Der Rat der EU-Außenminister soll Ende August darüber beraten, ob die Möglichkeiten für russische Staatsbürger, in die Schengen-Zone einzureisen, stark beschränkt werden sollen. Mehrere nord- und osteuropäische Staaten haben bereits weitreichende Maßnahmen veranlasst und finden hierfür eine wachsende Unterstützung in der EU. Deutschland hingegen weist bislang Restriktionen bei der Visavergabe zurück und begründet dies mit der Situation russischer Regimekritiker. Auch wenn es bei der Einreisekontrolle und beim Aufenthaltsrecht nationale Ermessensspielräume gibt, sollte eine konvergente europäische Regelung vereinbart werden. Der EU-Visakodex bietet hinreichend Ansatzpunkte, um touristische Reisen erheblich einzuschränken. Ein umfassender Einreisestopp wäre hingegen unverhältnismäßig, auch weil die Vergabe humanitärer Visa kaum ausgeweitet werden wird.
Ob die Einreise russischer Staatsbürger in die Schengen-Zone untersagt werden soll, hat sich zu einer Frage von erheblicher politischer Brisanz entwickelt. Von Estland wurden jüngst rund 50 000 Visa, die es zuvor Bürgern der Russischen Föderation ausgestellt hatte, für ungültig erklärt – mit nur wenigen definierten Ausnahmen für humanitäre Zwecke, Diplomaten, Besuche enger Familienangehöriger und für Arbeitskräfte im Transportsektor. Derzeit wird laut estnischen Regierungsstellen an einer weiteren Regelung gearbeitet, um auch solchen russischen Staatsbürgern die Einreise zu verweigern, die gültige Visa anderer Schengen-Staaten haben.
Neben allen baltischen Staaten nehmen auch Dänemark, Belgien und die Niederlande schon länger keine Visa-Anträge russischer Staatsbürger mehr entgegen. Polen, die Slowakei und Tschechien streben ebenso entsprechende Beschränkungen bei der Visavergabe an oder setzen diese bereits um. Finnland hat derweil erklärt, ab September die Zahl der Termine für russische Antragsteller um mindestens die Hälfte abzusenken. Priorisiert werden sollen dabei Visa, die Familienbesuchen oder anderen wichtigen Zwecken dienen.
Symbolische Bedeutung des Einreiseverbots
Deutschland wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, es agiere zu zögerlich und strebe letztlich danach, die früheren Beziehungen zu Russland möglichst rasch wiederherzustellen. Vielfach wird der Einwand der Bundesregierung nicht akzeptiert, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine auf eine alleinige Entscheidung von Präsident Putin zurückgehe. Vielmehr wird zunehmend eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Invasion und eine Kriegsschuld aller Russen postuliert, wie dies auch in jüngsten Reden des ukrainischen Präsidenten Zelensky zum Ausdruck kommt.
Offensichtlich sind Emotionen ein kritischer Faktor in der aktuellen Debatte. Je länger der Krieg dauert, desto unhaltbarer erscheint eine vermeintliche Rückkehr zur Normalität. So gilt es vielen Stimmen als nicht hinnehmbar, dass russische Bürger im Ausland Urlaub machen oder auf Einkaufstour gehen, während in der Ukraine als Folge des Angriffskrieges täglich Zivilisten sterben. Diese Haltung ist nachvollziehbar, kann aber nicht unmittelbar einen flächendeckenden Einreisestopp begründen, sofern man sich an rechtsstaatliche Grundsätze hält. Es gilt stärker zu differenzieren. Formal betrachtet kennt die Schengen-Zone etwa »Touristenvisa« gar nicht, sondern kurzfristige Einreiseerlaubnisse für bis zu 90 Tage, die mit unterschiedlichen Begründungen erteilt werden können.
