Ein Europäischer Sicherheitsrat (ESR) werde, so die Vorstellung der Bundesregierung, die Europäische Union (EU) in der internationalen Politik entscheidungsbereiter und damit handlungsfähiger machen. Gelinge es der EU und ihren Mitgliedstaaten nicht, zügiger kohärente Beschlüsse zu fassen und umzusetzen, schwänden ihre Fähigkeiten, europäischen Regelwerken (weiter) Geltung zu verschaffen und multilaterale Formate zu stärken. Daher müssten die diplomatischen, finanziellen und militärischen Ressourcen der EU-27 um ein Format ergänzt werden, in dem die zwischenstaatliche Kooperation besser funktioniere. Diese Idee wird jedoch nur dann Gestalt annehmen können, wenn die Bundesregierung darlegen kann, welchen Mehrwert ein solches Gremium erbringt, und wenn sie selbst mehr außenpolitischen Gestaltungswillen im EU-Rahmen zeigt.
Als außen- und sicherheitspolitischer Akteur genießt die EU keinen guten Ruf. Während sich das unmittelbare politische Umfeld Europas rasant verändert, schaffen es die noch 28 Mitgliedstaaten der EU nur unzureichend, schnell und kohärent gemeinsame Antworten auf die zahllosen außenpolitischen Umbrüche zu formulieren, mit denen sie konfrontiert sind. Selbst wenn sie Entscheidungen treffen, mangelt es am politischen Willen und oft auch an den materiellen Fähigkeiten, diese umzusetzen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa den Sanktionen gegen Russland aufgrund der Annexion der Krim, gelingt es den EU-Staaten kaum, wirkmächtig zu agieren.
Um diesem Missstand entgegenzuwirken, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament am 13. November 2018 erneut vorgeschlagen, einen Europäischen Sicherheitsrat einzurichten. Dieser solle gemäß dem Rotationsprinzip jeweils aus einem Teil der EU-Staaten bestehen und sich eng mit der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sowie mit den europäischen Mitgliedern im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) abstimmen. Gemeinsam mit Frankreich hat sich Deutschland bereits im Frühsommer 2018 dafür stark gemacht, eine europäische Debatte über »neue Formate« zu führen, »zum Beispiel einen EU-Sicherheitsrat, und über Möglichkeiten einer engeren Abstimmung innerhalb der EU und in externen Foren«.
Auf den ersten Blick erstaunt die Stoßrichtung dieser Initiative. In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) existiert kein institutionelles Defizit. Im Gegenteil: Mit Hilfe einer Fülle von Gremien gestaltet die EU ihre Außenbeziehungen, sowohl in strategischer Perspektive als auch in operativer Hinsicht. Die wenigen deutschen Ausführungen zum ESR hinterlassen daher bislang ein wenig den Eindruck, als müsste für dieses Gremium erst noch eine Aufgabe gefunden werden. Tatsächlich erscheint es nur dann sinnvoll, die Idee weiterzuverfolgen, wenn zwei Fragen eindeutig beantwortet werden können:
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Welche Defizite in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik könnte ein Europäischer Sicherheitsrat beseitigen?
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Welchen Mehrwert soll er im Institutionengefüge der EU bieten und welche Ziele könnten die EU und ihre Mitgliedstaaten mit seiner Hilfe besser erreichen?
Antwort auf die Defizite der EU‑Außenpolitik?
Die Gründe für das unzulängliche Außenhandeln der EU sind bekannt. Erstens ist der Weg zur Entscheidungsfindung in der EU zu lang. Größter Hemmschuh ist hier das Gebot der Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten. Die verschiedenartigen, oft geographisch bedingten Interessen sowie die Unterschiede in der Wahl außenpolitischer Mittel hindern die EU-Staaten daran, eine Außenpolitik zu betreiben, die mehr ist als der Ausdruck des kleinsten gemeinsamen Nenners. Daran kann auch die Hohe Vertreterin wenig ändern. Eine solche Politik reicht heute indes längst nicht mehr aus, wenn es darum geht, als Ordnungsmacht die Nachbarschaft der EU zu gestalten und den sie erschütternden Krisen und Konflikten zu begegnen. So verwundert es nicht, dass die EU in den diplomatischen Bemühungen zur Einhegung des Krieges in Syrien als kollektiver Akteur weitgehend abwesend ist. Bei der Konfliktbearbeitung in der Ukraine lassen die EU-Staaten der OSZE den Vortritt. Den militärischen Kampf gegen den internationalen Terrorismus führen die Vereinigten Staaten. Ihrer internationalen Allianz gegen den Islamischen Staat haben sich lediglich die Nato und einige EU-Staaten angeschlossen, nicht aber die gesamte EU. Weil sich die USA aus multilateralen Formaten und damit verbundenen internationalen Regelwerken zurückziehen, stehen die EU und ihre Mitgliedstaaten überdies vor der Frage, wie sie der eigenen Position mehr Gewicht verleihen können.
