Bei der Auseinandersetzung mit China geht es nicht nur darum, in Politik, Wirtschaft oder Technologie Antworten auf drängende Probleme zu finden. Vielmehr muss ein System europäischer Chinakompetenz aufgebaut werden, das langfristige Handlungsfähigkeit sichert. Entscheidend ist, diese Aufgabe an der Schnittstelle von Außen- und Bildungspolitik zu verorten. Die Bildung von Chinakompetenz – und Chinakompetenz durch Bildung – sollte daher Teil der europäischen Chinastrategie sein.
Schon vor der Covid-19-Pandemie hat sich in Deutschland und Europa die Haltung gegenüber der chinesischen Regierung unter Xi Jinping stark verändert. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür ist der Strategic Outlook der EU-Kommission vom 12. März 2019. Darin wird China zum einen nicht mehr als Entwicklungsland, sondern als globaler Schlüsselakteur sowie führende technologische Macht bezeichnet. Zum anderen betont die EU-Kommission, dass China zwar Kooperations- und Verhandlungspartner sowie wirtschaftlicher Wettbewerber ist, aber zugleich systemischer Rivale, vor allem aufgrund seines Regierungsmodells.
Im Verlauf der Covid-19-Pandemie hat sich diese kritische Haltung in Politik, Presse und Think-Tank-Community deutlich verstärkt. Verbunden ist sie mit wachsendem Zweifel an Pekings politischer Glaubwürdigkeit. Dieser nährt sich nicht nur aus der Entscheidung des Nationalen Volkskongresses (NVK) über das Nationale Sicherheitsgesetz für Hongkong Ende Mai 2020, sondern aus einer ganzen Reihe politischer Ereignisse. Besonders vernehmlich ist die Kritik am Vorgehen der chinesischen Behörden zu Beginn der Pandemie in Wuhan.
Einerseits steigt die wirtschaftliche Bedeutung Chinas für Deutschland und Europa. Andererseits wächst aber auch die Unsicherheit gegenüber den globalen Aktivitäten chinesischer Akteure sowie den immer komplexeren thematischen Zusammenhängen im Umgang mit China. Die Kombination aus beidem offenbarte schon seit Längerem, dass mehr Chinakompetenz unerlässlich ist. Die Bundesregierung reagierte auf diese Erkenntnis bereits mit der (inzwischen ausgelaufenen) »China-Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) 2015–2020«. Die darin entwickelten Maßnahmen betreffen aber vor allem Wissenschaft und Forschung. Zwar sind im Rahmen einer Fördermaßnahme seit 2016 elf interessante interdisziplinäre Projekte an deutschen Hochschulen entstanden. Doch die Frage bleibt, inwieweit diese Förderlinien ausreichen, um »eine breitere China-Kompetenz in Deutschland« aufzubauen.
Schnittstelle Außen- und Bildungspolitik
Bildungs- und Außenpolitik sind natürliche Bündnispartner beim Aufbau von Chinakompetenz. Daher ist es nicht sinnvoll, sie in diesem Kontext getrennt voneinander zu betrachten. Allerdings ist die föderale Struktur des Bildungswesens in Deutschland bei der Förderung von Chinakompetenz immer mitzuberücksichtigen, denn maßgeblich für die Umsetzung sind die Bildungs- oder Kultusministerien der Länder. Erste vielversprechende Ansätze einer Kooperation gibt es bereits. So entstand 2017 eine gemeinsame Initiative von BMBF, Auswärtigem Amt und Kultusministerkonferenz. Sie unterstützte die Studie »China kennen, China können« (2018), eine erste, umfassende Bestandsaufnahme von Chinakompetenz in Deutschland. Die Studie hatte nicht nur Wissenschaft und Forschung zum Gegenstand, sondern schwerpunktmäßig auch die Situation in der Schulbildung. Diese ist für einen strategischen Ansatz mindestens so wichtig wie die tertiäre Bildung. Mit der genannten Initiative verbunden war die »Arbeitsgruppe Chinakompetenz in Schule und Ausbildung«. Anhand der Erkenntnisse aus der Studie erarbeitete sie Empfehlungen für die Umsetzung in allgemein- und berufsbildenden Schulen. Ende 2019 gründete ein zivilgesellschaftlicher Akteur, die Stiftung Mercator, mit Unterstützung der Initiativpartner ein Bildungsnetzwerk zur Förderung der Chinakompetenz im Schulbereich. Arbeitsfelder sind Chinesischunterricht, China als Thema im Fachunterricht und Schüleraustausch.
