Viele Beobachter hatten befürchtet, dass ein Wahlsieg Erdoğans die Türkei weiter von der EU wegführen würde. Nun ist der im Amt bestätigte Präsident auf den Westen zugegangen. Brüssel und Berlin sollten die Gelegenheit nutzen, um auf die Türkei einzuwirken, meint Yaşar Aydın.
Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 10. Juli seine Zusage für den Nato-Beitritt Schwedens mit der Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei verknüpfte, stieß seine Forderung vielerorts auf Skepsis und Kritik. Viele befürchteten eine weitere Belastung der Nato- und EU-Türkei-Beziehungen. Bernd Lange, Vorsitzender des EU-Handelsausschusses, bezeichnete Erdoğans Vorstoß als »blanke politische Erpressung«.
Noch am selben Abend kam es aber zum Durchbruch – und auf dem Nato-Gipfel tags darauf ließ der türkische Präsident sein Veto gegen den Beitritt Schwedens zum transatlantischen Militärbündnis fallen. Für Aufsehen hatte er bereits Anfang Juli gesorgt, als er sich nach einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine aussprach. Zudem sagte Erdoğan der ukrainischen Armee weitere Drohnen und Panzerhaubitzen zu und erteilte dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eine weitere Abfuhr, indem er die Offiziere des Asow-Regiments in die Ukraine ausfliegen ließ. Nach einer Vereinbarung zwischen Kiew und Moskau sollten diese bis zum Kriegsende in der Türkei bleiben.
Zu den Motiven für Erdoğans Westkurs gehören Pragmatismus, Finanzhilfen und sicherheitspolitische Zugeständnisse. Das Festhalten am Veto gegen den Nato-Beitritt Schwedens hätte zu einer gefährlichen Zuspitzung der Spannungen zwischen der Türkei und der Nato, den USA und der EU geführt. Dies hätte das Militärbündnis zersplittert und schwach erscheinen lassen. Bliebe Ankara der westlichen Anti-Russland-Front fern, wäre auch seine Position gegenüber Moskau geschwächt und sein außenpolitischer Handlungsspielraum entsprechend eingeengt. Mit der trilateralen Verständigung zwischen der Nato, der Türkei und Schweden wurden Voraussetzungen für eine konstruktive Zusammenarbeit geschaffen, Geschlossenheit nach außen demonstriert und die Glaubwürdigkeit des Militärbündnisses gewahrt.
Entscheidend war auch, dass Erdoğan der Nato, den USA und Schweden Zugeständnisse abtrotzte, die er in der Türkei als Triumph verkaufen konnte. Die schwedische Regierung will die PKK konsequenter bekämpfen und die Türkei im EU-Beitrittsprozess unterstützen, US-Präsident Joe Biden will den Weg für den Verkauf der für die türkische Luftwaffe so wichtigen F-16-Kampfflugzeuge an die Türkei ebnen. Sollten die US-Administration und die schwedische Regierung ihre Zusagen nicht einhalten, hätte das türkische Parlament die Möglichkeit, dem Nato-Beitritt Schwedens nicht zuzustimmen.
Erdoğans Einlenken war auch wirtschaftlich motiviert: Ihm geht es derzeit darum, Kapitalzuflüsse und Investitionen in die Türkei anzuregen. Der türkische Präsident steht innenpolitisch massiv unter Druck, weil dem Land eine Wirtschaftskrise droht. Eine konfrontative Haltung dem Westen gegenüber würde sich negativ auf das ohnehin ungünstige Investitionsklima auswirken. Der US-Journalist Seymour Hersh enthüllte, dass Biden Erdoğan versprochen habe, sich für einen Kredit des Internationalen Währungsfonds in Höhe von rund 13 Milliarden US-Dollar für die Türkei einzusetzen.
Brüssel und Berlin sollten auf die Türkei zugehen. Denn so wie die Türkei die EU braucht, braucht die EU die Türkei – etwa als Partner bei der Steuerung von Migrationsbewegungen und als Vermittler gegenüber Russland im Ukraine-Krieg. Als Regionalmacht trägt die Türkei dazu bei, Russlands Einflussstreben in der Schwarzmeerregion, im östlichen Mittelmeer, auf dem Balkan und im Kaukasus einzudämmen. Gerät die Türkei in eine wirtschaftliche Schieflage, kann sie diese Aufgaben nicht mehr wahrnehmen – mit erheblichen Konsequenzen für die EU. Dies erfordert eine Kooperation, die das Land stabilisiert, ohne das autokratische Regime Erdoğans zu legitimieren.
Die EU sollte sich darüber im Klaren sein, dass Ankara einen Balanceakt gegenüber Moskau vollführen muss: Die Türkei muss den Handel, die diplomatischen Beziehungen und die strategische Zusammenarbeit mit Russland aufrechterhalten und sich gleichzeitig Russlands imperialem Revanchismus widersetzen. Denn so sehr die Türkei in ihren strategischen Zielen an den Westen gebunden ist, so sehr ist sie auf ein funktionierendes Verhältnis zu Russland angewiesen.
Die Zusammenarbeit mit der Türkei sollte zunächst auf sicherheitspolitische Fragen, Friedensdiplomatie und Wirtschaft beschränkt bleiben. Denkbar wären finanzielle Hilfen für den Wiederaufbau des Erdbebengebiets, die an die Bedingung geknüpft werden, dass etwa die Korruption im Bausektor wirksam bekämpft und die Vergabeverfahren transparent kontrolliert werden.
Gleichwohl wird es weder eine Westorientierung geben noch will Erdoğan die Türkei an die EU heranführen. Die dafür notwendige Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit würden seiner Machterhaltungsstrategie fundamental widersprechen. Zugeständnisse bei der Modernisierung der Zollunion und der Visafreiheit kämen daher einer Belohnung Erdoğans für seinen autoritären Kurs und einer Bestätigung seines autokratischen Regimes gleich.
Statt die Türkei in der Warteschleife zu halten, sollten Brüssel und Berlin auf Ankara zugehen und klar kommunizieren, dass eine demokratische Wende und ein Reformprozess unabdingbar sind, wenn die Türkei den Prozess der Zollunion vorantreiben will.
A Wind of Change in Turkish Politics?
doi:10.18449/2023C42
Wie die EU ökonomisch und sicherheitspolitisch mit der Türkei kooperieren kann
doi:10.18449/2023A48
Turkey’s President Erdoğan is entering his third decade in power after winning a tightly contested run-off election. Hürcan Aslı Aksoy and Salim Çevik discuss how he managed to secure a third term, why the opposition failed to unseat the president and what the election results mean for Ankara’s relations with NATO allies, the EU and Germany.