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Europa und das Ende der Pax Americana

Die transatlantischen Beziehungen benötigen unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen eine neue Grundlage

SWP-Aktuell 2024/A 47, 11.09.2024, 8 Pages

doi:10.18449/2024A47

Research Areas

Die Idee, dass US-amerikanische Macht internationale Sicherheit schafft, ist in der politischen Elite der USA bis heute tief verankert. Sie liegt letztendlich auch den von den USA geführten Bündnissen, einschließlich der Nato, zugrunde. Doch tatsächlich erodieren die drei Säulen der Pax Americana – die militärische Dominanz der Ver­einigten Staaten, ihre wirtschaftliche Offenheit sowie die liberal-demokratischen Grundlagen der amerikanischen Außenpolitik – schon seit längerem. Der Ausgang der US-Wahlen am 5. November 2024 kann diese Trends beschleunigen oder ver­zögern, nicht jedoch grundsätzlich umkehren. Vor diesem Hintergrund muss es für Deutschland und die anderen Bündnispartner nach den Wahlen darum gehen, die transatlantischen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Das gilt auch dann, wenn Kamala Harris gegen Donald Trump siegen sollte.

Selbst für Donald Trump und die nach seinen Vorstellungen neu positionierte Repu­blikanische Partei leisten die USA mittels ihrer militärischen und wirtschaft­lichen Macht einen Beitrag zur internationalen Sicherheit. Dieses Selbstverständnis spiegelt sich in dem (von Ronald Reagan entliehenen) außenpolitischen Slogan wider, der sich im neuen und von Trump abgesegneten Wahlprogramm der Repu­blikaner wiederfindet. Er lautet »Frieden durch Stärke«.

Für die liberalen Internationalisten in den USA und für die Bündnispartner Amerikas in Europa und Asien war die Idee der Pax Americana allerdings stets voraus­setzungsreicher. Demnach ist es die spezi­fische Art der Ausübung amerikanischer Macht, die internationale Sicherheit schafft, nämlich nicht nur gestützt auf militäri­sches Potential, sondern eingebettet in Allianzstrukturen und internationale Organisationen, flankiert von wirtschaftlicher Offen­heit und begründet auf liberal-demokrati­schen Werten.

Der Wiedereinzug Donald Trumps ins Weiße Haus würde diese drei Säulen der Pax Americana möglicherweise endgültig zum Einsturz bringen. Kamala Harris ver­ortet sich weitgehend im Internationalismus von Amtsinhaber Joe Biden und unter­stützt wie dieser Amerikas Bündnissysteme. Doch auch unter ihrer Präsidentschaft wären grundlegende Veränderungen der US-Weltmachtpolitik wohl unvermeidbar. Denn die große politische und mediale Aufmerksamkeit für die bevorstehenden Wahlen verdeckt mitunter den Blick auf die langfristigen Trends in der amerikanischen Innen- und Außenpolitik. So hat die Glaub­würdigkeit der Rückversicherung und Ab­schreckung im Rahmen der US-geführten Bündnisse in den letzten Jahren und Jahr­zehnten stetig abgenommen; die USA haben sich ebenso wie andere große Wirtschafts­mächte vom Paradigma ökonomischer Offenheit abgewendet; liberal-demokrati­sche Werte stehen nicht nur in den Ver­einigten Staaten und vielen anderen west­lichen Ländern unter Druck, sie werden von autoritären Großmächten wie China und Russland auch immer offener bekämpft.

Glaubwürdigkeitsverlust der amerikanischen Militärbündnisse

Die Militärmacht der USA hat über Jahr­zehnte die Sicherheit ihrer Verbündeten und Partner in Europa, Asien und im Nahen Osten gewährleistet. In der Mehrzahl handelt es sich dabei heute um liberale Demokratien. Mit Amerika alliierte Staaten muss­ten weniger Furcht vor ihren Nachbarn haben und dementsprechend weniger stark aufrüsten, als es ohne die Beistandspakte der Fall wäre. Unter dem Schutzschirm der USA konnten »ver­feindete Ver­bündete« wie Griechenland und die Türkei, Südkorea und Japan oder zuletzt Israel und Saudi-Arabien ihre Beziehungen entspannen. Nach dem Ende des Kalten Krieges konnten die Antagonisten der Pax Americana – zuvorderst China, Russ­land, Nord­korea und Iran –lange Zeit von dem Ver­such abgeschreckt werden, die bestehenden Sicherheitsordnungen mit militärischen Mitteln zu unterminieren.

