Die Personenfreizügigkeit gilt als eine der zentralen Errungenschaften der Europäischen Union. Auch wenn das Schengener Abkommen die schwierigste Phase der Flüchtlingskrise überstanden hat, droht bei dem Thema eine neue Konfrontation. Spätestens im November 2018 wird es aufgrund der in der Schengen-Verordnung vorgesehenen Fristen kaum noch möglich sein, die seit 2015 bestehenden Binnengrenzkontrollen, die Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweden, Dänemark und Norwegen temporär eingeführt haben, mit EU-Recht in Einklang zu bringen. Es besteht die Gefahr, dass der gemeinsame Rechtsrahmen aufgrund innenpolitischer Erwägungen zunehmend ausgehöhlt wird oder dass einzelne Länder, insbesondere Dänemark, aus dem Schengen-Regime aussteigen. Gerade im Hinblick auf die nordischen Staaten, deren Kontrollen in der europäischen Debatte bislang weniger Beachtung fanden, mutet der Bruch mit dem jahrzehntelang praktizierten Prinzip offener Grenzen drastisch an. Es ist deshalb dringend notwendig, einen Kompromiss zu finden, der die vollständige Personenfreizügigkeit im Schengen-Raum wiederherstellt, aber gleichzeitig die Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten stärker berücksichtigt. Deutschland als maßgeblicher Auslöser der Grenzkontrollen hat hierbei eine zentrale Rolle zu übernehmen.
Sechs Schengen-Mitgliedstaaten führten in der Hochphase der Flüchtlingskrise zwischen Herbst 2015 und Frühjahr 2016 Kontrollen an einigen ihrer europäischen Binnengrenzen ein. Deutschland machte am 13. September 2015 an der Grenze zu Österreich den Anfang, um den Zustrom von Schutzsuchenden besser erfassen zu können. Wenige Tage später zog Österreich an seiner Südgrenze mit Maßnahmen zur Kontrolle der »Balkanroute« nach. Als weitere Hauptzielländer für Asylsuchende unternahmen Schweden, Dänemark und Norwegen ab November 2015 vergleichbare Schritte, um die wichtigsten Land-, Brücken- und Fährverbindungen untereinander und in Richtung Deutschland zu überwachen. Die nordischen Länder sprachen sich dabei kaum miteinander ab. Ihre Maßnahmen standen in scharfem Widerspruch zum Prinzip eines grenzenlosen Nordens. Frankreich sah sich derweil aufgrund der Terroranschläge vom 13. November 2015 gezwungen, den nationalen Ausnahmezustand auszurufen. Nicht zuletzt weil sich die Attentäter zuvor frei in Europa bewegt hatten, führte Paris parallel dazu wieder Grenzkontrollen ein. Ende 2015 attestierte eine von der EU-Kommission geleitete Schengen-Evaluation Griechenland schwerwiegende systematische Mängel beim Außengrenzschutz. Dies führte zu Überlegungen, Griechenland zeitweise als Vollmitglied der Schengen-Zone zu suspendieren. Um diesen Schritt abzuwenden, beschloss der Rat im Mai 2016, Binnengrenzkontrollen als Ausgleichsmaßnahme zuzulassen.
Dieser Mechanismus war erst 2013 als Antwort auf eine frühere Krise des Schengen-Regimes eingerichtet worden, die sich nach dem sogenannten Arabischen Frühling zwischen Italien und Frankreich an der irregulären Ein- und Weiterreise nordafrikanischer Staatsangehöriger entzündet hatte. Nachdem es nicht gelungen war, einen offiziellen Verteilungsmechanismus zur Unterstützung Italiens zu etablieren, wurden die von Frankreich einseitig durchgeführten Grenzkontrollen eingehegt. Gemäß dem neu eingeführten Artikel 29 des Schengen-Kodex sollten derartige Binnengrenzkontrollen nur dann für mehr als sechs Monate und für bis zu zwei Jahre erlaubt sein, wenn der EU-Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit eine systematische Gefährdung der gesamten Schengen-Zone anerkennt. Ein solcher Entschluss wurde mit Blick auf die Lage in Griechenland im Mai 2016 zum ersten Mal gefasst und in der Folge durch Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden sowie Norwegen genutzt.
