Jump directly to page content

Eine geopolitisch wachgerüttelte EU und ihre osteuropäischen Nachbarn: mehr Realismus, mehr Investitionen

 

SWP-Aktuell 2019/A 62, 14.11.2019, 4 Pages

doi:10.18449/2019A62

Research Areas

Die künftige Europäische Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen tritt mit dem Anspruch an, eine geopolitische Ausrichtung einzuschlagen. Skeptiker werden anmerken, diese Am­bition vergrößere nur die bekannte Kluft zwischen den Fähig­keiten der Europäischen Union (EU) und den Erwartungen an ihre außenpoli­tische Gestaltungskraft. Andere begrüßen es, wenn die »geopolitische Kommission« aus dem Schatten technokratischer Politik heraustreten will. Dass die EU-Staaten im Oktober 2019 erneut die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Nord­mazedonien aufgeschoben haben, wird allerdings aus dieser Warte als strategische Blindheit gewertet. Die EU sollte sich ihre strategischen Möglichkeiten in der Nachbar­schaft, zu der bald auch das Vereinigte Königreich (VK) gehört, nicht verbauen, indem sie an der etablierten Erweiterungs- und Nachbarschafts­politik festhält. Stattdessen sollte sie neue Strukturen schaffen und politisch wie materiell mehr investieren. Zu denken wäre an einen Europäischen Politik- und Wirtschafts­raum (EPWR), bestehend aus der EU und osteuropäischen Ländern der Östlichen Partnerschaft (ÖP).

Die Kontroverse in der EU über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Nord­mazedonien und Albanien verweist über die konkreten Fälle hinaus auf grundsätz­liche Probleme der Union im Umgang mit europäischen Nachbarn. Aus mehreren Gründen steht die EU nur halbherzig zu ihrem poli­tischen Beitrittsversprechen an die Länder des Westbalkans: In der EU nimmt die Bereitschaft und Fähigkeit ab, Länder auf­zunehmen, die weder die wirtschaftliche noch die politische Kraft und Kohäsion der Union stärken werden. Die Aufnahme­fähigkeit der EU schwindet zudem, weil ihre integrations­politischen Fundamente und ihre Leistungskraft von innen und außen angefochten werden. Dies korrespondiert mit einem nachlassenden Reformwillen in Kandidatenländern, die gegenüber der EU ihre eigene Konditio­na­litätspolitik betreiben. So machen sie die Reformen und deren Tempo in Kern­bereichen wie guter Regierungsführung (Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz, Korruptionsbekämpfung) und funktionierender Staatlichkeit abhängig vom Tem­po des Heranführungs- oder Beitritts­prozesses. Dabei zählen sie auch auf das außen- und sicherheitspolitische Inter­esse Brüssels, die Erweiterungspolitik fort­zusetzen, um die EU-Nachbarstaaten zu stabilisieren. Zugleich spielen die Beitrittskandidaten Angebote von »geopolitischen Konkurrenten« gegen die EU aus, eine Konstel­lation, die die Kommission unter Jean-Claude Juncker in ihrer Mit­teilung zur Erweiterungs­politik vom Mai 2019 ebenfalls registriert.

Sich wechselseitig die Schuld für Stillstand und Rückschritt zuzuweisen, hilft der EU nicht weiter, wenn sie beitrittsreife Länder aufnehmen und ihr Ziel erreichen will, von verantwortungsvoll regierten Ländern mit gleichen Werthaltungen um­geben zu sein. Ähnlich unfruchtbare Inter­aktionsmuster wie mit den Balkan­staaten zeichnen sich bereits für die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau ab, mit denen die EU unter den Ländern der ÖP am engsten ver­bunden ist. Beim Jubiläums­gipfel der ÖP im Mai 2019 haben die EU-Staaten jegliches Beitrittsversprechen ver­weigert, wie sie es noch 2003 in Thessaloniki den Westbalkan-Ländern gegeben hatten. Darüber hinaus muss die EU zügig ihre neuen Nachbarschaftsverhältnisse mit dem VK nach dem Brexit regeln und mit der Türkei eine Alternative zum Verhandlungsrahmen über den Bei­tritt finden. Das sind Einschnitte, die sie nutzen sollte, um sich Spielräume für neue, realistische Politikansätze zu erschließen.

