Regierung zu verschleiern versuchte – erst in den Folgejahren 2021 und 2022 richtig sichtbar. Kaum jemand aus Simbabwe möchte in das krisengeschädigte Land zurückkehren.
Ein großer Teil des simbabwischen Gesundheitspersonals befindet sich bereits seit Ende 2020 im Exil in Südafrika. Grund ist, dass die Regierung auf die Streiks und Proteste der Ärzte und Krankenschwestern in Simbabwe im Juni und Juli 2020 mit immer härterer Hand reagierte. Wer konnte, verließ das Land. Deswegen ist das Gesundheitssystem inzwischen derart ausgedünnt, dass sich der Zugang zu medizinischer Versorgung noch weiter verschlechtert hat.
Die Einigung auf das »Together We Care«-Abkommen hat noch zusätzliche Auswirkungen auf Simbabwe. Bis Deutschland und Südafrika sich darauf verständigten, war es für die südafrikanische Regierung schwierig gewesen, das qualifizierte simbabwische Gesundheitspersonal zu beschäftigen. Doch durch die Partnerschaft werden zusätzliche Stellen in Südafrika frei. Dies hat zur Folge, dass noch mehr Beschäftigte aus dem Gesundheitsbereich in Simbabwe versuchen, nach Südafrika zu kommen. Für Südafrika hat das Vorteile, weil auf diese Weise ein Teil der nach Deutschland abwandernden Fachkompetenz ersetzt wird. Gleichzeitig wird das BMZ dafür kritisiert, negative Folgeeffekte für die Region nicht mitbedacht zu haben. Nun sieht es sich mit Forderungen konfrontiert, das Gesundheitssystem Simbabwes zu stärken und die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit dem Land wiederaufzunehmen.
Blick in die Zukunft: Europäische Kooperation
Für die deutsche Regierung stellt die Übereinkunft mit Südafrika einen hart errungenen Verhandlungserfolg dar, den sie öffentlichkeitswirksam zu präsentieren weiß. Die mit dem Thema befassten Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Ministerien wissen aber, dass das deutsch-südafrikanische Abkommen nur ein erster Schritt auf dem langen Weg zur Behebung des Fachkräftemangels im Pflegesektor sein kann. Inzwischen haben viele wohlhabende Staaten ihre Anwerbebemühungen auf dem afrikanischen Kontinent sowie in Südostasien weiter intensiviert. In etlichen potentiellen Partnerländern, in denen Deutschland mit seinen direkten europäischen Nachbarn konkurriert, setzt sich schließlich China durch. Angesichts der offensichtlichen Nachteile dieser EU-internen Konkurrenzsituation legt die EU-Kommission im Herbst 2025 einen Vorschlag für eine europäische Anwerbestrategie vor. Er beruht auf der Annahme, dass die Bündelung der Verhandlungsmacht aller EU-Mitgliedstaaten bei der Fachkräfterekrutierung genauso sinnvoll ist wie in anderen Politikfeldern. Dies bringt neue Dynamik in die Diskussion über eine gemeinsame europäische Arbeitsmigrationspolitik, die nach Ansicht der EU-Kommission künftig stärker auf Wirtschaftssektoren und deren Bedarfe als auf individuelle Qualifikationen von Arbeitskräften ausgerichtet sein soll.
Dr. Steffen Angenendt ist Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Dr. Anne Koch ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Dr. Melanie Müller ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
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doi: 10.18449/2020A87