Zweitens fehlt in der EU eine exekutive Kraft mit der Befugnis, getroffene Entscheidungen umzusetzen. Mit dem langen Weg der Entscheidungsfindung korrespondiert eine oft mangelnde Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, die Beschlüsse auch auszuführen. Am augenfälligsten ist dieser Missstand in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Schlagendes Beispiel für die mangelnde Exekutivgewalt der EU sind ihre Battlegroups: Sie kommen nicht zum Einsatz, weil sich ausgerechnet diejenigen Staaten, die gerade eine solche Gruppe führen, gegen deren Verwendung sperren.
Integrationspolitischer Mehrwert durch den ESR?
Darüber hinaus müsste sich ein ESR in das Institutionengefüge der EU integrieren. Die Frage, die Deutschland seinen Partnern in diesem Zusammenhang beantworten muss, lautet: Wie lassen sich mit diesem neuen Gremium die Entscheidungen beschleunigen und die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU stärken? Vier Ausformungen mit unterschiedlichen politischen Ambitionen sind denkbar:
a) Der ESR beim Europäischen Rat: In dieser Form könnte das Gremium dazu dienen, die außen- und sicherheitspolitischen Schlussfolgerungen des Europäischen Rates (ER) besser sichtbar zu machen, sowohl für die Staatengemeinschaft als auch für die Bürgerinnen und Bürger der EU. Als Versammlung der Staats- und Regierungschefs ist der ER das maßgebliche Entscheidungsgremium in der EU. Er tritt zusammen, um die strategischen Interessen und Ziele festzulegen, so auch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Allerdings spielten außen- und sicherheitspolitische Themen bei den Sitzungen des Europäischen Rates bisher eher eine Nebenrolle. Ein Sicherheitsrat, organisiert als informelles Gremium am Rande der ER-Sitzungen, könnte Abhilfe schaffen. Seine Mitglieder hätten die Aufgabe, außen- und sicherheitspolitische Punkte auf die Agenda des Rates zu bringen und im Zusammenspiel mit der Hohen Vertreterin Stellungnahmen und Empfehlungen zu strategischen Fragen auszuarbeiten. Auf diese Weise könnte der ESR dazu beitragen, außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Kaum sinnvoll erscheint dagegen, den ESR aus sämtlichen Mitgliedern des ER zu bilden. Damit würde mehr institutionelle Komplexität, aber wenig politischer Mehrwert erzeugt. So besäßen Beschlüsse des ESR höchstens politische Bindungswirkung, »Aufträge« erteilen könnte er nicht. Auch würde er weder Entscheidungen beschleunigen noch die Handlungsfähigkeit der EU erhöhen.
b) Der ESR als Ad-hoc-Gremium mit 27 Außenministern: Eine Variante des ersten Modells wäre der ESR als Ad-hoc-Gremium. Der Europäische Rat würde den Außenministerrat grundsätzlich beauftragen, sich wenn nötig fallbezogen mit allen 27 Mitgliedern zu konstituieren, und zwar auf Einladung der Hohen Vertreterin. Hier stände weniger die strategische Weiterentwicklung der GASP im Mittelpunkt. Vielmehr würde der ESR als Krisenreaktionsmechanismus fungieren. Aufgrund der Bindewirkung bereits bestehender Dokumente und Politiken müsste der ESR die Haltung der EU gegenüber einer spezifischen Krise nicht neu definieren. Er müsste die Politiken der EU lediglich priorisieren und mit Hilfe des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) umzusetzen suchen. Sein Handeln wäre prinzipiell befristet und an das Mandat des ER gebunden. Mit Hilfe dieses Modells ließen sich die Entscheidungen beschleunigen. Ungewiss bliebe, ob die EU dadurch auch handlungsfähiger würde.
