Das Coronavirus ist mehr als eine medizinische Herausforderung für die Islamische Republik. Es verschärft die Legitimitätskrise der Führung und lässt die Religion in den Hintergrund treten, meint Azadeh Zamirirad.
Im Februar wurde erstmals bekannt, dass das Coronavirus auch die Islamische Republik erfasst hat. Nur wenige Wochen später galt Iran bereits als Epizentrum von COVID-19 im Nahen und Mittleren Osten. Dabei stellt die Coronakrise mehr als nur eine medizinische und wirtschaftliche Herausforderung dar, die Iran unter externem Sanktionsdruck bewältigen muss. Sie hat auch langfristige gesellschaftspolitische Folgen für den iranischen Staat.
Die religiöse Hochburg Ghom gilt als Ausgangsort der Coronakrise in Iran. Dass sich das Virus in Pilgerstädten wie Ghom und Maschhad schnell ausbreiten konnte, ist wenig überraschend. Allein der Imam Reza Schrein in Maschhad wird von schätzungsweise 20 Millionen Menschen pro Jahr besucht. Dennoch vergingen vier Wochen, bevor spirituelle Zentren des Landes geschlossen wurden. Die Entscheidung war medizinisch notwendig, aber keineswegs selbstverständlich. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Islamischen Republik, dass die Regierung Moscheen schließt, Freitagspredigten absagt und Pilgerfahrten unterbindet. Dass ausgerechnet eine islamische Republik in Zeiten der Krise den Zutritt zu religiösen Stätten verwehrt, sorgt in Teilen ihrer sozialen Basis für Unmut. In Ghom und Maschhad kam es zu Protesten, die von lokalen Geistlichen unterstützt wurden. Sicherheitskräfte mussten Gläubige davon abhalten, sich gewaltsam Zutritt zu bedeutenden schiitischen Schreinen zu verschaffen. Die Coronakrise versetzt den theokratischen Staat in eine ungewohnte und missliche Lage. Er muss nicht nur religiöse Rituale aussetzen, die wesentlich für sein politisches Selbstverständnis sind, sondern Gläubige aktiv davon abhalten, diese Rituale auszuüben. In der Krise stellt die Regierung die Religion vorerst zurück, und das mit Zuspruch des Revolutionsführers, der höchsten religiösen Instanz im Staat.
Die Coronakrise wirkt sich nicht nur auf die Stellung der Religion aus, sondern auch auf den Glauben. Die Schließung von Schreinen, die über Jahrhunderte als Orte der Immunität und Heilung galten, kommt einer Entmystifizierung schiitischer Glaubensauffassungen gleich. Auch der in den vergangenen Jahren von Staatsseite beförderte Trend zu alternativer Medizin wie »islamischen Heilmitteln« musste der Realität weichen. Corona zeigt für alle sichtbar auf, wo Glaube und Aberglaube unweigerlich an ihre Grenzen stoßen. Einige Kleriker befürchten bereits eine theologische Krise und warnen vor einer iranischen Renaissance, die eine Abkehr von der Religion zur Folge hätte. Anhänger eines säkularen Staates sehen in Corona dagegen eine Chance für eine graduelle kulturelle Transformation in Iran. Der Gedanke speist sich aus der Vorstellung, dass auch in Europa einst eine Epidemie – die Pest – zur Entzauberung der Religion beigetragen und damit der Renaissance den Weg geebnet habe. Vor dem Hintergrund der Coronakrise gewinnt insbesondere die Idee des Säkularismus neuen Auftrieb. Eine Trennung von politischer und religiöser Sphäre steht im fundamentalen Widerspruch mit dem Ordnungskonzept der Islamischen Republik, die säkulare Bestrebungen kategorisch zurückweist. Doch mit der aktuellen Krise wird auch die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat unweigerlich neu aufgeworfen, mit der sich iranische Philosophen, Soziologen und Geistliche nicht erst seit Gründung der Islamischen Republik beschäftigen.
Schließlich hat die aktuelle Krise das Legitimitätsproblem der Islamischen Republik verschärft. Mit Blick auf die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Revolution und die Parlamentswahlen im Februar hatte die iranische Führung Coronafälle im eigenen Land lange Zeit nicht öffentlich gemacht. Doch auch nachdem Iran die ersten Toten zu vermelden hatte, reagierte der Staat nur zögerlich. Innenpolitische Machtkämpfe führten zu Abstimmungsproblemen und erschwerten das Krisenmanagement zusätzlich. Das mangelnde Vertrauen in den Staatsapparat zeigte sich deutlich, als ein wesentlicher Teil der Bevölkerung nach Ausbruch der Krise den Anweisungen der Regierung nicht nachkam. Zu groß war das Misstrauen gegenüber einem Staat, der Informationen zurückgehalten und die Situation lange selbst nicht ernstgenommen hatte. Seit der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten im November 2019 und dem Abschuss eines Passagierflugzeugs durch die eigenen Revolutionsgarden hat die iranische Führung merklich an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung eingebüßt. Der anfängliche Umgang mit der Coronakrise hat die Wahrnehmung verstärkt, dass der Staat den Herausforderungen der Zeit nicht gewachsen ist. Kritiker des Systems, die der Islamischen Republik per se die Legitimität absprechen, sehen in der Coronakrise eine weitere Bestätigung klerikaler Inkompetenz. Die Krisendichte der letzten Monate und die Art ihrer Bewältigung hat aber auch unter Anhängern des Systems Zweifel gesät. Damit hat die Legitimitätsfrage nun auch die soziale Basis der Islamischen Republik erreicht.
Dass die iranische Führung die Religion zeitweise hintanstellte, ist kein neues Phänomen. Sie hat politischen Erfordernissen stets den Vorrang erteilt, wenn sie dem System als zweckdienlich galten. Doch in der aktuellen Krise muss die Religion ungewöhnlich weit in den Hintergrund treten. In ihrer institutionalisierten Form ist sie erstmals weitgehend aus dem Alltag der Bevölkerung entrückt. Schon bald werden religiöse Stätten wieder zugänglich sein, doch der Glaube hat an gesellschaftlicher Relevanz eingebüßt. Bedeutende schiitische Schreine werden vielen nicht als Orte der Erlösung, sondern als Sinnbilder einer Pandemie in Erinnerung bleiben. Derzeit sinken die Infektionsraten landesweit, aber nach der Bewältigung der Coronakrise wird die iranische Führung vor neuen gesellschaftspolitischen Herausforderungen stehen.
Dieser Text ist auch bei Zeit Online erschienen.