Doch in den letzten 25 Jahren hat die Glaubwürdigkeit US-amerikanischer Rück­versicherung und Abschreckung sichtbar abgenommen – ein Trend, der sich aller Voraussicht nach fortsetzen wird. Noch Mitte der 1990er Jahre reichte es Washington, einige Kriegsschiffe in die Taiwan-Straße zu entsenden, um Peking ein­zuschüchtern. Russland hätte sich Anfang der 2000er Jahre wohl nicht getraut, die Ukraine zu überfallen. Im April dieses Jah­res griff Iran trotz amerikanischer Warnungen Israel erstmals direkt mit Raketen und Drohnen an.

Eine wesentliche strukturelle Ursache für den Glaubwürdigkeitsverlust amerikanischer Sicherheitszusagen liegt in der Ver­schiebung der militärischen Kräfteverhältnisse. Diese vollzieht sich jedoch in Europa, im Indo-Pazifik und im Nahen Osten auf unterschiedliche Art und Weise. Auf den ersten Blick sind die USA weiterhin die dominante Militärmacht der Welt. Nach den Berechnungen des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) gaben die USA 2023 noch immer mehr Geld für ihre Streitkräfte aus als die 15 nächstgrößeren Militärmächte zusammengenom­men. Demnach hatte der amerikanische Verteidigungshaushalt ein Volumen von 905,5 Milliarden US-Dollar, deutlich mehr als die Summe der entsprechenden Etats Russlands (108,5 Mrd. US-Dollar) und Chinas (219,5 Mrd. US-Dollar).

Diese Zahlen müssen jedoch im Kontext gesehen werden. So sind die Militär­ausgaben Russlands und Chinas IISS-Schätzungen zufolge wesentlich größer, wenn man die jeweilige Kaufkraft berücksichtigt (295 Mrd. US-Dollar für Russland und 408 Mrd. US-Dollar für China). Außerdem unterhalten die USA, anders als Russland und China, weltweit Bündnisse und Partnerschaften. Das ist aus amerikanischer Sicht zwar ein großer strategischer Vorteil; die damit verbundene globale Militärpräsenz kostet jedoch auch viel Geld. Auch geografische Distanzen spielen eine wichtige Rolle. Vor allem aber haben die Gegner der Pax Americana effektive Strategien ent­wickelt, um die militärische Macht der USA zu konterkarieren.

Im indo-pazifischen Raum setzt China seit längerem darauf, den operativen Hand­lungsspielraum der USA einzuengen. So hat die Volksrepublik in den letzten Jahren massiv den Auf- und Ausbau ihres Arsenals an land- und seegestützten Raketen und Marschflugkörpern vorangetrieben. Diese Waffen bedrohen amerikanische Basen und Kriegsschiffe gleichermaßen. Zugleich ver­sucht Peking jedoch zunehmend auch, den USA im Bereich ihrer traditionellen mili­tärischen Stärken Paroli zu bieten und diese damit teilweise zu neutralisieren. China in­vestiert in den Aufbau seiner U-Boot-Flotte, beschafft sich Flugzeugträger und getarnte Langstreckenbomber. Zudem baut es kon­sequent sein Atomwaffenarsenal aus, wenn­gleich es noch weit von nuklearer Parität mit den USA entfernt ist. Doch China ist nicht die einzige sicherheitspolitische Bedrohung für die USA. Nordkorea testete 2017 erstmals erfolgreich eine Interkontinentalrakete, mit der es das amerikanische Kernland atomar bedrohen kann.

Auch Russland betreibt seit längerem die Aufrüstung und Modernisierung seines Militärs, auch wenn der Angriffskrieg gegen die Ukraine zunächst dessen Schwächen offenbart hat. Moskau setzt im Kräfteringen mit den USA bzw. dem Westen nicht nur auf das Drohpotential seiner Atomstreitmacht. Als entscheidender Vorteil Russlands erweist sich zunehmend die Fähigkeit seines autoritären Systems, im Krisen- und Kriegsfall die eigene Gesellschaft und Wirt­schaft umfassend für die militärischen Bedürfnisse mobilisieren zu können.