c) Der ESR als intergouvernementale Führungsgruppe: Eine dritte Möglichkeit wäre, das Gremium als Kontakt- oder Freundesgruppe zu konzipieren. Damit würde der Sicherheitsrat einen Trend in der GASP kanalisieren, nämlich europäische Außenpolitik durch Koalitionen der Willigen in und außerhalb der EU voranzubringen. Mitgliedstaaten schlagen diesen Weg immer wieder ein, um flexibler auf für sie zentrale Herausforderungen der internationalen Politik reagieren zu können. Mittlerweile sind Koalitionen der Willigen respektierte Praxis europäischer Außenpolitik. Die Hohe Vertreterin toleriert diese Staatengruppen, solange deren Handeln den vertraglichen Zielen dient und sie selbst sowie die übrigen Mitgliedstaaten darüber informiert werden. Ein Sicherheitsrat könnte dieses Handeln legitimieren. Er wäre eine Antwort auf den Ruf nach politischer Führung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ähnlich wie die Quad in der Nato, eine informelle Gruppe aus USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland, könnte ein Europäischer Sicherheitsrat aus wenigen (beitragswilligen und ‑fähigen) Mitgliedstaaten schnelle Entscheidungen treffen, die für seine Mitglieder bindend sind. Andere Mitgliedstaaten könnten sich diesen Entscheidungen anschließen, ohne jedoch das Recht zu haben, diese zu modifizieren. Ein so konstruiertes Gremium könnte den Kern einer ambitionierten, flexibilisierten EU-Außenpolitik bilden. Anders als die beiden zuvor skizzierten Varianten entspräche dieser Zuschnitt des ESR dem Anliegen, das Außenhandeln der EU »flexibler« zu gestalten. Fraglich ist gleichwohl, ob es der von Deutschland und Frankreich geforderten Möglichkeit »einer engeren Abstimmung innerhalb der EU und in externen Foren« Rechnung tragen kann.
d) Der ESR als supranationales Leitungsgremium: Theoretisch wäre der ESR auch als supranationales Leitungsgremium vorstellbar. In diesem Sinne würde er das oberste Entscheidungs- und Leitungsgremium der EU-Außenpolitik verkörpern. An seine Mitglieder müssten möglichst viele EU-Staaten das Recht delegieren, in ihrem Namen Beschlüsse zu Fragen der internationalen Politik zu fassen. In diesem Modell wäre der ESR Ausdruck und Ergebnis eines weitreichenden Vergemeinschaftungsschrittes, denn die nationalstaatlichen Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik wären auf den ESR übertragen worden. Zu den politischen Entscheidungen, die in seine Verantwortung fallen könnten, gehören die drei Instrumente der GASP: der Gemeinsame Standpunkt, die Gemeinsame Aktion sowie die Gemeinsame Strategie. Bislang müssen diese überwiegend einstimmig beschlossen werden. Ein solcherart konzipierter ESR würde, so wird erwartet, die EU zu weitreichenderem und schnellerem Handeln befähigen, sofern die Interessen und Positionen konvergieren. In diesem Szenario könnte die Hohe Vertreterin (analog zu den Vereinen Nationen) die Rolle der Generalsekretärin einnehmen. Der EAD würde dann als Generalsekretariat fungieren und damit weitestgehend die Aufgaben erfüllen, die ihm schon heute vertragsgemäß obliegen.
Auch wenn die Debatte um eine strategische Autonomie Europas gemäß der Globalstrategie der EU derzeit Fahrt aufnimmt, erscheint ungewiss, ob sie Reformen anzustoßen vermag. In vielen Mitgliedstaaten dominieren nationalstaatliche Beharrungskräfte, so dass Vertragsänderungen wenig realistisch erscheinen. Deshalb wird dieses Modell auf absehbare Zeit nicht zu verwirklichen sein.
Doch auch bei moderateren integrationspolitischen Ambitionen wird es schwierig werden, mit Hilfe eines ESR die Defizite der EU-Außenbeziehungen zu beheben und die Integration in diesem Politikfeld zu befördern. Zu klären wäre, ob und wie sich der ESR ins Institutionengefüge der EU integrieren ließe, wer ihm angehören will und soll, wofür er zuständig sein soll und wie er seine Entscheidungen zu treffen hat.