Aus einer interessengeleiteten Perspektive gründen Argumente für und wider einen weitreichenden Visastopp auf unsicheren Annahmen. Es lässt sich nicht belastbar prognostizieren, ob anhaltende Reisebewegungen zwischen Russland und der Schengen-Zone dazu beitragen würden, unter russischen Bürgern eine kritische Sicht auf den Krieg zu befördern – oder ob gerade scharfe Einschränkungen zu Protesten gegen das Moskauer Regime führen könnten. Geschätzt verfügen nur rund 30 Prozent von Russlands Bevölkerung über einen Auslandsreisepass, während viele Mitglieder der wirtschaftlichen und politischen Elite auf langfristige Aufenthaltstitel oder Zweitpässe westlicher Staaten zurückgreifen können. Insofern ist anzunehmen, dass eine Beschneidung der Visavergabe sich nur in geringem Maße auf die Regimestabilität auswirken würde. Zudem geht bloß ein vergleichsweise kleiner Anteil der russischen Touristenströme in die Schengen-Zone, im Gegensatz etwa zur Türkei, die nach wie vor eine visafreie Einreise aus Russland erlaubt. In jedem Fall würde das Putin-Regime einen Einreisestopp für die Schengen-Länder propagandistisch ausschlachten und die Abgrenzung zum Westen weiter betonen. Dem gegenüber steht das europäische Interesse an einem direkten Austausch mit der russischen Zivilgesellschaft. Da eine dauerhafte Flucht aller Regimegegner nicht zu erwarten (und auch nicht wünschenswert) ist, sollten Besuchsreisen zwischen Russland und der Schengen-Zone möglich bleiben.
Andererseits hat sich erwiesen, dass die jahrzehntelangen Kontakte zwischen EU-Staaten und der Russischen Föderation auf sozialer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene es nicht vermochten, eine gemeinsame Wertebasis und politische Stabilität zu schaffen. Dieser Befund kann zum Anlass genommen werden, in der Visumfrage ein Signal der Solidarität mit der Ukraine einzufordern. Die teilweise extremen medialen Reaktionen in Russland auf die Androhung eines europäischen Einreisebanns werden von dessen Befürwortern positiv aufgenommen. Die Maßnahme hätte demnach zumindest eine wichtige symbolische Bedeutung und könnte somit über den Kreis der russischen Bürger hinaus wirken, die tatsächlich touristische Reisen in die EU unternehmen. Die Opposition innerhalb Russlands könnte gerade dann erstarken, so manche Stimmen, wenn die Abwanderung in den Westen keine Option mehr wäre. Etwaige wirtschaftliche Kosten eines Visastopps für einzelne EU-Länder, die wie Zypern oder Griechenland vergleichsweise viele russische Touristen empfangen, wären in dieser politischen Abwägung nur von sekundärer Bedeutung.
Rechtlicher Spielraum bei der Visa-Erteilung
Grundsätzlich können Staaten die Einreise von Drittstaatsangehörigen weitgehend einschränken, sofern keine grundrechtsrelevanten Aspekte berührt werden – etwa das Recht auf ein Familienleben. Dies gilt auch für die Mitglieder der Schengen-Zone. Personen, die über ein gültiges Visum oder einen sonstigen Aufenthaltstitel eines anderen Schengen-Staates verfügen, können nur in Ausnahmefällen an europäischen Binnengrenzen abgewiesen werden, etwa bei besonderen Gefahren für die öffentliche Sicherheit.
Allerdings sind die Kriterien zur Erteilung kurzfristiger Schengen-Visa weitreichend europäisch reguliert. Auch wenn die konkrete Fallbearbeitung und Entscheidung in nationaler Verantwortung verbleibt, sollten weitere Absprachen getroffen werden, um für russische Bürger die Einreise in die gesamte Schengen-Zone zu erschweren. Falls dies nicht gelingt, drohen die Herangehensweisen der Mitgliedstaaten immer stärker auseinanderzuklaffen. So würden zum einen erhebliche Umgehungsbewegungen russischer Reisender innerhalb der Schengen-Zone entstehen, zum anderen rechtlich kaum gedeckte Praktiken der nationalen Einreisekontrolle verfestigt.
Als ersten Schritt für ein gemeinschaftlicheres Vorgehen könnte die EU das immer noch bestehende Abkommen zur Visa-Erleichterung mit Russland vollständig suspendieren. Ende Februar wurde das Abkommen zunächst für Regierungsvertreter, Inhaber von Diplomatenpässen und Personen mit geschäftlichen Visa außer Kraft gesetzt. Mit einer vollständigen Suspendierung würden die Kosten und der Aufwand für rein touristische Reisen erhöht. Dies wäre auch eine weitere politische Antwort darauf, dass die russische Regierung ihrerseits im April mehrere europäische Staaten und die EU als Ganzes als »unfreundliche Staaten« klassifiziert hat.