Frankreich ging hingegen erneut einen Sonderweg und verlängerte seine Grenzkontrollen mit Verweis auf die anhaltende terroristische Bedrohung. Der dafür genutzte Artikel 25 der Schengen-Verordnung schließt nicht ausdrücklich aus, dass Phasen der Kontrolle im Dienste der inneren Sicherheit direkt hintereinander ausgerufen werden können, auch wenn jede einzelne auf bis zu sechs Monate befristet sein muss. Angesichts der erneuten schweren Terroranschläge am 22. März 2016 in Brüssel wurde diese Auslegung der Schengen-Verordnung nicht offen kritisiert. Vielmehr drängte der EU-Ministerrat auf eine weitere Stärkung der Sicherheitsaspekte Schengens, insbesondere auf obligatorische wie informationstechnisch gestützte Personenkontrollen an allen Außengrenzen.
Generell wurde die Debatte zu dieser Zeit von der Befürchtung beherrscht, dass der Schengen-Raum vollständig auseinanderbrechen könnte. Die Handels- und Wohlfahrtseinbußen, die eine Wiedereinführung umfassender Binnengrenzkontrollen mit sich brächte, wären auf mindestens 0,15 Prozent des EU-Bruttosozialprodukts oder 63 Milliarden Euro pro Jahr zu schätzen. Die an den ungarischen und slowenischen Schengen-Außengrenzen – sowie einem Binnengrenzabschnitt Österreichs – errichteten Zäune aber veranschaulichten besonders drastisch, welche Auswirkungen eine solche Entwicklung haben konnte. Dabei wird die Personenfreizügigkeit von europäischen Bürgern regelmäßig als größte Errungenschaft der EU eingestuft. Selbst als sich im Frühjahr 2016 durch die Schließung der Balkan-Route und die Vereinbarung mit der Türkei eine Trendwende bei der irregulären Zuwanderung abzeichnete, bezeugte das Brexit-Referendum von Juni des Jahres, dass der zeitweilige Kontrollverlust an den EU-Außengrenzen die Legitimität des Schengen-Regimes existentiell beschädigt hatte. Deshalb wurden die anhaltenden Binnengrenzkontrollen der sechs Länder auch danach als notwendiger und verhältnismäßiger Krisenreaktionsmechanismus befürwortet.
Zudem minimierten die sechs Staaten den Umfang dieser Kontrollmaßnahmen oder passten sie schrittweise an. Während Deutschland ohnehin nur einen kleinen Teil der Grenzübergänge nach Österreich überwachte, ging beispielsweise die schwedische Regierung im Mai 2017 dazu über, die vorher systematische Identitätsüberprüfung aller Zugreisenden von Dänemark nach Schweden nur noch stichprobenartig durchzuführen. Damit wurde der Druck auf die grenzüberschreitende Wirtschaft und die zahlreichen Pendler im Großraum Kopenhagen-Malmö erheblich verringert. Zugleich ermöglichte der Aufbau neuer technischer Systeme zusätzliche Kontrollen ohne größere Verkehrsbehinderungen. So wurde etwa die Überwachung des Grenzverkehrs an der Öresundbrücke durch automatische Scansysteme für Nummernschilder und den Einsatz von Röntgenkameras verstärkt, auch unter dem Eindruck des Terroranschlags von Stockholm im April 2017.
Anschwellende Krise seit Herbst 2017
Im Zuge dieser Entwicklungen empfahl die Europäische Kommission, dass bis spätestens Winter 2017 alle verbliebenen stationären Binnengrenzkontrollen abgebaut werden sollten. Zwar verstärkte sich die irreguläre Zuwanderung über Libyen nach Italien. Allerdings konnte nicht mehr mit schwerwiegenden systemischen Risiken für die Schengen-Zone argumentiert werden. Der größte Teil der irregulären Einwanderer in Italien wurde von europäischen Schiffen aus Seenot gerettet und zunehmend in EU-Hotspots registriert. Darüber hinaus war im November 2017 die rechtlich zulässige dreimalige Verlängerung der Grenzkontrollen gemäß Artikel 29 des Schengen-Kodex ausgeschöpft. Als Ausgleich verwies die EU auf die Möglichkeit, Polizeikontrollen im grenznahen Raum zu intensivieren. Schließlich hob auch die französische Regierung den nationalen Ausnahmezustand im November 2017 auf.