Stellung gegenüber dem institutionellen Gefüge der EU
Nimmt man das bestehende Institutionengefüge der GASP in den Blick, wird klar, dass der ESR gerade im ersten Szenario ein zentrales Problem im Außenhandeln der EU verstärken würde. Hier existiert nämlich bereits eine Fülle von Gremien, welche die EU-Außenbeziehungen sowohl in strategischer Perspektive als auch in operativer Hinsicht gestalten. Ein Europäischer Sicherheitsrat ohne exekutive Befugnisse droht diese Strukturen zu duplizieren.
Im Institutionengefüge der EU-Außenbeziehungen würde der ESR wohl neben dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) stehen. Gemäß Artikel 38 des Vertrags über die Europäische Union tritt das PSK in der Regel zweimal pro Woche zusammen, um Entscheidungen in GASP-Fragen vorzubereiten und die Durchführung von Einsätzen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu überwachen. Da alle EU-Mitglieder im Bereich der GASP repräsentiert sein müssen, müsste das PSK erhalten bleiben und würde durch den ESR ergänzt, der indes nicht Teil der GASP-Strukturen wäre. Problematisch an dieser Konstellation ist zum einen, dass der ESR die bereits erkennbare Tendenz einer Informalisierung von Entscheidungsstrukturen in der Außen- und Sicherheitspolitik weiter vorantreiben und »formalisieren« wird. Weitere mögliche negative Folgen einer solchen Konstruktion des ESR wären Verantwortungsdiffusion, mehr institutionelle Blockaden sowie eine Verstetigung des ohnehin drängenden Kohärenzproblems in den EU-Außenbeziehungen. Zudem wirft die Einrichtung eines neuen außenpolitischen Gravitationszentrums außerhalb der EU-Institutionen die Frage auf, welche Aufgaben die Hohe Vertreterin und der mit dem Vertrag von Lissabon geschaffene EAD in diesem Gefüge wahrnehmen würden.
Allerdings sieht der Lissabonner Vertrag keinen Europäischen Sicherheitsrat vor. Unter den gegenwärtigen rechtlichen Voraussetzungen müsste der ESR deswegen zwangsläufig außerhalb des institutionellen Gefüges der EU-Außenbeziehungen angesiedelt werden. Im Kern könnte das von Deutschland und Frankreich avisierte Gremium nur über eine Vertragsrevision in das EU-System eingebettet werden.
Mitgliedschaft
Mit der Einrichtung eines Europäischen Sicherheitsrates dürften sich vor allem die kleineren EU-Mitgliedstaaten schwertun. Das wäre der Fall, wenn das PSK, in dem sie Sitz und Stimme haben, abgewertet würde zugunsten des neuen Gremiums, in dem sie je nach Repräsentations- und Rotationsverfahren nicht vertreten sind. Daher ist die Frage der Mitgliedschaft in einem ESR zuvorderst zu klären, damit sich die Bruchlinien innerhalb der EU nicht vertiefen.
Einen Anhaltspunkt für die Repräsentation in einem künftigen ESR können die Vereinten Nationen liefern. Von ihren 193 Mitgliedstaaten sind 15 im Sicherheitsrat vertreten, darunter die fünf ständigen Mitglieder Großbritannien, Frankreich, Russland, China und USA. Die nichtständigen Mitglieder werden von der Generalversammlung der Vereinten Nationen für je zwei Jahre nach einem regionalen Schlüssel aus dem Kreis der VN-Mitgliedstaaten gewählt. Drei Sitze entfallen auf afrikanische Staaten, je zwei auf Staaten aus Asien, Lateinamerika und Europa (einschließlich der übrigen Staaten der Welt) sowie ein Sitz auf Länder aus Osteuropa.
