Nach der deutlichen Ablehnung des Austrittsabkommens und angesichts der fortgesetzten Blockade in London steigt die Wahrscheinlichkeit eines ungeordneten Brexits. Aber auch die Option eines zweiten Referendums gewinnt an Befürwortern. Die EU hält die Tür für einen Verbleib Großbritanniens zwar prinzipiell offen. Einer erneuten Volksabstimmung stehen jedoch etliche Hindernisse im Weg: Notwendig wären ein Positionswechsel der Regierung, eine stabile Parlamentsmehrheit und eine Verlängerung des Brexit-Prozesses über die Europawahlen hinaus. Falls das britische Parlament eine zweite Abstimmung auf den Weg bringt, sollten die EU-27 Großbritannien die dafür nötige Frist gewähren. Sie sollten aber auch eine eigene politische Strategie für die Referendumskampagne und die Zeit danach festlegen.
Die Zähmung des Brexits ist vorerst gescheitert. Das Austrittsabkommen, welches Großbritannien geregelt aus der EU führen sollte, haben die britischen Abgeordneten mit 432 zu 202 Stimmen abgelehnt. Noch versucht Premierministerin Theresa May, eine neue Mehrheit für das Abkommen zu finden, um mit der EU nachverhandeln zu können. Doch ihre Aussichten dafür sind gering. Zu groß war die Ablehnung, zu strikt hält May an ihren roten Linien fest und zu schwach ist ihr Rückhalt in der eigenen Partei. Für keine der anderen Brexit-Varianten zeichnet sich derzeit eine Mehrheit im britischen Parlament ab. Daher wird der ungeordnete Brexit mit seinen gravierenden politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Konsequenzen immer wahrscheinlicher (siehe SWP-Arbeitspapier FG EU/Europa 1/2019).
Druck von den Hinterbänklern
Angesichts dieser Selbstblockade der britischen Politik gewinnt ein zweites Referendum an Zuspruch. Im Unterhaus sind es vor allem Hinterbänkler, die eine Lösung mit Hilfe einer erneuten Volksabstimmung fordern. Premierministerin May dagegen lehnt ein zweites Referendum ab. Oppositionsführer Jeremy Corbyn hat vor allem Neuwahlen im Sinn und will sich gemäß einem Labour-Parteitagsbeschluss erst dann für eine abermalige Volksabstimmung einsetzen, falls es nicht gelingt, Unterhauswahlen zu erzwingen. Das Scheitern seines Misstrauensvotums gegen May am 16. Januar 2019 genügt ihm dafür nicht.
Bisher sind es eine Handvoll konservativer Abgeordneter, 71 Labour-Abgeordnete sowie die Schottische Nationalpartei (SNP) und Teile der Liberaldemokraten, welche eine zweite Volksabstimmung öffentlich unterstützen. Doch auch wenn es Abgeordneten um den Konservativen Dominic Grieve gelungen ist, dem Parlament mehr Kontrolle über den Brexit-Prozess zu verschaffen, sind die Befürworter eines zweiten Referendums von einer eigenen Mehrheit noch weit entfernt. In Reichweite käme diese erst, wenn entweder Theresa May (unwahrscheinlich) oder Jeremy Corbyn und seine Fraktion sich dafür aussprächen.
Viele Hindernisse
Selbst wenn eine Mehrheit für ein Referendum zustande käme, wären der Weg lang und die politischen Bedenken gravierend. So müsste erstens die Regierung das Referendum unterstützen, da sie die Agenda im Unterhaus setzt und ihre Gesetzesinitiativen Vorrang haben. Das für eine zweite Volksabstimmung notwendige Referendumsgesetz kann nur als Initiative der Regierung und mit ihrer fortdauernden Rückendeckung schnell genug durch beide Häuser des britischen Parlaments gebracht werden.
