Das Europaparlament fordert, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzufrieren – bislang ohne Erfolg. Obwohl die EU sich inzwischen selbst mit den Verhandlungen schadet, hält sie daran fest. Eine Analyse von Günter Seufert.
Kurz gesagt, 11.07.2017 Research AreasGünter Seufert
Das Europaparlament fordert, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzufrieren – bislang ohne Erfolg. Obwohl die EU sich inzwischen selbst mit den Verhandlungen schadet, hält sie daran fest. Eine Analyse von Günter Seufert.
Am vergangenen Donnerstag votierte das Europaparlament dafür, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzufrieren. Dies findet bei der Kommission und beim Ministerrat so gut wie keine Unterstützung. Vielmehr möchte die Kommission die Verhandlungen intensivieren. Sie bittet den Ministerrat um das Mandat, mit Ankara Gespräche über die Ausweitung der Zollunion zu beginnen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union halten fast einstimmig an der Linie fest, die ihre Außenminister am 28. April auf Malta steckten, als sie das Ergebnis des türkischen Verfassungsreferendums anerkannten. So wenig sie sich damals durch die faktische Abschaffung der Gewaltenteilung und die offizielle Aussetzung der Grundrechte zu einem entschlossenen Handeln gegenüber Ankara bewegen ließen, so wenig vermag dies heute das Votum des Europaparlaments.
Zwar behauptet niemand, die Türkei erfülle nach wie vor die politischen Kriterien von Kopenhagen, die die rechtliche Grundlage für die Fortführung des Beitrittsprozesses bilden. Doch gelte es jetzt, den vollkommen Bruch Ankaras mit Europa zu vermeiden. Denn in der Flüchtlings- und Migrationspolitik, in Fragen der Terrorbekämpfung, bei der Energieversorgung und nicht zuletzt bei der Sicherheitspolitik sei die Türkei schlicht unverzichtbar. Ohne Beitrittsprozess und Zollunion habe Europa keinen Einfluss mehr auf Ankara. Es gelte das zu nutzen, was die Türkei noch an Europa bindet, etwa die Garantie des Zugangs zum gemeinsamen Markt oder der Wunsch nach Visumfreiheit, um Ankara zur Kooperation in anderen Feldern zu bewegen. Zwar sei die Lage schlecht, doch könne sie kaum schlimmer werden. »Wir haben Zeit«, heißt es in Brüssel.
Beitrittsverhandlungen taugen nicht als Köder
Stimmt das? Sind die Verhandlungen zur Mitgliedschaft – obwohl sie faktisch ruhen – wirklich ein Anker, der die Türkei in Europa hält? Und ist die bloße Aussicht auf die Erweiterung der Zollunion um Landwirtschaft und Dienstleistungen tatsächlich ein so großer Köder?
Ganz offensichtlich nicht. Denn wäre das der Fall, dann würde Ankara zumindest kleine Schritte dahingehend unternehmen, das Klima zu verbessern. Stattdessen wird Staatspräsident Recep T. Erdoğan aller Voraussicht nach am 20. Juli den bereits seit einem Jahr währenden Ausnahmezustand ein weiteres Mal verlängern. Anstatt zumindest einige der 150 inhaftieren Journalisten freizulassen, die schon seit Monaten ohne Beweise und oft gar ohne Anklageschrift hinter Gitter sitzen, weitet die Justiz die Verhaftungswelle aus. Wäre ihm Brüssel wichtig, dann würde Erdoğan darauf verzichten, zum Jahrestag des Putsches erneut seine Anhänger in Europa zu mobilisieren und so den Streit mit einzelnen EU-Mitgliedstaaten weiter zu eskalieren. Er würde sich auch hüten, gleich nach dem Hamburger G20-Gipfel den Ausstieg der Türkei aus dem Pariser Klimaschutzabkommen anzudeuten.
Kurz: wären der klinisch tote Beitrittsprozess und die Zollunion tatsächlich Instrumente in den Händen der EU, wäre die Lage nicht so verfahren, wie sie heute ist. Schlimmer noch: Heute drohen die Beitrittsverhandlungen zum Nachteil der EU zu wirken.