Im Nahen Osten hat Iran als der wichtigste Gegenspieler der USA ebenfalls über die Jahre hinweg sein Arsenal an ballistischen Raketen und Drohnen ausgebaut. Heute steht das Land zudem an der Schwelle, ein Atomwaffenstaat zu werden. Maßgeb­licher Eckpfeiler der von Teheran ausgehen­den Bedrohung ist zudem ein Netzwerk aus befreundeten Milizen und Terrorgruppen. Die Größe und Qualität der militärischen Ausstattung und der Einfluss dieser Ak­teure, die in vielen Ländern des Nahen Ostens aktiv sind, hat in den letzten Jahren stark zugenommen.

Der relative Rückgang der militärischen Macht der USA bedeutet auch, dass die Gewährleistung von Sicherheit gegenüber den Verbündeten und Partnern aus ameri­ka­nischer Sicht immer riskanter und kost­spieliger wird. Das wiederum hat Einfluss auf die ohnehin stark polarisierte politische Lage innerhalb der USA. Die sicherheits­politischen Ansätze Donald Trumps wie auch der Republikanischen Partei schwanken bislang zwischen »Frieden durch Stärke« und Isolationismus. Als US-Präsi­dent würde Trump das US-Militär voraussichtlich stär­ken wollen, auf dass Amerika in der Welt »wieder respektiert werde«. Zugleich würde die Bereitschaft der USA unter einer Trump-II-Administration weiter abnehmen, ihre Militärmacht durch multilaterale Bündnisinstitutionen einhegen zu lassen.

Dagegen steht Kamala Harris als Vize­präsidentin von Joe Biden für enge Allianz­beziehungen in Europa und Asien sowie mit Israel. Aber auch ihr sicherheits- und verteidigungspolitischer Spielraum wäre durch die machtpolitischen Realitäten in den unterschiedlichen Weltregionen und durch innenpolitische Spaltungstendenzen eingeschränkt. Angesichts eines historisch hohen Schuldenstands könnten auch unter Harris neben den Ukraine-Hilfen auch der Verteidigungshaushalt in den Malstrom parteipolitischen Gezänks geraten. Zudem ist nicht nur unter den Republikanern, sondern auch bei den Demokraten das Be­dürf­nis stark gewachsen, Amerika künftig aus sicherheitspolitischen Verwicklungen, Krisen und Kriegen heraus­zuhalten.

Von wirtschaftlicher Offenheit zu Geoökonomie

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die amerikanische Politik von der Maxime geleitet, dass der freie wirtschaftliche Austausch weltweit Wohl­stand schafft und damit demokratische Regierungsführungen stärkt. Dieses Para­digma der ökonomischen Offenheit war eine Lehre aus den Ursachen der Welt­wirtschaftskrise der 1930er Jahre. Unter Füh­rung der USA gelang die Integration der Weltwirtschaft auf der Grundlage neuer internationaler Institutionen: des Bretton-Woods-Währungsabkommens von 1944 und des General Agreement on Tarrifs and Trade (GATT) von 1947.

Der amerikanische Wirtschaftsliberalismus aus der Gründerzeit des Bretton-Woods-Systems verband das Ziel ökonomischer Stabilität noch mit sozialstaatlichen Maßnahmen. Das änderte sich mit dem Aufstieg des Neoliberalismus seit den 1970er Jahren, der nicht nur auf den Abbau von Schranken für den Handel und den Kapitalfluss setzte, sondern auch auf Priva­tisierung, Deregulierung und insgesamt den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft.

Mit der Zunahme an sozialer Ungleichheit in vielen Ländern der Erde und welt­weiter Finanzkrisen, die weithin dem Neo­liberalismus zugeschrieben werden, ging auch eine Delegitimierung der Pax Ameri­ca­na einher. Auch in den USA wurde die Globalisierungskritik in den 1990er Jahren immer lauter.

Der eigentliche Paradigmenwechsel in der Außenwirtschaftspolitik der USA wurde jedoch ausgelöst vom wirtschaftlichen Auf­stieg Chinas, den damit einhergehenden strukturellen ökonomischen und sozialen Umbrüchen sowie der Zunahme geopolitischer Spannungen seit den frühen 2010er Jahren. Dabei ist das Ziel, Amerikas Wirt­schaftsmacht mit freiem Handel und dem weitgehend unbeschränkten Fluss von Technologie und Kapital zu verbinden, immer mehr in den Hintergrund getreten.