Die Frage ist nun, wie es weitergehen kann und ob die Bemühungen für mehr Chinakompetenz nicht viel strategischer und vor allem transnational angelegt werden müssten. Ein tiefergehendes Verständnis von China erfordert noch mehr direkte wie indirekte Auseinandersetzung mit dem Land. Nur dann ist es möglich, effektive Instrumente und eine auf Gegenseitigkeit beruhende, selbstbewusste Haltung zu entwickeln. Die Grundlagen für die Förderung von Chinakompetenz müssen nicht nur an Hochschulen und in Exzellenzclustern, sondern in der gesamten Gesellschaft geschaffen und im nationalen, besonders aber im europäischen Bildungssektor verankert werden. Ohne intensiven, europaweiten Aufbau von Chinakompetenz über alle Ressorts hinweg kann es nicht gelingen, die Beziehungen mit China als Partner, Wettbewerber und Rivale in Deutschland und vor allem in Europa langfristig auszudifferenzieren.
Handlungsmöglichkeiten durch Chinakompetenz
Chinakompetenz in der Politik hat andere Schwerpunkte als in wirtschaftlichen oder technologischen Kontexten. Alle Varianten basieren aber im Idealfall auf guter Sprachbeherrschung, fundiertem Wissen und Fachkenntnissen in Bezug auf China sowie der Fähigkeit zur interkulturellen Kommunikation.
Erstens steht Chinakompetenz für die Fähigkeit, Chinawissen auf unterschiedlichste Zusammenhänge anzuwenden und spezifische Probleme in den weiteren Kontext der Chinapolitik einzuordnen. Beispielsweise bleiben Erfahrungen im Wirtschaftsbereich mit China meist sektorspezifisch und sind daher gerade nicht auf andere Bereiche übertragbar. Zweitens ist interkulturelle Kompetenz eine notwendige Bedingung für Dialogfähigkeit, besonders unter den Bedingungen eines Systemwettbewerbs. Sie ist nicht gleichzusetzen mit der Beherrschung einer Trickkiste oder Businessetikette, sondern beinhaltet vor allem die Fähigkeit, im Wissen über die Unterschiedlichkeit der Systeme den Deutungshorizont neu zu konstituieren. Ein detailgenauer Blick etwa auf die komplexe politische Funktionsweise von Staats- und Parteiapparat schützt sowohl vor der Beeinflussung durch propagandistische Inszenierungen als auch vor dem allzu schlichten Freund-Feind-Schema »unverdorbener« chinesischer Bevölkerung auf der einen und »durchtriebener« Parteifunktionäre auf der anderen Seite. Dies hilft, eine nüchterne Haltung zu entwickeln und Lösungen zu finden, die der Komplexität des deutsch-chinesischen und europäisch-chinesischen Verhältnisses gerecht werden und dem wachsenden Misstrauen entgegenwirken können.
Drittens muss Chinakompetenz in der Schulbildung ansetzen. Studium und Berufsausbildung sowie begleitete Aufenthalte im Land können fundierte Chinakompetenz schaffen. Diese Ansätze sind wertvoll, tragen allerdings kaum dazu bei, Chinaexpertise auf breiter Basis in der Gesellschaft zu verankern. Die Zahl der Studienanfänger in chinawissenschaftlichen Studiengängen geht seit Jahren zurück und lag 2016/17 in Deutschland bei etwa 500, obwohl es immer mehr Angebote gegenwartsorientierter Chinaforschung gibt. Ähnlich ist die Entwicklung zum Beispiel in Großbritannien. In der Berufsbildung in Deutschland existieren zurzeit keine chinabezogenen Zusatzqualifikationen, deren Sprachausbildung über ein Niveau elementarer Sprachverwendung hinausgeht.
Schulbildung als Grundpfeiler der Chinakompetenz
Der Aufbau von Chinakompetenz muss daher früher in der Lernbiografie verankert werden. Hierfür bietet sich der Sekundarbereich der Schulbildung an. Interkulturelle Handlungskompetenz ist das Leitziel des schulischen Chinesischunterrichts. Er ist in den letzten Jahren strukturell, wenn auch nicht zahlenmäßig erheblich ausgebaut worden. Hier werden genau die Fähigkeiten vermittelt, die in Deutschland und Europa auf einer viel breiteren gesellschaftlichen Basis benötigt werden: Sprachkenntnisse (bei entsprechender Unterrichtsdauer bis zu einem Niveau selbständiger Sprachverwendung) und substantielles soziokulturelles Orientierungswissen über China. Allerdings bleibt die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die am schulischen Chinesischunterricht teilnehmen, seit Jahren niedrig – sie liegt bei ungefähr 5 000. Dagegen lernen rund 7 Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen die Weltverkehrssprache Englisch, 1,4 Millionen Französisch und immerhin 464 000 Spanisch. Kaum genutzt wird bislang auch das Potential des Fachunterrichts, den etwa 5,3 Millionen Sekundarschülern in Deutschland beispielsweise in den Fächern Politik, Erdkunde, Wirtschaft oder Geschichte etwas über China beizubringen.