Rechnerisch kommt in den VN also ein Sitz im Sicherheitsrat auf 12,86 Mitgliedstaaten. Bei künftig 27 EU-Mitgliedstaaten bestände der ESR dazu analog aus gerade einmal ein bis drei Mitgliedern. Unter dem Aspekt der Repräsentation erscheint dies wenig plausibel. Gleichwohl empfiehlt es sich, die Zahl der Mitglieder überschaubar zu halten (wohl zwischen sechs und neun), einen regionalen Schlüssel anzuwenden und die Tätigkeit im EU-Sicherheitsrat zeitlich zu begrenzen. Die EU müsste jedoch in Kauf nehmen, dass ein Verzicht auf ständige Mitglieder je nach Rotationsrhythmus Phasen des Sicherheitsrates zur Folge hätte, in denen er ausschließlich aus kleineren EU-Staaten bestände. Wie dies seine Legitimation innerhalb wie außerhalb der EU beeinflussen würde und welche Auswirkungen dies auf seine exekutive Kompetenz hätte, ist nicht abzusehen. Attraktiver mit Blick auf Handlungsfähigkeit und Durchsetzung von Vereinbarungen scheint die Idee eines Direktoriums, um das sich mittlere und kleinere Mitgliedstaaten gruppieren, die nach dem Rotationsprinzip im ESR vertreten wären. Allerdings dürfte es bei vielen Mitgliedstaaten auf Unverständnis stoßen, wenn Deutschland und Frankreich eine derart prominente Stellung eingeräumt würde. Deshalb besteht die Gefahr, dass zahlreiche Mitgliedstaaten den ESR ablehnen würden.
Abstimmungsverfahren: Vetorecht – Einstimmigkeit – Mehrheitsentscheidungen?
Wie im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen käme es auch im ESR wesentlich auf das Abstimmungsverfahren an. Als Siegermächte des Zweiten Weltkriegs oder deren Nachfolger besitzen die fünf ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrates ein Vetorecht und damit besondere Kompetenzen. Jeder dieser Staaten kann allein einen Beschluss des Sicherheitsrates verhindern. Mit diesem Privileg trägt die VN-Charta trotz der rechtlichen Gleichheit aller Mitglieder in der Generalversammlung den realen Machtverhältnissen der internationalen Politik Rechnung. Sie bindet Großmächte damit in besonderer Weise in die Verantwortung ein. Im Gegenzug verleihen die Großmächte dem Handeln der Vereinten Nationen erst politisches Gewicht.
Ähnliche Gesichtspunkte dürften den Erwägungen zum Abstimmungsverfahren im ESR zugrundeliegen: Die Verpflichtung zur Einstimmigkeit wird nicht die Grundlage sein können, da dieses Prinzip in der EU im Bereich der GASP angewandt wird und die Handlungsfähigkeit Europas gerade beschränkt. Stattdessen werden Varianten von Mehrheitsentscheidungsverfahren heranzuziehen sein, gegebenenfalls mit Quoren. Um das politische Gewicht des ESR zu erhöhen, wird man jenen Staaten Europas eine Vorzugsstellung einräumen müssen, die aufgrund ihrer Ambitionen und Ressourcen besondere Verantwortung für die außenpolitische Handlungsfähigkeit Europas tragen. Sie könnten entweder durch einen ständigen, nichtrotierenden Sitz oder aber durch eine Vetoposition bei Abstimmungen privilegiert werden. Eine solche Praxis wird jedoch mit dem Anliegen der größtmöglichen Repräsentation der Staaten Europas kollidieren und birgt die Gefahr, zu einer europäischen Außenpolitik der zwei (oder mehr) Geschwindigkeiten zu führen. In diesem Sinne würde die europäische Außenpolitik exklusiver oder »französischer«, sowohl durch die finanziellen Beiträge als auch durch die Teilnahme an Operationen. Bereits bei der Ausgestaltung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) hat Frankreich für eine ambitionierte Umsetzung der Zusammenarbeit plädiert und von seinen EU-Partnern mehr Engagement für die gemeinsame Verteidigung gefordert. Ob Paris aber seinerseits bereit wäre, den eigenen Sitz im VN-Sicherheitsrat mittelfristig zu europäisieren, muss dahingestellt bleiben. Der Druck in diese Richtung würde durch einen ESR jedenfalls steigen.