Als nächster Schritt könnte ein konvergentes Vorgehen vereinbart werden, was die Vergabe individueller Kurzzeitvisa betrifft. Unter anderem bietet der Visakodex der EU in den Artikeln 21 und 32 vielfältige Ansatzpunkte, um Anträge abzulehnen. Dabei kann beispielsweise in systematischer Weise auf Gefahren für die Sicherheit oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaates verwiesen werden. Nach bisheriger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wird dabei eine jeweils individuelle Bewertung verlangt. Da aber derzeit fast alle Mitgliedstaaten Waffen an die Ukraine liefern, könnte ein allgemeiner Verweis auf die schwerwiegend gestörten Beziehungen zu Russland ausreichen, um einfache Besuchsvisa abzulehnen (sofern keine weiteren persönlichen oder humanitären Gründe geltend gemacht werden). Mittelfristig könnte eine gezielte rechtliche Novellierung des Visakodex eine solche Praxis unterfüttern.
Darüber hinaus bieten sich weitere bürokratische Stellschrauben. Eine enge Auslegung der »Bedingungen des geplanten Aufenthalts« und der dafür »ausreichenden Mittel« (gemäß EU-Verordnung 810/2009) könnte zu starken Einschränkungen führen, da russische Staatsbürger im Ausland aufgrund geltender Sanktionen momentan keinen direkten Zugang zu heimischen Konten oder internationalen Kreditkarten haben. Formell könnte somit die Annahme gelten, dass touristische Reisen nicht gesichert finanziert sind, selbst im Falle wohlhabender Personen. Sollten Antragsteller etwaige Vermögen oder Bankkonten außerhalb Russlands offenlegen, um angemessene Finanzmittel für Reisen in die Schengen-Zone nachzuweisen, ließe sich dies vielleicht sogar zur Umsetzung von Sanktionsbeschlüssen nutzen. Allgemein könnte die EU-Kommission von ihren erst jüngst gestärkten Kompetenzen zum Erlass von Verwaltungshandreichungen bei der Visavergabe Gebrauch machen, etwa wenn es darum geht, die benötigten unterstützenden Antragsunterlagen festzulegen.
Im Gegenzug für eine restriktive Praxis bei Visa für touristische Zwecke könnte die Einreise großzügiger bewilligt werden, sofern es sich um Einladungen zivilgesellschaftlicher Akteure oder um Familienbesuche handelt, bei denen Sponsoren innerhalb der Schengen-Zone in Erscheinung treten. Verpflichtungserklärungen dieser Sponsoren zur Übernahme etwaiger Kosten, die durch die eingeladenen Personen entstehen könnten, sollten weniger umfassend ausfallen. Zu beobachten gilt, wie Finnland nun Visa-Anträge priorisieren will, die nichttouristische Zwecke verfolgen. Eine effektive Umsetzung könnte als positives Beispiel für andere Schengen-Staaten dienen. Jedenfalls muss eine solche Priorisierung administrativ unterfüttert werden, so dass konsularische Kapazitäten und Antragsmöglichkeiten tatsächlich zur Verfügung stehen.
Weniger hilfreich erscheint dabei, die Zahl der monatlichen Visa-Anträge fest zu quotieren. Viele diplomatische Vertretungen in Russland arbeiten bereits mit stark reduziertem Personal. Es sollten deshalb mehr Möglichkeiten geschaffen werden, Anträge in Ländern außerhalb der Russischen Föderation zu stellen. Eine erhebliche Zahl russischer Staatsbürger ist aufgrund der politischen Lage zwischenzeitlich in die europäische Nachbarschaft ausgewandert und sucht weitergehende Perspektiven in Europa. In solchen Fällen könnte eine Prüfung der Einreiseerlaubnis für die Schengen-Zone in Drittstaaten wie der Türkei erfolgen. Indirekte Reisewege und Flugverbindungen zwischen der Russischen Föderation und der EU, die rein touristischen Zwecken dienen, würden ausdrücklich nicht berücksichtigt.