Zweitens bedarf ein Referendum einer stabilen parlamentarischen Mehrheit, um das nötige Gesetz durch alle Ausschüsse, das Plenum und die Abstimmung mit dem House of Lords zu tragen. Diese Mehrheit muss sich über sämtliche Details der Ausgestaltung des Referendums einig sein. Eine einmalige Koalition aus wenigen konservativen Abgeordneten und dem Großteil der Opposition reicht nicht aus.
Die dritte große praktische Hürde ist die Einigung auf die Frage, welche dem britischen Volk gestellt werden soll. 2016 schien die Auswahl klar: Die Briten konnten sich zwischen Verbleib (»Remain«) und Austritt (»Leave«) entscheiden. Indes hat sich herausgestellt, dass es schon damals keine einheitliche Auslegung von »Leave« gab.
Die Frage wäre bei einem zweiten Referendum noch schwieriger. Generell sollte eine Referendumsfrage drei Kriterien erfüllen: Sie sollte alle politisch relevanten Optionen abdecken, alle Optionen sollten unterscheidbar und politisch umsetzbar sein. Angesichts der Spaltung in der britischen Politik werden mindestens drei Gruppen fordern, dass ihre bevorzugte Option zur Wahl steht: ein harter No-Deal-Brexit, ein Austritt mit dem vorliegenden Abkommen und zuletzt der Verbleib. Schon an der Gegenüberstellung der verschiedenen Möglichkeiten wird deutlich, wie viel Einfluss die Wahl der Frage auf den Ausgang der Abstimmung hätte:
Art der Frage |
Optionen |
Frage mit zwei Optionen |
Verbleib oder No-Deal-Brexit? |
Verbleib oder Brexit mit Austrittsabkommen? |
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Brexit mit Austrittsabkommen oder No-Deal-Brexit? |
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Frage mit drei Optionen |
Verbleib oder Brexit mit Austrittsabkommen oder No-Deal-Brexit? |
Zwei abgestufte Fragen |
1) Verbleib oder Austritt? Falls für den Austritt: 2) Brexit mit Austrittsabkommen oder No-Deal-Brexit? |
1) Akzeptanz oder Ablehnung des Austrittsabkommens? Falls für die Ablehnung: 2) Verbleib oder No-Deal-Brexit? |
Bleibt als viertes der Faktor Zeit. Mit allen parlamentarischen Fristen und der vorgeschriebenen Mindestdauer für die öffentliche Debatte sind laut Berechnungen des britischen Think-Tanks Institute for Government mindestens 21 Wochen zu veranschlagen, um ein Referendum in Großbritannien durchzuführen. Die britische Regierung geht wegen der schwierigen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse sogar von einem Jahr aus. In Großbritannien gilt zwar die Parlamentssouveränität, doch für Referenden gibt es relativ strenge Vorschriften. So muss das Referendumsgesetz durch beide Häuser des Parlaments. Parallel muss die Frage von der Wahlkommission geprüft werden. Beides zusammen nimmt mindestens 11 Wochen in Anspruch. Anschließend sind wenigstens zehn Wochen für die Auswahl der Leitkampagnen und die öffentliche Debatte einzukalkulieren. Nach dem Referendum sind mindestens drei Monate einzuplanen, um das Ergebnis umzusetzen. Die zeitlichen Vorgaben könnten parlamentarisch noch etwas reduziert werden, doch die Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus dürften dies eher unwahrscheinlich machen.
Die Frist für den Brexit läuft in weniger als zehn Wochen ab. Realistisch betrachtet, wäre es für ein zweites Referendum also nötig, den Austrittstermin mindestens bis Ende 2019 hinauszuschieben. Das wäre gemäß Artikel 50 EUV vor dem vollzogenen Austritt jederzeit möglich, setzt allerdings einen einstimmigen Beschluss der EU-27 und der britischen Regierung voraus. Damit wäre Großbritannien auch bei den Europawahlen und der Neubesetzung der EU-Führungspositionen (Europäische Kommission, Präsident des Europäischen Rates, Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik) noch EU-Mitglied.