Das alte Paradigma wurde durch geo­ökonomisches Denken ersetzt. Das bedeu­tet, dass der freie Austausch von Gütern, Kapital und Technologien nicht mehr als etwas grundsätzlich Positives gilt, das Wohl­stand generiert und Innovation fördert, sondern als etwas Risikobehaftetes. Sicher­heitspolitische Erwägungen überlagern immer mehr wirtschaftliche Interessen. Die entscheidende Frage lautet nicht mehr, ob Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital allen Seiten nutzt, sondern wer den größten Profit daraus zieht bzw. bei wem dieser Austausch größere Abhängigkeiten schafft. Der Glaube an die konfliktentschärfende Wirkung des Freihandels schwindet; stattdessen wird Wirtschaft als potentielle Waffe betrachtet.

In der Folge sind Handelsbeschränkun­gen und der Einsatz von wirtschaftlichen Zwangsinstrumenten wie Sanktionen und Exportkontrollen aus Sicht Washingtons immer wichtiger geworden. Die USA nut­zen diese Instrumente natürlich nicht erst seit der Amtszeit Donald Trumps zwischen 2017 und 2021. Neu unter Trump war je­doch das Ausmaß, in­dem die USA protek­tionistische Maßnahmen und Sanktionen nicht nur gegen geopolitische Rivalen und internationale Normbrecher androhten oder richteten, sondern auch gegen Freunde und Verbündete wie Deutschland, andere G7-Staaten und die Europäische Union.

Vieles spricht dafür, dass der Wechsel vom Paradigma wirtschaftlicher Offenheit zur Geoökonomie in den USA von Dauer sein wird und nicht mehr vom Übergang einer Administration zur nächsten abhängt. Linke und rechte Kreise der amerikanischen Politik blicken zwar weiterhin sehr unter­schiedlich auf die ökonomischen und sozia­len Probleme im Land. Die Linken fordern traditionell eine Re-Regulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, die Rücknahme von Steuerkürzungen für die wohlhabenden Schichten und eine stärkere Rolle für den Staat. Die Rechten fordern in der Regel (noch) das glatte Gegenteil. Überparteilich wird jedoch die Annahme geteilt, dass die amerikanische Wirtschaft vor den Gefahren der Globalisierung bzw. den als unfair be­trachteten Handelspraktiken anderer Staa­ten geschützt werden müsse.

So verwundert nicht, dass die USA auch während der Präsidentschaft Joe Bidens keine Rückkehr in die multilaterale Frei­handelsarchitektur vollzogen und auch keine Anstalten gemacht haben, wieder eine Führungsrolle bei der Gestaltung eines offenen Wirtschafts- und Handelssystems zu spielen. Wahrscheinlich würde geo­ökonomi­sches Denken unter einer Trump-II-Regierung noch stärker im Vor­dergrund stehen als unter einer Präsidentin Harris. Das hätte auch sicherheitspolitische Kon­sequenzen, weil wirtschaftliche Konflikte zu einer zusätzlichen Belastung für den politischen Zusammenhalt der Bündnisse werden, die unter Führung Washingtons stehen. Das gilt nicht nur für Europa, son­dern auch für den Indo-Pazifik.

Werte werden zum Konflikttreiber

Die Vereinigten Staaten haben für sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in An­spruch genommen, ihre Außenpolitik an liberal-demokratischen Werten auszurichten (auch wenn der Begriff »liberal« im heutigen politischen Diskurs der USA meist synonym mit »politisch links« verwendet wird). Die Werteorientierung betrifft zum einen die Art und Weise, wie Amerika international führen soll, nämlich – anders als klassische Im­perien – mit machtpolitischer Selbst­beschränkung, nicht durch Zwang und Unterwerfung. Sie bezieht sich zum anderen auf die Werte, für die Amerika ein­zustehen beansprucht. Die Logik da­hinter lautet, dass die Verbreitung liberal-demokratischer Werte zur globalen Sicher­heit beiträgt. Demokratisch verfasste Staa­ten sind demnach friedliebender, weil die tragenden Prinzipien im Innern – Stärke des Rechts, Schutz der Menschenrechte, Kompromissfindung als Modus des Kon­fliktaustrags – auch in der Außen- und Sicherheitspolitik handlungsleitend sind.