Gestaltungsauftrag und Lehren für die EU aus jüngster Zeit

Die EU ist auf absehbare Zeit das dominante wirtschaftliche und mithin politische Kraft­feld in Gesamteuropa, das auf seine Nach­barn im Norden, Osten und Süden ein­wirkt. Für die EU geht damit ein Gestal­tungs­auftrag einher, auch und gerade im Hinblick auf Länder, die auf Distanz zu ihr gehen (siehe Türkei und VK) und die in einer stärkeren Position ihr gegenüber sind als Länder der ÖP, die eine maximale Nähe zu ihr suchen, wie die Ukraine und Georgien. Letztere erwarten zudem aus ihrer volatilen innen­politischen und prekären sicherheitspolitischen Lage heraus von der EU und besten­falls in der EU Schutz und Wohlstand. Für die Union geht es darum, mit diesen Nachbarn (und gegebenenfalls auch mit Ländern des Westbalkans) qualifizierte oder privilegierte Nachbarschaftsbeziehungen unterhalb der Mitgliedschaft aufzubauen.

Bevor die EU neue Wege beschreitet, sollte sie zwei Lehren aus der jüngeren Zeit beherzigen. Erstens: die Interventionen Moskaus, die 2013 zunächst die Unterzeich­nung eines Assoziierungsabkommens inklu­sive einer vertieften und umfassenden Frei­handelszone (AA/DCFTA) zwischen der EU und der Ukraine verhinderten. Sie haben offenbart, dass die langfristig angelegte, technokratisch-gra­dua­listische Politik der immer engeren Assoziierung ihre vermeintliche geopolitische Unschuld eingebüßt hat. Ob in Südost- oder Osteuropa, die EU muss mit solchen Reaktionen rechnen. Sie sollte auf verschie­denen Ebenen – normativ, wirt­schaftlich, sicherheitspolitisch – konflikt­fähig sein, wenn sie auf Widerstand, vor allem vonseiten Russlands, stößt. Zweitens: Die nie wirklich in Gang ge­kom­me­nen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei be­legen, dass die EU mit ihrer ambi­valen­ten Positionierung in der Frage ge­schei­tert ist, ob sie tatsächlich zur Aufnahme des Landes bereit ist, sofern Ankara die Vor­aus­setzungen dafür erfüllt. Seit 1987 war sie in der Beitritts­frage – aus wechselnden Gründen – ge­spalten und hat ihre Uneinig­keit bis heute nicht über­winden können. Das führte in der Vergangenheit zu einer un­glaub­würdi­gen Erweiterungs­politik gegen­über Ankara und bedeutet heute einen massiven Einfluss­verlust; ganz abgesehen davon, dass sich die Türkei vor geraumer Zeit selbst für eine Mitgliedschaft disqualifiziert hat.

Mit Blick auf die ÖP-Länder empfiehlt sich diese Vagheit aus Uneinigkeit nicht. Weder sollte die EU ein halbes oder ganzes politisch nicht gedecktes Beitrittsversprechen ins Spiel bringen noch sich und die Länder in das Korsett der Beitrittsverhandlungen zwängen. Vielmehr wäre es an der Zeit, die bilateralen Assoziierungsbezie­hun­gen in neue Strukturen einzubetten. Hier setzt der Vorschlag für einen EPWR an.

Ein Europäischer Politik- und Wirtschaftsraum

Das ausdrückliche Ziel des EPWR wäre es, zwischen der EU und fortgeschrittenen ÖP- Staaten, die mittelfristig weder auf eine EU- noch eine Nato-Mitgliedschaft bauen kön­nen, eine sichtbare multilaterale Verbindung her­zustellen. Das Angebot richtete sich zu­nächst an die Ukraine und Georgien, per­spektivisch auch an die Republik Moldau. Der Euro­päische Wirtschaftsraum (EWR, bestehend aus Norwegen, Island und Liechtenstein einerseits und der EU anderer­seits) sollte als Inspiration, nicht als Blau­pause für den EPWR dienen. Denn Letzterer müsste sich in puncto (1) politi­scher Signal­wirkung, (2) Governance und (3) funktionaler Reichweite stark vom EWR unter­scheiden.

