Unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine haben in Prag die EU-27 und 17 weitere europäische Staaten die Europäische Politische Gemeinschaft gegründet. Das neue Gipfelformat ermöglicht den gleichberechtigten Austausch über Themen, die ganz Europa betreffen. Sein Erfolg hängt aber von der EU ab, meint Barbara Lippert.
Auf Einladung des tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala, dessen Land aktuell den EU-Ratsvorsitz innehat, und des Präsidenten des Europäischen Rats, Charles Michel, versammelten sich in Prag 44 Staaten, um die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) zu gründen. Das größere Europa stellte sich auf der Prager Burg in vielen einzelnen Statements gegen Russland, das einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und die Grundsätze der Helsinki-Schlussakte brutal verletzt. Freilich verlautbarten die Staats- und Regierungschefs diese Position nicht in einem gemeinsamen Kommuniqué oder einer EPG-Gründungsurkunde. Die Botschaft von Prag war das Treffen selbst: Kleine und große Länder von Island bis zum Südkaukasus diskutieren gleichberechtigt und freimütig über die Sicherheit, Stabilität und das Wohlergehen Europas. Es wird von der EU abhängen, ob sich die EPG über den gelungenen Auftakt in Prag hinaus zu einer relevanten Veranstaltung für Gesamteuropa entwickeln kann.
Selbst wer den Pitch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für eine EPG, eingebettet in seine Rede am 9. Mai 2022, für eine unausgegorene oder gar perfide Idee gehalten hatte, sah ein, dass der Vorschlag doch auf einiges Interesse bei den 17 Nicht-EU-Ländern stieß. Denn schnell war nicht mehr die Rede davon, eine neue Organisation unter EU-Führung zu schaffen. Befürchtungen, die EPG werde als Ersatz oder Alternative zur EU-Mitgliedschaft lanciert, sind fürs erste entkräftet. Ebenso die Sorge, dass die paneuropäischen Institutionen OSZE und Europarat durch die EPG dupliziert würden.
Die EPG ist zunächst als bloße Serie von Gipfeltreffen konzipiert, als eine Plattform für den politischen Dialog zwischen europäischen Staats- und Regierungschefs in Zeiten geopolitischer Umbrüche. Es geht um intergouvernementalen Austausch, Koordination und Kooperation. Dementsprechend wurden in Prag auch keine Beschlüsse gefasst. Denn die Delegationen hätten vor und auf dem Gipfel viel Zeit und Energie darauf verwenden müssen, eine gemeinsame – gegebenenfalls recht dünne – Erklärung zu formulieren. Zudem ist offensichtlich, dass nicht alle 44 teilnehmenden Länder als Demokratien gelten können, in denen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sind. Jedoch hatte der tschechische Ministerpräsident Fiala als Gastgeber für das normative Framing der Auftaktveranstaltung gesorgt und in seiner Eröffnungsrede auf das Motto seines Landes zurückgegriffen: Pravda vítězí (Wahrheit wird obsiegen). Damit war der Ton gesetzt, vereint gegen Moskau und für die Unterstützung der Ukraine aufzutreten. Außer Russland war auch Belarus nicht eingeladen worden.
Im Eröffnungsplenum sprachen fünf Regierungschefs, die aus einem heutigen oder ehemaligen Mitgliedsland kommen (Tschechien und Großbritannien), zu den Beitrittsaspiranten zählen (Albanien und Ukraine) oder dem EWR und der EFTA angehören (Norwegen). Die Themen der Gesprächstische zu Frieden und Sicherheit sowie Klimawandel und Energie, Wirtschaft und Migration dürften recht gut die Agenda der nächsten EPG-Treffen umreißen, die abwechselnd in EU- und Nicht-EU-Ländern stattfinden sollen. Im Programm waren zudem freie Stunden reserviert, die in der Regie der Staats- und Regierungschefs lagen und für individuelle bilaterale Treffen und Gesprächsrunden genutzt wurden. So brachten die Präsidenten Macron und Michel die beiden Führer der verfeindeten Nachbarn Armenien und Aserbaidschan zusammen. Von solchen informellen Runden können diplomatische Impulse für Konfliktlösungen zwischen Staaten ausgehen, aber es können auch Streitigkeiten gesucht und akzentuiert werden. Die Tische für das Abendessen waren zwar nach Orchesterinstrumenten benannt, aber das Treffen in Prag war kein Konzert der Mächte, das die brennenden Fragen von Krieg und Frieden lösen wird.
Trotz des gelungenen Gründungstreffens blieb in Prag die Frage offen, was die EPG substanziell beitragen kann, um die Herausforderungen für Europa anzugehen. Die EPG kann nur in enger Verbindung mit der EU einen Mehrwert entfalten. Die EU ist – bei allen Defiziten – das politische und wirtschaftliche Gravitationszentrum im größeren Europa. Für Themen wie den Schutz kritischer Infrastruktur, Wiederaufbaufonds für die Ukraine oder Migration, die Macron auf seiner abschließenden Pressekonferenz hervorhob, ist die EU auch für Drittstaaten die erste Adresse, sobald es an die Umsetzung von Vorhaben geht. Nur sie verfügt über die administrative Infrastruktur und die Ressourcen, um eine sektorale Kooperation und Koordination nachhaltig voranzutreiben. So suchten viele Staats- und Regierungschefs aus Nicht-EU-Ländern das Gespräch mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sich in Prag wieselflink durch ihre Reihen bewegte. Die EU kann für die Vorbereitung und das Follow-up von auf EPG-Treffen platzierten Initiativen und Projekten ihre etablierten bi- und multilateralen Assoziierungs- und Kooperationsrahmen nutzen, die sie mit Drittstaaten in unterschiedlicher Qualität unterhält. Davon haben zehn Länder eine explizite Beitrittsperspektive. Auf den EPG-Gipfel folgte anderntags die informelle Zusammenkunft des Europäischen Rats mit ähnlicher Agenda. In zwei Wochen können die EU-Staats- und -Regierungschefs auf einer förmlichen Sitzung in Brüssel dazu verbindliche Beschlüsse fassen. Auch wegen dieser Akteursqualität ist die EU der Stützpfeiler der EPG.
Was aus der EPG zwischen Gesprächsclub und Handlungsgemeinschaft werden und wie viel politisches Kapital die Mitglieder in das Experiment investieren sollen, ist unter den EU-Staaten und -Institutionen weiterhin umstritten. Die EPG kann, muss aber kein Schritt sein zu einem Europa konzentrischer Kreise, die sich als Räume abgestufter Kooperation und Integration um die EU herumgruppieren. Das würde von Brüssel den Erweiterungsdruck nehmen, wie es Macron und wohl auch andere in der EU gerne sehen würden. Das nächste EPG-Treffen soll 2023 in der moldawischen Hauptstadt Chişinău stattfinden. Wie dann wohl Europa aussehen wird?
Kurz bevor die Europäische Kommission ihre ersten Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen der Ukraine, Georgiens und Moldaus vorlegt, bringt Präsident Emmanuel Macron eine zusätzliche Integrationsperspektive ins Spiel. Es wäre gut, wenn die Idee politisch zünden würde, meint Barbara Lippert.