Anders als von den Apologeten der Pax Americana erhofft haben sich liberal-demo­kratische Werte jedoch nicht immer mehr ausgebreitet, der Welt mehr Sicherheit gebracht und letztendlich sogar das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) ein­geläutet. Die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit zeigen viel mehr, dass die Prämisse der Pax Americana quasi auf den Kopf gestellt worden ist: Gerade weil es einen engen Zusammenhang zwischen innerer politischer Verfasstheit und dem außenpolitischen Verhalten gibt, sind Werte immer mehr zum internationalen Konflikttreiber geworden. Denn nicht nur Demokratien, sondern auch autoritär geführte Staaten versuchen, ihr regionales und internationales Umfeld so zu gestalten, dass es ihre eigene Herrschaftsform stützt.

So ist die russische Politik unter der Führung Putins vor allem vom Bestreben getrieben, die auf liberal-demokratische Werte gegründete europäische Friedensordnung zu zertrümmern, die 1990 in der Charta von Paris verankert wurde. Moskau begreift die Entstehung bzw. Festigung demokratisch organisierter Gesellschaften in Russlands Nachbarschaft als Bedrohung.

Auch China propagiert unter der Führung von Staats- und Parteichef Xi Jinping international Werte, die die autoritäre Herr­schaft der Kommunistischen Partei nach innen stützen sollen: das Recht auf wirt­schaftliche Entwicklung statt Demokratie; wirtschaftliche und soziale Rechte statt in­dividueller Freiheits- und Menschenrechte. Im Nahen Osten schließlich lehnt die poli­tische Führung Irans liberal-demokratische Werte ebenfalls ab, das Gleiche gilt aller­dings auch für die mit Amerika sicherheits­politisch eng verwobenen Golfmonarchien. In dieser Region sind die Wertekonflikte weniger durch den Gegensatz von Demokratie und Autokratie als durch konkurrie­rende Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und Religion gekennzeichnet.

Eine Wiederwahl Donald Trumps hätte zweifellos weitreichende Auswirkungen auf die Werteorientierung der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Bereits während seiner Zeit als Präsident trachtete Trump danach, amerikanische Vormacht ohne die »liberale Infrastruktur« (Alexander Cooley und Daniel Nexon) – sprich: ohne multi­laterale Allianzen und Organisationen – zu sichern. Die USA würden unter Trump wahrscheinlich nicht aus der Nato aus­treten, dafür aber noch weniger geneigt sein, ihre Macht institutionell einhegen zu lassen. Vor allem kleinere Nato-Staaten und solche, die Trump politisch nicht genehm sind, würden das zu spüren bekommen.

Wenn Amerika international immer weniger glaubwürdig für liberal-demokra­tische Werte eintritt, dann könnte sich das Verhältnis zu China und Russland zunächst sogar verbessern, weil ein Teil des bilate­ra­len »Systemkonflikts«, der die Beziehungen zu diesen Staaten prägt, entschärft werden würde. Für Deutschland und andere euro­päische Partner der USA würde sich dann allerdings die Frage stellen, wie sehr sie auf Amerika noch zählen können, wenn es um die Verteidigung einer europäischen Ord­nung geht, die auf liberal-demokratischen Werten aufbaut. Zugespitzt ließe sich sogar fragen, ob ein illiberales Amerika noch Sicherheitsgarant für die Nato sein könnte.

Im Falle eines Wahlsiegs von Kamala Harris würden diese Sorgen vorerst in den Hintergrund rücken. Allerdings bleibt der Zustand der US-Demokratie mit Blick auf die andauernde Delegitimierung von Wah­len, die Selbstentmachtung des Kongresses gegenüber der Exekutive und die Politisierung der Justiz unabhängig vom Wahl­ausgang fragil.

Transatlantische Beziehungen: Neu kalibrieren oder neu denken?

Der Niedergang der Pax Americana hat offensichtlich große Auswirkungen auf die Zukunft der transatlantischen Beziehungen und erfordert erhebliche Anpassungs­leistungen von Seiten der Europäer. Wie weitreichend diese Anpassungen sein und wie schnell sie vollzogen werden müssen, hängt nicht zuletzt vom Ausgang der US-Wahlen im November und dem Kurs der neuen US-Administration ab.

Im Falle einer Wiederwahl Donald Trumps wäre die Ungewissheit über die Zukunft der Nato ungleich größer. Einige Gedankenspiele aus konservativen Kreisen in den USA gehen so weit, dass sich die Vereinigten Staaten in Zukunft nur noch auf die nukleare Abschreckung im Rahmen des Atlantischen Bündnisses konzentrieren und alles andere den Europäern überlassen. Sollte Kamala Harris die nächste US-Regie­rung führen, wäre der Anpassungs­druck auf die europäischen Nato-Verbündeten zumindest in den nächsten vier Jahren sicherlich deutlich geringer als im Falle einer Trump-II-Administration.