Weitere Beschränkungen der Mobilität
Eine einseitige Nichtanerkennung bereits ausgestellter Visa, wie nun von Estland praktiziert, muss mit Vorsicht betrachtet werden. Inhaltlich sinnvoll wäre eine weitergehende Koordination der Schengen-Staaten darüber, unter welchen Voraussetzungen längerfristige Visa für die mehrfache Einreise annulliert werden könnten (Art. 34 Visakodex). Dass man den Visuminhaber etwa zu der Erklärung verpflichtet, Russlands Krieg gegen die Ukraine werde abgelehnt, erscheint zu willkürlich und formalistisch. Jede Person, die ein solches Bekenntnis unterzeichnet, könnte unabhängig von ihrer politischen Einstellung zum Opfer staatlicher Repression in Russland werden. So drohen lange Gefängnisstrafen allein schon dafür, das Vorgehen gegen die Ukraine als »Krieg« zu bezeichnen. Für eine Einreiseverweigerung und die Aufhebung eines Visums könnte vielmehr Bezug genommen werden auf die allgemeinen »Voraussetzungen«, unter denen es ursprünglich erteilt wurde und die nun nicht mehr gegeben sind. Wie bei Neuanträgen würde auf Änderungen in den internationalen Beziehungen oder die finanziellen Mittel des Reisenden verwiesen werden.
Kritischer für die Umsetzung von Sanktionen gegen Mitglieder der russischen Elite ist, dass über Jahre hinweg einige EU-Staaten – vorrangig Malta, Zypern und Bulgarien – in erheblicher Zahl sogenannte »goldene Pässe« im Gegenzug für finanzielle Investitionen ausgestellt haben. Allgemein ist es in allen europäischen Rechtsordnungen aus grundrechtlichen Gesichtspunkten mit hohen Hürden verbunden, eine erteilte Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen.
Im März 2022 erging jedoch die Aufforderung der EU, alle verbleibenden Programme dieser Art einzustellen und bei sanktionierten Personen sämtliche Aufenthaltstitel möglichst zu widerrufen. Hierzu sollten neue Daten aus allen EU-Staaten erhoben und weitere Lücken im Sanktionsregime identifiziert werden. Zyprische Ermittlungsbehörden haben jüngst einen umfassenden Bericht vorlegt, aus dem hervorgeht, dass mehrere tausend Pässe gemäß den damals geltenden nationalen Regelungen rechtswidrig erteilt wurden. Damit wäre ein Widerruf mit rechtsstaatlichen Kriterien vereinbar und auch jenseits von gezielten Sanktionen gegen einzelne Personen geboten. Wie viele Staatsbürgerschaften bisher tatsächlich annulliert wurden, ist jedoch unklar; aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Zahl eher gering. Die Liste der persönlich sanktionierten Personen aus der russischen Elite sollte indes erweitert werden, wie auch aus auch dem Umfeld des inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny gefordert wird. Dass dafür innerhalb der EU einstimmige Beschlüsse notwendig sind, darf wie bei vergangenen Sanktionspaketen nicht als Hinderungsgrund erscheinen.
Grundrechtliche Bedingungen
Wie der geltende Visakodex der EU und die EuGH-Rechtsprechung zu Sanktionen vorgeben, wäre es bei allen Maßnahmen erforderlich, das Prinzip individueller Verfahren und den Anspruch auf einen Rechtsbehelf zu wahren. Ein lückenloser Reisebann bzw. die Verweigerung aller Kurzzeitvisa für russische Staatsbürger wäre demnach nicht rechtens. Grundsatzdebatten über die Zulässigkeit eines allgemeinen Einreiseverbots für bestimmte Drittstaaten, die man in den USA unter der Trump-Administration führte, sollten in der EU nicht wiederholt werden. Kollektive Ausweisungen russischer Staatsbürger, die sich auf rechtmäßiger Grundlage langfristig in der EU aufhalten, würden in jedem Fall gegen die EU‑Grundrechtecharta wie auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Zudem wären sie politisch kontraproduktiv.