(1) Der EWR hat ein administrativ-techno­kratisches Profil, weil die Mitgliedsländer der Europäischen Freihandelszone (EFTA) im EWR (also Norwegen, Island und Liechtenstein) nur die wirtschaftliche und keine politische Integration wollen. Viele osteuropäische Länder wollen beides und der EPWR müsste ihnen deshalb beides signalisieren und offerieren, soweit es unterhalb der Mitgliedschaft möglich ist.

(2) Der EWR ist ein auf Völkerrecht basierendes Konstrukt eigener Art, ohne Vor­kehrungen, Souveränität zu übertragen. In diesem »Joint Venture« bewahrt die EU ihre Entscheidungsautonomie (eben­so wie die EFTA-EWR-Länder). Auch der EPWR sollte nicht über supranationale Institutionen verfügen, jedoch über ein ausgeprägtes politisches Profil. Bereits mit der 2003 lancierten Europäischen Nachbarschafts­politik hat die EU für ihre Nachbarn alles, außer Sitz und Stimme in den EU-Insti­tu­tionen, avisiert. Analog zum EFTA-Pfeiler im EWR wäre im EPWR ein ÖP-Pfei­ler zu schaffen. Beginnen könnten etwa die Ukraine und Georgien, indem sie ein ge­meinsames Ständiges Sekretariat einrichten und eine eigene Struktur aufbauen, damit sie als intergouvernementaler Pfeiler fungie­ren, mit abgestimmten Positionen gegenüber dem EU-Pfeiler auftreten und in den gemeinsamen Institutionen des EPWR mit­wirken können. Das EWR-Sys­tem ist mit Rat, Gemeinsamem Ausschuss, Gemischtem Par­lamentarischem EWR-Ausschuss und Konsultativ-Ausschuss sowie mit seinen speziellen Governance-Modi äußerst kom­plex und voraussetzungsvoll hinsichtlich der Kapazitäten von Staat und Verwaltung beider Seiten. Für den EPWR würden sich osteuropäische Nachbarn erst dann quali­fizieren, wenn sie ähnliche Kapa­zitäten für die Zusammenarbeit mit der EU auf­bieten. Die ÖP-Länder müssten sich also insbesondere in der funktionierenden Gewalten­teilung, Um- und Durch­setzung des Rechts in einem gemeinsamen Politik- und Regu­lierungsraum mit der EU als zuverlässig heraus­stellen. Gegenwärtig wäre das noch eine hohe Hürde; es könnte aber auch An­sporn sein, diese Leistungsfähigkeit zu ent­wickeln – mit gezielter Unterstützung durch die EU.

(3) Der EWR konzentriert sich auf die lau­fende, vollständige Inkorporation des Sekundärrechts bezüglich der Vier Frei­hei­ten des Binnenmarkts (freier Waren-, Dienst­leistungs-, Personen- und Kapitalverkehr). Könnten die osteuropäischen Nachbarn schon heute den Binnenmarkt-Acquis über­nehmen, so wäre die Mitgliedschaft im EWR die bevorzugte Option und ein EPWR überflüssig. Der EPWR würde indes auf den AA/DCFTA aufbauen, die eine schrittweise und keine vollständige Übernahme des Binnen­markt-Acquis vorzeichnen. Um den Regu­lie­rungs­raum durch Konvergenz suk­zessive auszuweiten, müsste ein eigener Mechanis­mus für die Harmonisierung des Rechts und das effektive Monitoring ein­geführt werden, der mehr Anreize gibt und rechtlich verbind­licher ist als in den jetzigen AA/DCFTA. Die EU könnte in Anlehnung an die Regional- und Strukturförderung in der Union ein eigenes Instrument ins Leben rufen, um die regionalen und sozialen Dis­paritäten in den Ländern einzuhegen und damit auch dem anhaltenden Brain­drain etwas entgegenzusetzen. Außerdem könnte die EU in diesem Rah­men Projekte, etwa zum Ausbau der Infra­struktur, ko-finanzie­ren und dies mit den Koope­rations­platt­formen der heutigen multilateralen ÖP verzahnen. In den EWR sind die den Binnen­markt flankierenden Poli­tiken einbezogen, soweit dies aus Grün­den des fairen Wett­bewerbs notwendig ist. Aber zen­trale Poli­tiken wie Land­wirtschaft, Fischerei und Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik / Gemein­same Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/GSVP) sowie Innen- und Justiz­politik bleiben dort außen vor und werden allen­falls (wie mit Norwegen) in Dutzenden zusätzlicher Vereinbarungen geregelt. Es wäre zu über­legen, welche Materien aus den umfassenden bilateralen AA/DCFTA sinnvollerweise in den multi­lateralen EPWR überführt werden sollten. Fragen der Außenpolitik sowie der äußeren und inne­ren Sicherheit im EPWR zu be­handeln, würde ihm das gewünschte poli­tische Profil verleihen und läge zugleich im Interesse der EU.