Der geschilderte Glaubwürdigkeitsverlust amerikanischer Rückversicherung und Abschreckung erzwingt jedoch unabhängig vom Wahlausgang mehr europäische Ver­teidigungsanstrengungen, wenn das gleiche Maß an Sicherheit gewährleistet werden soll. Die Kernaufgabe der Europäer muss daher lauten, autonomere und diversifi­ziertere Verteidigungs- und Abschreckungsstrategien zu entwickeln, die sich viel weni­ger als bisher auf die militärische Macht der USA stützen. Das Mindesterfordernis wäre dabei der Aufbau von europäischen Fähig­keiten, bei denen erstens bis dato eine be­sonders hohe Abhängigkeit von den USA besteht und welche Washington zweitens im Fall eines Krieges mit China höchstwahrscheinlich in den Indo-Pazifik verlegen würde. Dies betrifft in erster Linie die Auf­klärung, den strategischen Lufttransport, die Luftverteidigungssysteme, Kampf­flug­zeuge, amphibische Fähigkeiten der Marine­infanterie sowie weitreichende Raketen und Marschflugkörper.

Allerdings geht es nicht nur um Rüstung, sondern auch um genuin politische Fragen. Wie könnten die europäischen Nato-Part­ner beispielsweise reagieren, wenn sich die USA unter einer Trump-II-Regierung viel weni­ger an der konsensualen politischen Willens­bildung im Nato-Rat beteiligen oder sogar aktiv versuchen würden, Nato-Verbündete gegeneinander auszuspielen? Was also wäre zu tun, wenn Amerika sein »liberales« Führungsverständnis im Bündnis endgültig aufgäbe und sich wie eine »normale Groß­macht« verhielte?

Um ein solches Szenario zu verhindern müssten die Europäer auch innerhalb des Bündnisses politisch wesentlich geschlossener auftreten, als dies in der Vergangenheit beispielsweise mit Blick auf die Russland-Politik der Fall war. Im unwahrscheinlichen Extremfall eines Totalrückzugs der USA aus der Nato würde sich sogar die Frage stellen, ob Europa seine kollektive Verteidigung politisch und militärisch auch gänzlich außerhalb des Bündnisrahmens gewähr­leisten könnte. Seit dem Scheitern der Euro­päischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 stand diese Frage nicht mehr auf der Agenda.

Aber auch das neue geoökonomische Denken in Washington stellt Deutschland und Europa vor große Herausforderungen. Unter Biden gelang es zwar, die zentralen wirtschaftlichen und handelspolitischen Konflikte mit Europa deutlich zu entschärfen. Der Streit um Stahl- und Aluminiumzölle konnte jedoch auch unter Präsident Biden nicht gänzlich beigelegt werden. Kamala Harris hat sich zwar skeptisch gegen­über Zöllen geäußert, weil sie zusätz­liche Kosten für amerikanische Verbraucher bedeuten. Zugleich lehnte sie jedoch wich­tige Trade Deals, wie das Transpazifische Freihandelsabkommen, ab weil sie aus ihrer Sicht den Interessen amerikanischer Arbeiter schaden und zu niedrige Umweltstandards anlegen würden. Unter einer Trump-II-Regierung wäre davon auszu­gehen, dass die USA Zölle und andere Handels­beschränkungen stark ausweiten werden – gegenüber Freund und Feind. Zudem würde Trump wirtschaftliche und sicherheits­politische Fragen noch viel offener mit­einander verknüpfen.

Ein vermehrter Einsatz von Sanktionen, Exportkontrollen und anderen wirt­schaft­lichen Zwangsinstrumenten würde das Konfliktpotential im trans­atlantischen Verhältnis weiter erhöhen. Die Verwendung solcher Instrumente wirft die Frage der Ausgewogenheit innerhalb der trans­atlantischen Lastenteilung auf, wenngleich unter um­gekehrtem Vorzeichen als im militärischen Bereich. Sicherheitspolitisch sind die USA und Deutschland bzw. die europäischen Nato-Staaten zwar verbündet. Zugleich sind sie in wirtschaft­licher Hin­sicht jedoch auch Wettbewerber. Die hohen Energiepreise nach der rus­sischen Voll­invasion der Ukraine, die auch eine Folge der gemeinsamen Russland-Sanktionen waren, haben für die deutsche bzw. euro­päische Industrie eine hohe Belastung und einen potentiellen Wett­bewerbsnachteil dargestellt.