Denn die Verhandlungen über den Beitritt bilden die Grundlage für die hohen Erwartungen, die die türkische Bevölkerung an die Europäische Union hat. So erwartet man, dass die EU das Land bald aufnimmt, es »fair« behandelt, ihm Visumfreiheit gewährt und generell Freundschaft und Solidarität mit »der Türkei« gewährt. Es ist die wiederkehrende Enttäuschung solcher Erwartungen, die den gesellschaftlichen Resonanzboden für das fast tägliche Europa-Bashing des türkischen Staatspräsidenten liefert, ganz unabhängig davon, wie gerechtfertigt solche »Enttäuschungen« angesichts der Politik der türkischen Staatsführung sein mögen. Die heutige Kombination aus einem offiziell fortgeführten, aber gleichzeitig stockenden Beitrittsprozess ermöglicht es Erdoğan jeden Tag aufs Neue, der EU Doppelzüngigkeit und Fremdenfeindlichkeit, Eurozentrismus und Islamophobie vorzuwerfen. So schließt er seine Reihen.
In den europäischen Mitgliedstaaten ist es der anhaltende Beitrittsprozess, der es rechtspopulistischen Parteien ermöglicht, aus der Anstachelung von Rassismus und Islamophobie sowie der Angst vor unkontrollierter Zuwanderung politisches Kapital zu schlagen. So verstärkt sich eine zentrale Dimension der Krise der EU. Über die Rückkopplung dieser Dynamik auf das türkisch-europäische Verhältnis muss man gar nicht reden.
Bei seinem letzten Besuch in Ankara, der just an jenem Tag stattfand, an dem das Europaparlament sein Votum abgab, sagte der EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung Johannes Hahn: »Das Europaparlament ist von den Bürgern der EU gewählt, und seine Abgeordneten vertreten deren Sicht«. Der Satz sollte in Ankara Verständnis für das Votum generieren. Doch bringt er auch schlicht eine Tatsache zur Sprache. Wenn Kommission und Ministerrat in einer Frage mit so hohem Mobilisierungspotential die Meinung der Bevölkerung dauerhaft ignorieren, wird es nicht lange dauern, bis dies als weiteres Beispiel für den Mangel an demokratischer Legitimation europäischer Politik gehandelt wird.
Die Türkei nimmt die EU nicht mehr ernst
Mit Sicht auf die Türkei gilt es zu fragen: Warum hält Ankara an Verhandlungen fest, die es mit seiner Politik fast täglich ad absurdum führt? Für die Türkei, lautet die Antwort, sind die Verhandlungen erstens ein Instrument dafür, dass sie auch weiterhin ohne Einschränkung Zugang zum europäischen Markt hat. Sie tragen zweitens dazu bei, dass Investitionen fließen und internationales Kapital nicht schlagartig aus dem Land abgezogen wird. Sie sind zum dritten der einzige Hebel dafür, dass Ankara der Europäischen Union mit Forderungen wie der nach einer neuen Zollunion oder nach Visumfreiheit kommen kann. An eine Mitgliedschaft in der EU oder an eine Demokratisierung der Türkei denkt bei dem Wort Beitrittsverhandlungen in Ankara heute wohl schwerlich jemand.
Durch die Verhandlungen hat Ankara, was es von der Union heute am meisten braucht. Und weil das so ist, hat Europa keinen Einfluss auf die Türkei. Erst wenn Brüssel mit Ankara genauso hart verhandelt, wie die Türkei es mit Europa tut, nimmt die Türkei Europa wieder ernst.
Der Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.
Die großen Erwartungen, die der türkische Präsident im Vorfeld des Verfassungsreferendums geschürt hatte, können nur enttäuscht werden. Erdoğans Entzauberung wird folgen, gerade weil nun alle Verantwortung bei ihm liegt, meint Günter Seufert.
Warum sich Ankara nach Moskau orientiert
Beitrag zu einer Sammelstudie 2017/S 01, 18.01.2017, 64 Pages, pp. 39–42
Ankaras Probleme und Interessen