Ein Mehrwert gegenüber den bi­lateralen Beziehungen mit der EU, die auf den AA/DCFTA beruhen, könnte auch darin liegen, dass die Länder des ÖP-Pfeilers wie im Falle der EFTA untereinander eine Freihandelszone schaffen (EEFTA) und den noch geringen bilateralen Handel in­ten­sivieren. Als Folge könnte zwischen ihnen eine pro­duktive Dynamik entstehen.

Ausblick

Hätte man noch einen Beweis gebraucht, dass die Erweiterung nicht in jedem Fall die erfolgreichste Außenpolitik der EU ist – die sehr unterschiedlich gela­gerten Fälle des VK und der Türkei haben ihn erbracht. Mit beiden wird die EU Alternativen zur Mit­glied­schaft und spezielle bilaterale Ver­einbarungen im Spektrum von Koope­ration und Assoziierung entwickeln: eine (moderni­sierte) Zollunion mit der Türkei und eine ambitionierte, breit angelegte, vertiefte und flexible Partnerschaft mit dem VK. Gegen­über den ÖP-Ländern könnte die EU mit dem vor­geschlagenen EPWR auch unter geopolitischen Vorzeichen neue Wege ein­schlagen. Unter Umständen wären sie in Zukunft sogar für diejenigen Balkan­länder interessant, die auf der Stufenleiter zur Mitgliedschaft stecken bleiben.

Der EPWR böte der Ukraine, Georgien und gegebenenfalls der Republik Moldau ein niedrigschwelligeres Ziel an als die EU-Mitgliedschaft. Damit würden sich sicher­lich nicht alle Probleme lösen lassen, die aus dem Kontext von Beitrittsverhand­lungen bekannt sind – Probleme, die sich daraus ergeben, wie die Angebote zur Unter­stützung und die Normvorgaben durch die EU zusammenwirken mit dem Reform­tempo und der Qualität der Imple­men­tie­rung in den Zielländern. Im EPWR würde sich die Union mit den beteilig­ten ÖP-Ländern in einem politischen Gemeinschafts­­unter­nehmen verbinden. Das unter­scheidet ihn deutlich von den asymmetrischen Beitrittsverhandlungen.

Der EPWR sollte hinsichtlich seiner funktionalen Reichweite und Governance entwicklungsoffen sein und eine gemäßigte Differenzierung unter den ÖP-Ländern er­lauben. Auf längere Sicht könnte er den EWR an Koope­rations- und Integrationstiefe sogar über­treffen und damit ein echtes Angebot und kein Abstellgleis für die ÖP-Länder dar­stellen. Es wäre an den ÖP-Staaten, diese Chance zu ergreifen und nicht alles auf die Maximallösung des Beitritts zu setzen. Ohnehin könnte die EU selbst durch eine explizite politische Absage in der Beitritts­frage nicht verhindern, dass die Ukraine oder Georgien gemäß Artikel 49 EU-Vertrag die Mitgliedschaft in der EU beantragen. Aber die Lücke zwischen »drinnen« und »draußen« wäre mit einem EPWR kleiner als heute, die Bindungen unter­einander stärker. Und nicht zuletzt wäre die Aussicht zumindest plausibel, dass dieses Arrangement mehr und schneller Nutzen bringt, als in einen ergebnisoffenen Prozess jahrzehnte­langer Beitrittsverhandlungen einzutreten.

Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP / Institutsleitung.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN 1611-6364