Dennoch war keiner der betroffenen sechs Schengen-Staaten bereit, die Binnengrenzkontrollen wieder aufzuheben. Vielmehr lancierten sie – allerdings ohne die Beteiligung Schwedens – bereits im September eine Gesetzesinitiative, um die zulässige Höchstdauer vorübergehender Grenzkontrollen gemäß Artikel 29 von zwei auf vier Jahre zu erweitern. Weder dieser Vorstoß noch ein Kompromissvorschlag der Kommission (drei Jahre) fand jedoch hinreichende Unterstützung unter den anderen Schengen-Mitgliedern. Deshalb schwenkten Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen ab November 2017 zur Rechtfertigung ihrer Kontrollmaßnahmen von Artikel 29 auf Artikel 25 des Schengen-Kodex um. Mit diesem Schritt folgten sie dem Prozedere Frankreichs, das jeweils für sechs Monate Grenzkontrollen aus Gründen der inneren Sicherheit anmeldete. In der Praxis richteten sich die Kontrollen aber nach wie vor auf die irreguläre oder sekundäre Migration.
Seither wächst die Differenz zwischen geltendem EU-Recht und den politischen Debatten in den betroffenen Schengen-Mitgliedstaaten. So heißt es etwa im Berliner Koalitionsvertrag von März 2018, dass Binnengrenzkontrollen so lange vertretbar seien, bis der Schutz der EU-Außengrenzen effektiv funktioniere. Entsprechend wurde eine erneute sechsmonatige Verlängerung von Mai bis November 2018 angemeldet. Die Formulierung im Koalitionsvertrag und die parallele Praxis aller sechs kontrollierenden Staaten stehen jedoch in zunehmendem Widerspruch zur Schengen-Verordnung, die vorschreibt, dass Binnengrenzkontrollen das letzte und ein zeitlich befristetes Mittel sind. Auch die scharfe Kontroverse über die Zurückweisung von bereits registrierten Asylsuchenden an der deutsch-österreichischen Grenze fokussierte sich einseitig auf die Bestimmungen des Dublin-Verfahrens. Ob Kontrollen an der Grenze nach Österreich gemäß der Schengen-Verordnung langfristig bestehen bleiben dürften, wurde dagegen kaum thematisiert. Aus dieser Perspektive sollten die neuen Abkommen zur Zurückweisung und Rücknahme von Asylantragstellern aus Spanien, Griechenland und demnächst auch Italien nur vorübergehend anwendbar sein.
Auch in den nordischen Ländern verdichten sich die Anzeichen für eine Verstetigung der Grenzkontrollen. Der aktuelle Haushalt der dänischen Regierung sieht gut 30 Millionen Euro pro Jahr für den Grenzschutz vor. Es sind Investitionen, die sich auch in neuen Grenzinstallationen an der dänisch-deutschen Landgrenze manifestieren könnten. Fast alle Parteien Dänemarks und ein Großteil der Bevölkerung befürworten ein Festhalten an den Grenzkontrollen – eine Position, die durch die bisherige politische Rückendeckung für Grenzkontrollen durch große Länder wie Deutschland Aufwind bekommen hat. Ohne diese Unterstützung fiele es Dänemark schwerer, seine Interessen in der EU durchzusetzen.
Nachdem die schwedische Regierung bis Anfang 2018 die Position vertreten hatte, langfristig zur regulären Schengen-Praxis zurückkehren zu wollen, verbreitete sich auch dort während des Parlamentswahlkampfs im Sommer 2018 unter dem Druck der rechtsnationalistischen Schwedendemokraten die gegenteilige Überzeugung. So wurden im Juli bereits unter der bisherigen rot-grünen Regierung die Identitätskontrollen auf alle wichtigen internationalen Flughäfen und Häfen ausgeweitet. Die erwartete langwierige Regierungsbildung nach den Wahlen am 9. September lässt vorerst offen, wie sich Schweden endgültig positionieren wird. Vermutlich wird aber jedwede neue Regierung diese Politik vorerst fortführen.
Ohnehin priorisiert die österreichische EU-Ratspräsidentschaft, die noch bis Ende 2018 amtiert, die Stärkung des Außengrenzschutzes anstelle einer Wiederherstellung oder auch rechtlichen Anpassung des Schengen-Regimes. So organisierte das FPÖ-geführte Innenministerium bereits im Juni 2018 eine öffentlichkeitswirksame Übung, bei der – auch unter Einsatz militärischer Kräfte–die notfallartige Schließung aller Grenzübergänge nach Slowenien durchgespielt wurde. Der italienische Innenminister Salvini beruft sich derweil auf die fortwährenden französischen Personenkontrollen an der Grenze bei Ventimiglia, um seinen konfrontativen Kurs in der europäischen Migrationspolitik zu rechtfertigen. Erst müsse Frankreich diese Maßnahmen beenden, bevor er auf Ermahnungen eingehen könne, die italienischen Häfen für Flüchtlingsschiffe zu öffnen. Ungeachtet der Argumentation Salvinis muss man sich vergegenwärtigen, dass der erst 2013 geschlossene Kompromiss zur Ausgestaltung von längerfristigen Binnengrenzkontrollen nach Artikel 29 ausdrücklich zur Entspannung zwischen Italien und Frankreich beitragen sollte.