Nicht zuletzt muss Chinakompetenz im Schulbereich finanziell und ideologisch unabhängig vom chinesischen Staat aufgebaut werden. Zwar sollten sprachliche und kulturelle Angebote von chinesischer Seite im Sinne einer Kulturaußenpolitik, wie sie auch Deutschland und viele andere Länder betreiben, als Ergänzung willkommen sein. Die »Grundausbildung« sollte jedoch in nationaler Verantwortung geschehen. Nicht nur das: In Solidarität mit den EU-Mitgliedstaaten sollte diese Grundausstattung auf europäischer Ebene verwirklicht und finanziert werden, beispielsweise durch den Aufbau eines »Europäischen Bildungsfonds Chinesisch«. Europäische Robustheit entsteht auch in dieser Hinsicht nicht (nur) in Deutschland, sondern vor allem durch Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Finanziell schwächer gestellte Staaten Europas können nämlich oft nicht einmal im Hochschulbereich Lehrstühle der Sinologie oder Sprachunterricht anbieten, geschweige denn Chinesischunterricht in den Schulen.
Auch wenn eine vollständige Bestandsaufnahme der vorhandenen Chinakompetenz in Europa bislang nicht vorliegt, gibt es wohl zurzeit kein einziges europäisches Land, das in eigener staatlicher Verantwortung adäquate Bildungsangebote in Bezug auf China bereitstellen kann. Mittelfristig beeinträchtigt dieser Mangel die autonome Handlungsfähigkeit Europas im Hinblick auf China.
Eine europäische Bildungsinitiative für Chinakompetenz
Letztlich reicht es in dieser Frage also nicht, den Blick einzig auf Deutschland zu richten. »China« ist schon längst in Europa angekommen und tritt zunehmend bestimmender und selbstbewusster auf. Deshalb ist Europa auf der Suche nach einer gemeinsamen Haltung und einer »robusteren europäischen Strategie«, wie der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell kürzlich betonte. Förderung von Chinakompetenz ist folglich eine Herausforderung nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa – sei es in wirtschaftlichen oder politischen Verhandlungen, Diplomatie und Informationsgewinnung oder um Propaganda und Desinformation begegnen zu können. Selbst in den USA wird gegenwärtig über den Mangel an Chinakompetenz diskutiert und über die Gefahren, die daraus entstehen können.
Ohne den Aufbau eines zukunftsfähigen europaweiten Chinakompetenzsystems und intensive Werbung dafür fehlt es auf absehbare Zeit an Expertise über China. Eine europäische Bildungsinitiative für Chinakompetenz als Teil der europäischen Chinastrategie kann und sollte allerdings nicht bei Normen und bindenden Strukturen ansetzen, denn die Bildungspolitik ist Domäne der einzelnen Mitgliedstaaten. Die EU besitzt jedoch bereits eine breit angelegte Bildungsplattform mit Elementen, auf denen eine Chinakompetenz-Initiative aufsetzen könnte, zum Beispiel die EU-Politik der Mehrsprachigkeit. Auch gern genutzte Angebote wie Erasmus+ schränken die Souveränität der einzelnen Länder nicht ein.
Ein erstes Teilpaket sollte die Aktionsfelder Information, Vernetzung von Akteuren und Austausch über die Chinabildung in Europa mit Beispielen guter Praxis enthalten. Die lange überfällige Bestandsaufnahme zur schulischen und universitären Sprachvermittlung von Chinesisch in ganz Europa sollte Teil dieser Komponente sein. Eine von der EU-Kommission geförderte Projektgruppe von Sprachexperten aus verschiedenen europäischen Ländern hat sich schon vor Jahren mit dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen und seiner Anwendbarkeit auf die chinesische Sprache beschäftigt. Ein ähnliches Projekt könnte der Vernetzung und dem Informationsaustausch über den Chinesischunterricht auf europäischer Ebene dienen und tragfähige Strukturen dafür erarbeiten.
Inhalt eines zweiten Teilpakets sollte sein, konkrete Bildungsangebote in Bezug auf Unterrichtsentwicklung und Begegnungsformate zu konzipieren, zu realisieren und zu evaluieren. Denkbar sind zum Beispiel Kooperationen, in denen gemischte europäische Gruppen nach China fahren und sich im Gegenzug in einzelnen europäischen Ländern mit chinesischen Schülern oder Studierenden treffen. Dieses Modell funktioniert ähnlich schon bei Anbietern von Individualaustauschen, könnte aber als Teil eines integrierten EU-Vorhabens noch wesentlich ausgebaut werden. Beide Pakete zusammen können eine europäische Bildungsinitiative für Chinakompetenz begründen und gleichermaßen dazu beitragen, die Kohäsion der EU zu festigen sowie die europäische Autonomie in der Auseinandersetzung mit China zu stärken.
Andrea Frenzel ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Asien.
Dr. Nadine Godehardt ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Asien.
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doi: 10.18449/2020A59