Die europäische Rolle im VN‑Sicherheitsrat
Eine weitere Zweckbestimmung des ESR tritt hinzu: Langfristig, so darf man die Aussagen der Bundeskanzlerin verstehen, soll der Europäische Sicherheitsrat die europäische Rolle im VN-Sicherheitsrat verstärken. So hat sie vorgeschlagen, die nichtständigen Sitze von EU-Mitgliedern dort zu europäischen Sitzen zu entwickeln. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht kann die EU als solche zwar auf internationaler Ebene agieren und ihren Standpunkt zu Konflikten, Menschenrechtsfragen oder anderen Themen zum Ausdruck bringen. Offen ist, wie weit diese »Europäisierung« gehen kann und wird: Eine Koordination der jeweiligen nationalen Position im VN-Sicherheitsrat mit denen der europäischen Partner sollte im Sinne eines kohärenten Außenhandelns selbstverständlich sein und wird bereits praktiziert. Das gilt zum Beispiel für den französischen und den deutschen Vorsitz im VN-Sicherheitsrat im März beziehungsweise April 2019. Da die EU jedoch kein Vollmitglied der VN ist, wird es nicht möglich sein, nichtständige europäische Sitze (im Sinne von EU-Sitzen) im Rahmen des bestehenden Verfahrens einzurichten. Seit Mai 2011 verfügt die EU zwar über einen »erweiterten Beobachterstatus« in der Generalversammlung der Vereinten Nationen, besitzt aber kein Abstimmungsrecht. Hier wird die deutsch-französische Initiative also an rechtliche Grenzen stoßen.
Schließlich ist ein weiteres politisches Caveat anzubringen: Die Idee eines EU-Sitzes im VN-Sicherheitsrat wäre vor allem als ständiger Sitz sinnvoll und nachvollziehbar, der den britischen und den französischen Sitz ersetzen würde. Er könnte den Einfluss der EU in der internationalen Politik deutlich erhöhen und den Willen Europas unterstreichen, unabhängig von anderen seine Außenbeziehungen zu gestalten. Ungeachtet der politischen Widerstände aus Paris und London wäre ein EU-Sitz aber nur als Teil der seit gut 25 Jahren angestrebten umfangreichen Reform des VN-Sicherheitsrates vorstellbar. Im Zuge dieser Reform müssten auch andere Regionalorganisationen einen Sitz im Sicherheitsrat erhalten.
Zuletzt hat sich Außenminister Maas im September 2018 in seiner Rede vor der VN-Generalversammlung für eine Reform des VN-Sicherheitsrates ausgesprochen. Das Gremium habe sich seit 1945 kaum verändert, obwohl sich die Weltbevölkerung seitdem verdreifacht und die Zahl der VN-Mitglieder fast vervierfacht habe: »Wir sollten deshalb aufhören, uns im Kreis zu drehen und endlich echte Verhandlungen über eine Reform beginnen – so wie es die übergroße Mehrheit der Mitgliedstaaten seit langem will.« Schon seit Beginn der 1990er Jahre wird immer wieder über eine Reform diskutiert. Die G4-Staaten Brasilien, Deutschland, Indien und Japan haben etwa vorgeschlagen, sowohl die Zahl der ständigen als auch die der nichtständigen Sitze zu erhöhen.
Das Verhältnis zum VN-Sicherheitsrat
Auch wenn der ESR vordergründig als Instrument der GASP konzipiert zu sein scheint, verweist die Namensanalogie zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – möglicherweise ungewollt – darauf, dass der ESR ähnliche Strukturen, Aufgaben und Instrumente sowie einen Bezug zum VN-Gremium besäße. Das führt zu einer weiteren Frage, die bei der Einrichtung eines Europäischen Sicherheitsrates beantwortet werden muss: In welchem Verhältnis steht dieser zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen?
Allein der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trägt nach Artikel 24 der VN-Charta die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Sein Wirkungsbereich ist also geographisch nicht eingeschränkt. Zwar sieht die Charta in Artikel 52ff »regionale Abmachungen oder Einrichtungen« vor, die Maßnahmen regionaler Art zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit umsetzen können. Allerdings unterliegen sie den Prinzipien und Strukturen der VN-Charta, sind also keine autonom handelnden oder gar konkurrierenden Organisationen. Selbst wenn ein Europäischer Sicherheitsrat seine Aktivitäten auf Europa beschränkte, entfiele diese Maßgabe nicht. Folglich könnte dieses neue Gremium keine eigenständige Legitimation jenseits der Willensbildung des VN-Sicherheitsrates beanspruchen. Dies gilt auch für die deutsch-französische Vereinbarung, deren Ziel es ist, die Rolle Europas in der Welt zu stärken, das heißt sicherheitspolitisch über Europa hinaus zu wirken.