Das auf politischer Ebene vorgebrachte Argument, ein Besuch der Schengen-Zone sei »kein Menschenrecht«, ist zwar in dieser vereinfachten Formulierung nicht falsch. Dennoch sollte soweit wie möglich grundrechtlichen Interessen entsprochen werden, vor allem was langfristige Aufenthaltsberechtigungen in der EU bzw. das Recht auf Familie betrifft. Zudem sollten reale Möglichkeiten bestehen bleiben, Schutz vor Verfolgung zu erhalten. Gerade dieses Prinzip sollte weit umfassender gelten, also nicht nur mit Blick auf russische Staatsangehörige. Unter diesem Gesichtspunkt bergen die aufgeladene Rhetorik gegenüber Russland und die Rufe nach einer robusten Verteidigung der Schengen-Zone zusätzlich die Gefahr, dass die ohnehin sehr schlechte Lage für Schutzsuchende weiter verschlimmert wird.
Verbleibende Türen für russische Oppositionelle
Es gibt keine belastbaren Daten darüber, ob und in welchem Umfang einfache Touristenvisa von russischen Oppositionellen oder regimekritischen Personen genutzt werden. Für deren Zwecke erscheint die Ausstellung humanitärer Visa oder anderer Aufenthaltstitel prinzipiell angemessener, bis hin zur Beantragung von politischem Asyl.
In der Praxis sind hierbei jedoch hohe Antragshürden, erhebliche persönliche Risiken und teils lange Bearbeitungszeiten zu berücksichtigen. Wie die verfügbaren Zahlen aus Deutschland zeigen, konnten bisher nur wenige hundert Personen über gesonderte humanitäre Visa oder ähnlich gelagerte Programme für russische Medienschaffende einreisen. Unter anderem wird von Behörden noch immer ein vorheriger Bezug zu Deutschland verlangt, damit sich ein humanitäres Visum beantragen lässt. Dies ist in der aktuellen Lage eine überholte Vorgabe.
Wenn vermieden werden soll, dass ein wachsender Strom an irregulären Zuwanderern aus Russland entsteht – einhergehend mit kriminellen Netzwerken und physischen Risiken –, müsste der Zugang zu humanitären Visa ausgebaut werden. Allerdings ist dies nur in beschränktem Umfang zu erwarten, nicht zuletzt weil einige EU-Staaten wohl keine Präzedenzfälle für andere Krisen schaffen wollen. Deshalb muss die Möglichkeit erhalten bleiben, im Einzelfall reguläre Visa zu erteilen und diese im Bedarfsfall innerhalb der EU in andere Aufenthaltstitel umzuwandeln. Gerade in Deutschland sollte zusätzlich die liberalisierende Dynamik der Arbeitszuwanderung genutzt werden, um weitere Türen für russische Staatsbürger zu öffnen, die ihre Zukunft im Ausland sehen.
Empfehlungen
Die Debatte um russischen Tourismus sollte die Gesamtlage im Blick behalten. Priorität bleibt, alle individuellen Sanktionsentscheide effektiv umzusetzen sowie den Kreis der betroffenen Personen aus der russischen Elite zu erweitern. Gewöhnliche russische Reisende könnten erheblichen administrativen Beschränkungen bei der Visavergabe unterworfen werden, unter Einhaltung des gemeinsamen EU-Rechts. Regelmäßige Einkaufstouren oder Strandurlaube im europäischen Ausland ließen sich damit stark verringern.
Unabhängig von der Frage, ob dies Auswirkungen auf die Stabilität des russischen Regimes hätte oder nicht, ist es im vorrangigen Interesse der EU, eine gemeinsame Linie gegenüber Russland aufrechtzuerhalten. Gewisse Einschränkungen der Bewegungsmöglichkeiten für Oppositionelle sind für diese übergeordnete Zielsetzung vertretbar. Umso wichtiger ist es, familiäre Besuche zwischen Russland und den Schengen-Mitgliedstaaten sowie Umwege für regimekritische Bürger zu erhalten, auch über kurzfristige Visatitel oder Arbeitsvisa. Deutschland könnte sich in diesem Sinne weiter engagieren und gleichzeitig allgemeine Einreisebeschränkungen für die Schengen-Zone unterstützen.
Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2022A53