Ein Referendum als Spaltpilz
Jenseits dieser praktischen Hindernisse würde ein zweites Referendum Großbritannien, aber auch die EU vor enorme politische Herausforderungen stellen. Hierzu gehört erstens, dass den Briten die Notwendigkeit eines neuen Votums überzeugend vermittelt werden müsste. Die Abstimmung von 2016 war zwar rechtlich unverbindlich, hat in der britischen Politik aber beträchtliche politische Bindewirkung entfaltet. Ein erneutes Referendum würde daher den Verdacht nähren, die politische Elite – die 2016 mehrheitlich den Verbleib wollte – lasse das Volk so lange abstimmen, bis ihr das Ergebnis genehm ist. Die Forderung nach einer weiteren Volksabstimmung kann deshalb nur aus Großbritannien selbst kommen und muss von der britischen Politik gut untermauert werden. Aus Gründen der Legitimität müsste zudem die Option eines harten No-Deal-Brexits zur Wahl stehen, so hoch das Risiko auch wäre.
Zweitens würde eine neue Volksabstimmung die Spaltung der britischen Gesellschaft weiter vertiefen. Ursprünglich hatte der damalige Premier David Cameron das Referendum angesetzt, um die tiefen Risse in seiner eigenen Partei zur EU zu überbrücken. Das Gegenteil ist eingetreten, die Gräben in der konservativen Partei, aber auch der britischen Gesellschaft insgesamt sind groß wie nie zuvor. Viele Briten identifizieren sich politisch mittlerweile ebenso als »Remainer« oder »Leaver« wie als Tory oder Labour-Anhänger. Schon das erste Referendum war von Desinformation und aufgeheizter politischer Atmosphäre gekennzeichnet, wovon der Mord an einer Abgeordneten zeugte. Seit 2016 war der Brexit in den britischen Medien zwar pausenlos Thema Nummer eins, doch Polarisierung und Falschinformationen haben eher zu- als abgenommen. Eine zweite Volksabstimmung wird dies noch einmal verschärfen.
Drittens ist nicht geklärt, auf welcher Seite sich die britische Regierung und die großen Parteien positionieren würden. Der Riss wegen des Brexits geht so tief durch die Parteien, dass eine einheitliche Haltung kaum vorstellbar ist. Selbst Theresa May hat in Interviews bisher immer eine Antwort auf die Frage vermieden, wie sie in einem Referendum abstimmen würde.
Viertens ist zu betonen, dass ein zweites Referendum auch und gerade für die Befürworter eines Verbleibs sowie die EU ein hohes Risiko darstellt. In Umfragen liegt »Remain« im Durchschnitt mit 54 zu 46 Prozent zwar mittlerweile leicht vorne, aber ein Sieg ist alles andere als ausgemacht. Die meisten Leave-Wähler sehen sich aufgrund der harten Brexit-Verhandlungen in ihrer Ablehnung der EU-Mitgliedschaft eher bestätigt. Sie werden argumentieren, dass nur ein klarer No-Deal-Brexit Großbritanniens Souveränität wiederherstellen kann.
Die Rolle der EU-27
Doch auch die EU-27 sähen sich im Falle eines zweiten Referendums mit erheblichen Problemen konfrontiert. Zwar wäre eine neue Volksabstimmung in erster Linie eine innerbritische Angelegenheit und ein Mittel, um den weiteren Kurs im Brexit-Prozess zu bestimmen. Zumindest indirekt haben die EU-27 aber ein Mitspracherecht, da alle EU-Staaten einer Verlängerung dieses Prozesses zustimmen müssten. Kommt sie zustande, müssten die Briten 2019 Europawahlen abhalten, was zusätzliche Komplikationen mit sich brächte. Dennoch sollten die EU-27 Großbritannien, wenn es das wünscht, die Zeit geben, den Brexit zu überdenken. Allerdings sollten sie der Versuchung widerstehen, über die Verlängerungsentscheidung Einfluss auf die Frage oder die Bedingungen der Abstimmung zu nehmen. Bevor sie einer britischen Verlängerungsinitiative ihr Plazet erteilen, sollten die EU-Staaten aber ein positives Votum des House of Commons für eine Volksabstimmung sowie die Festlegung des Datums verlangen. Erst dann lässt sich die Dauer der Verlängerung realistisch einschätzen, erst dann kann verhindert werden, dass das zweite Referendum während des Parlamentsprozesses immer weiter verschoben wird und dass EU-27 und Großbritannien wieder ohne Entscheidung vor der Brexit-Klippe stehen.