Noch schwieriger könnte sich das Verhältnis der beiden Sicherheitsräte gestalten, wenn es um die Befugnisse bei der Friedenssicherung geht, der Domäne des VN-Sicherheitsrates: Stellt dieser eine Bedrohung der internationalen Sicherheit, einen Friedensbruch oder eine Angriffshandlung fest, verfügt er über eine ganze Bandbreite an möglichen Reaktionen.
Unwahrscheinlich dürfte sein, dass der VN-Sicherheitsrat diese Aufgaben für den europäischen Kontinent oder die europäische Nachbarschaft an den avisierten Europäischen Sicherheitsrat delegieren würde, denn dies würde seine zentrale Stellung im VN-System und in der internationalen Politik insgesamt erheblich schwächen. Zudem betrachten alle fünf ständigen Mitglieder diese exponierte institutionelle Rolle als Ausdruck ihres besonderen Machtstatus in der internationalen Politik. Diesen werden sie nicht aufgeben wollen, wie sich an den bislang ergebnislosen Debatten über eine Reform des VN-Sicherheitsrates ablesen lässt. Europas sicherheitspolitisches Handeln im Bereich des Krisenmanagements müsste also je nach Ausgestaltung dieses Politikfeldes vom VN-Sicherheitsrat autorisiert werden. Das wiederum würde den drei Sicherheitsratsmitgliedern USA, China und Russland eine explizite Vetoposition in Fragen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik einräumen. Dass dies im Sinne des deutsch-französischen Vorschlags ist, muss bezweifelt werden.
Selbst wenn sich die europäische Politik auf diese Form politischer Unterordnung einließe, setzte ein solcher institutioneller Dualismus erfahrungsgemäß langwierige Verhandlungen voraus. Insofern müsste von deutscher Seite präzisiert werden, was mit »gestärkter Handlungsfähigkeit« und »schnellerem Agieren« gemeint ist. Denn beide Begriffe deuten darauf hin, dass der Europäische Sicherheitsrat offensichtlich mehr sein soll als ein loses multilaterales Konsultationsforum, sondern dass ihm exekutive Kompetenzen zuwachsen sollen. Seine Beschlüsse werden indes keine bindende Wirkung für den VN-Sicherheitsrat haben können. Nicht nur ist dessen rechtlicher Primat unangefochten. Auch wird eine Art imperatives Mandat des Europäischen Sicherheitsrates gegenüber den beiden europäischen Mitgliedern des VN-Sicherheitsrates politisch nicht durchsetzbar sein.
Fazit
Der deutsche Vorschlag, einen Europäischen Sicherheitsrat ins Leben zu rufen, ist bislang vage geblieben, weniges ist im Detail ausbuchstabiert. Ein solches Projekt geht mit zahlreichen Kontroversen zwischen den EU-Mitgliedern einher. Die Umsetzung der deutschen Idee kann nur gelingen, wenn der Zugewinn an Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit für die Mitgliedstaaten der EU ihre Einbußen an außen- und sicherheitspolitischer Souveränität wettmacht. Angesichts der wenig integrationsfreundlichen Stimmung in zahlreichen Mitgliedstaaten liegt es jedoch auf der Hand, dass das Projekt eines ESR nicht als integrationspolitischer Quantensprung zu konzipieren ist. Deswegen kann der deutsche Vorschlag bestenfalls darauf abzielen, eine außen- und sicherheitspolitische Führungsgruppe zu etablieren. Löst man diese aus dem EU-Rahmen heraus, eröffnete sich die Möglichkeit, auch von Beiträgen und Fähigkeiten etwa Großbritanniens oder Norwegens zu profitieren. Gleichwohl birgt ein solches Vorgehen die Gefahr, die GASP/GSVP zu schwächen. Aus diesem Grund sollte sich die Bundesregierung überlegen, ob ihr Vorhaben, Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik auszuweiten, nicht besser geeignet ist, die EU entscheidungsfähiger zu machen.
Dr. habil. Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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