Andere Schengen-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament äußern sich zunehmend kritisch zur Fortführung der Binnengrenzkontrollen. So wird moniert, dass kaum noch nachvollziehbar sei, weshalb diese Praxis eine notwendige und effektive Maßnahme zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit darstellen solle. Gerade in Deutschland ist dieser Nachweis schwer zu erbringen, da die Kontrollen an der Grenze zu Österreich relativ leicht zu umgehen sind. Aber selbst stichprobenartige Grenzkontrollen lösen Verkehrsbehinderungen aus, die sich in nicht unerheblichem Maße auf transnationale Lieferketten, den grenznahen Pendlerverkehr und den Tourismus auswirken.
Schließlich wird in Ost- und Südosteuropa der Personenfreizügigkeit ein besonderer historischer und politischer Wert zugemessen. Die Haltung mehrerer westeuropäischer Staaten, Rumänien und Bulgarien eine Schengen-Vollmitgliedschaft möglichst lange zu verwehren, trägt dazu bei, dass die EU in dieser Region als ein Zweiklassensystem wahrgenommen wird. Einerseits werden osteuropäische Staaten streng bei der Einhaltung des Schengen-Rechts überwacht oder auch hart für ihre Flüchtlingspolitik kritisiert. Andererseits beugt sich die EU-Kommission dem Druck west- und nordeuropäischer Staaten, die Aussetzung der Fristen und vorgesehenen Verfahren für Binnengrenzkontrollen nicht in einem Vertragsverletzungsverfahren offen anzugehen.
Weiterentwicklung der Schengen‑Verordnung
Vor diesem Hintergrund brachte die bulgarische EU-Ratspräsidentschaft im Juni 2018 eine weitere Reform der Schengen-Verordnung auf den Weg, die derzeit im Europäischen Parlament beraten wird. Der Vorschlag zielt darauf sicherzustellen, dass das Schengen-Recht künftig unzweideutig ausgelegt und durchgesetzt werden kann. So soll die derzeitige Praxis von Kettenverlängerungen der auf sechs Monate befristeten Wiedereinführung von Grenzkontrollen verboten werden. Die Schutzmaßnahmen, bei denen sich die Staaten auf die Bedrohung der inneren Sicherheit berufen (Artikel 25), sollen die Dauer von einem Jahr nicht überschreiten und auch nicht mit anderen Rechtsgrundlagen zwecks Verlängerung kombiniert werden dürfen. Die aktuell bestehenden Kontrollen der sechs Schengen-Staaten müssten nach einer Verabschiedung dieser Regelung unmittelbar aufgehoben werden. Darüber hinaus sollen die Erfordernisse an die Dokumentation zur Rechtfertigung von Binnengrenzkontrollen deutlich erweitert werden. Für kurze Zeiträume bliebe die Entscheidung darüber jedem einzelnen Staat überlassen. Ab einer gewissen Dauer und Dimension der Kontrollmaßnahmen müssten jedoch umfassende Angaben zu deren Notwendigkeit sowie rückwirkend zu deren Wirksamkeit vorgelegt werden, wozu direkt betroffene Nachbarländer Stellung nehmen könnten. Somit bestünde kaum noch ein Unterschied zu einer gemeinschaftlichen Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit von länger praktizierten Binnengrenzkontrollen zum Zwecke der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, wie es bereits im Verfahren gemäß Artikel 29 vorgesehen ist.
Die innenpolitischen Debatten in den kontrollierenden Staaten sind derzeit jedoch kaum mit einer derartigen Wende des Schengen-Rechts in Einklang zu bringen. Eine Verabschiedung dieser Reform mit qualifizierter Mehrheit im EU-Ministerrat könnte deshalb zu scharfen Konflikten führen. Als letztes Mittel könnten die überstimmten Mitgliedstaaten versuchen, sich auf ihre primärrechtliche Kompetenz in Fragen der inneren Ordnung und Sicherheit nach Artikel 4(2) des EU-Vertrags zu berufen, um die sekundärrechtliche Verpflichtung des Schengen-Kodex zur Aufhebung von Binnengrenzkontrollen zurückzuweisen.