Was die EU-27 und vor allem die deutsche Politik brauchen, ist eine klare politische Strategie für die Referendumskampagne. Möglicherweise werden Verbleibbefürworter fordern, die EU solle Großbritannien für den Fall des Verbleibs weitere Sonderkonditionen anbieten. Die von Cameron 2016 ausgehandelten Änderungen am Status Großbritanniens in der EU sind mit dem negativen Referendum rechtlich automatisch hinfällig geworden. Dennoch hat etwa der einstige Premier Tony Blair behauptet, mit neuen Beschränkungen der Freizügigkeit wäre Großbritannien zu einem Verbleib zu bewegen.
Auf jeden Fall sollte die europäische Politik nicht dieselbe Zurückhaltung wie bei der Abstimmung 2016 an den Tag legen. Stattdessen empfiehlt sich eine klare Botschaft aus Politik und Zivilgesellschaft der anderen EU-Staaten, dass die Briten in der Union weiterhin willkommen sind. Damit könnten und sollten die Kontinentaleuropäer eine Verbleibskampagne wirksam unterstützen.
Zuletzt braucht die EU auch eine Strategie für die Zeit nach einer erneuten Volksabstimmung. Das umfasst die weitere Vorbereitung auf den No-Deal-Brexit, aber auch auf die politische Reintegration Großbritanniens in die EU. Der Europäische Gerichtshof hat zwar geurteilt, dass das Vereinigte Königreich bei einem einseitigen Rückzug aus dem Verfahren gemäß Artikel 50 EUV sämtliche Rechte als EU-Mitglied behält, einschließlich aller Sonderrechte. Politisch hat der Brexit-Prozess aber tiefe Narben hinterlassen. Bei einem Verbleibsvotum wäre die EU einerseits symbolisch gestärkt. Andererseits müsste sie mit einem Mitglied umgehen, bei dem sich ein großer Teil der Bevölkerung und Politik nicht nur für den Austritt an sich, sondern möglicherweise sogar für einen harten Brexit ausgesprochen hat.
Ausblick
Der weitere Verlauf des Brexit-Prozesses ist mehr als ungewiss, das Risiko für britische, aber auch europäische Bürgerinnen und Bürger wie Unternehmen sehr groß. Nach der Ablehnung des Austrittsabkommen in Westminster ist völlig unklar, welche der verschiedenen Brexit-Optionen überhaupt eine Mehrheit im britischen Parlament bekommen kann (siehe SWP-Aktuell 55/2018). Trotz, aber auch wegen der Blockade in Westminster ist ein zweites Referendum weder leicht zu erreichen noch ein Allheilmittel. Selbst wenn eine Mehrheit dafür im britischen Parlament gefunden werden sollte, sind noch eine deutliche Verlängerung des Brexit-Prozesses, schwierige Verhandlungen sowie eine Referendumskampagne zu erwarten, welche die Risse in der britischen Gesellschaft und Politik eher vertiefen wird. Und dennoch, verglichen mit den Alternativen, vor allem den Kosten und Risiken eines harten No-Deal-Brexits, wäre eine neue Abstimmung auch für die EU-27 die beste aller schlechten Optionen.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter (a.i.) der Forschungsgruppe EU / Europa.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A03