Mit Blick auf China dürften die Forderungen aus Washington – zumal dann, wenn Trump 2025 erneut ins Weiße Haus einzieht – lauter werden, dass die Euro­päer ihre wirtschaftliche und technologische Abhängigkeit von der Volksrepublik reduzieren. Auf absehbare Zeit bleibt diese Abhängigkeit jedoch groß. Alleine die enorm ambitionierten deutschen Ziele in den Bereichen der Energie- und Mobilitätswende lassen sich ohne den wirtschaft­lichen Austausch mit China kaum erreichen. Je nachdem, welche Blüten der Wirtschafts­nationalismus in Amerika noch treiben wird – Deutschland und seine europäischen Partner könnten im Extremfall sogar gezwungen sein, auch über wirtschaftliche und technologische De-Risking-Initiativen im Hinblick auf die USA nachzudenken. Diese könnten beispielsweise auf den Schutz vor künftigen US-amerika­nischen Strafzöllen, Sanktionen oder Exportkontrol­len, die europäischen Wirtschafts­interessen schaden, gerichtet sein sowie entsprechende Gegenmaßnahmen beinhalten.

Der Niedergang der Pax Americana wirft schließlich auch die Frage auf, welchen Stel­lenwert die Förderung liberal-demokra­tischer Werte in der Außenpolitik in Zu­kunft noch haben kann und soll. Mit Amerika könnte den Vertretern einer werte­geleiteten Außenpolitik in den nächs­ten Jahren ein wichtiger Fürsprecher und Unterstützer abhandenkommen. Mit Blick auf die europäische Sicherheitsordnung ist die Lage recht klar. Der Konflikt mit Russ­land dreht sich nur vordergründig um territoriale Ansprüche und militärische Kräfteverhältnisse. Seine eigentliche Ur­sache sind unvereinbare Wertvorstellungen über die innere und äußere Ordnung Euro­pas. Aus Sicht der EU- bzw. der europäischen Nato-Staaten ist daher die eigene Sicherheit in Europa untrennbar mit der Verteidigung liberal-demokratischer Werte verbunden.

Für andere Weltregionen außer­halb Europas gilt dies jedoch nicht oder nicht im gleichen Maße. Im Indo-Pazifik und mehr noch im Nahen Osten werden die regio­nalen Ordnungen von Staaten getragen, die mehrheitlich keine liberalen Demokratien sind. Zudem fehlen dort multilaterale In­sti­tutionen wie Nato, EU, OSZE oder Europarat, die auf liberalen Prinzipien beruhen. Westliche Demokratien werden dort und auf globaler Ebene in Zukunft eher mehr als weniger auf die Zusammenarbeit mit Nicht-Demo­kratien angewiesen sein.

So unterstreichen beispielsweise die Leit­linien der deutschen Bundesregierung zum Indo-Pazifik vom September 2020 die große Bedeutung des ASEAN-Staatenverbunds. Dieser besteht jedoch ganz überwiegend aus Ländern, in denen liberal-demokrati­sche Werte nicht oder nur schwach ver­ankert sind. Alleine aus diesem Grunde taugt die von Joe Biden propagierte Vertei­digung der Demokratien gegen Autokratien nicht als generelles Prinzip für das Verhält­nis des Westens zur nicht-west­lichen Welt.

Das Einstehen für Werte sollte sich daher außerhalb Europas vor allem auf jene Nor­men, Institutionen und Regelwerke bezie­hen, die das friedliche Miteinander der Staaten betreffen. Das betrifft das Völker- bzw. Seerecht, die Verrechtlichung multi­lateraler Beziehungen, mithin die oft zitierte »regelbasierte Ordnung« auf regio­naler und globaler Ebene. Diese Prinzipien werden aus Eigeninteresse auch von auto­ritär regierten Staaten unterstützt, die keine Großmächte sind und wirtschaftlich oder militärisch mächtigeren Nachbarn gegen­überstehen. Das ändert allerdings nichts an der ernüchternden Tatsache, dass es ohne die USA wesentlich schwieriger wäre, die noch verbliebenen Elemente der regel­basierten Weltordnung zu schützen.

Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.

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