Ein Rückzug auf harte nationalstaatliche Positionen, die mit den Zwängen der Erhaltung der inneren Sicherheit gerechtfertigt werden, wäre aber mit Blick auf die aktuelle Migrationspolitik und die Rechtsstaatlichkeit in der EU mit besonderen Risiken verbunden. Sollten große EU-Staaten wie Deutschland in diese Richtung argumentieren, wäre es kaum noch möglich, einen effektiven gemeinschaftlichen Druck auf Staaten wie Polen und Ungarn aufrechtzuerhalten. Diese begründen ihre wachsende Missachtung des EU-Rechts mit dem vermeintlich notwendigen Schutz der eigenen Bevölkerung und Identität. Auch die italienische Regierung würde sich darin bestärkt sehen, auf nationale Alleingänge in der Migrations- und Grenzsicherungspolitik zu setzen. Selbst wenn die Interessen Italiens mit denen Ungarns in der Migrationspolitik kollidieren, droht im Vorfeld der Europawahlen 2019 bereits eine Allianz dieser Staaten zur Renationalisierung von Politik.
Schließlich würde ein mögliches weiteres Abrücken Deutschlands vom gemeinschaftlichen Schengen-Recht das Risiko aufwerfen, Spanien als Partner bei dem Bestreben zu verlieren, die Flüchtlingspolitik stärker zu europäisieren. Spanien hat wegen seiner Tourismus- und Exportwirtschaft ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Schengen-Regimes. Im Sommer 2018 wies Madrid bereits kritisch darauf hin, dass Frankreich an der gemeinsamen Grenze vermehrt kontrolliert. Insgesamt droht eine negative Wechselwirkung zwischen der Reform der Dublin-Verordnung, die eine Verteilung von Flüchtlingen erleichtern und die sekundäre Migration eindämmen könnte, und der fortschreitenden Erosion des Schengen-Rechts.
Risiken einer einseitigen Vergemeinschaftung
Umgekehrt könnte jedoch eine dogmatische Lösung, wonach alle Binnengrenzkontrollen schnell und vollständig aufgehoben werden müssen, die Desintegration der Schengen-Zone ebenfalls vorantreiben. So gilt in Dänemark das Schengen-Recht lediglich auf freiwilliger völkerrechtlicher Basis. Dies ist eine der Wirkungen des dänischen Sonderstatus in der EU-Justiz- und Innenpolitik. Bei einem Referendum im Dezember 2015 lehnte die dänische Bevölkerung die schrittweise Aufhebung des Vorbehalts ab. Konsequenterweise wurde bereits 2016 Dänemarks Vollmitgliedschaft bei Europol auf einen Beobachterstatus zurückgestuft. In der Vergangenheit hat Dänemark alle Anpassungen des Schengen-Rechts freiwillig übernommen. Damit kann künftig nicht mehr gerechnet werden. Bereits 2011 gab es in Dänemark konkrete Pläne zur Wiedereinführung von Passkontrollen an der Grenze zu Deutschland, angestoßen von der rechtsnationalistischen Dänischen Volkspartei. Damals stieß das Vorhaben in Brüssel und Berlin auf scharfe Kritik. Als im September 2011 eine Mitte-links-Koalition an die Regierung kam, schien sich das Thema erledigt zu haben. In der aktuellen Lage jedoch könnte Dänemark durch eine weitere Beschränkung der nationalen Freiheit, über Grenzkontrollen zu entscheiden, zu einem Opt-out aus einer entsprechend novellierten Schengen-Verordnung bewogen werden.
Die praktischen Auswirkungen einer solchen Entwicklung sind derzeit nicht absehbar. Im schlechtesten Fall würde Dänemark die uneingeschränkte Reisefreiheit in der Schengen-Zone und den Zugang zum Schengener Informationssystem verlieren. Dies hätte – im Widerspruch zum erhofften Sicherheitsgewinn durch Grenzkontrollen – nicht nur gravierende Folgen für die dänischen Sicherheitsinteressen, sondern würde auch den aktuellen Fragmentierungstrend in der EU befeuern und den Norden Europas von Zentraleuropa abgrenzen. Nicht zuletzt hätte ein solcher Schritt drastische Konsequenzen für die innernordischen Beziehungen, die seit Jahrzehnten auf dem Prinzip offener Grenzen basieren. So garantierte die 1954 gegründete Nordische Passunion allen Bürgern der beteiligten Staaten, die Grenzen zwischen ihren Ländern ohne Kontrollen und sogar ohne Pass überqueren zu dürfen. Um die innernordische Personenfreizügigkeit nach dem Beitritt der EU-Mitglieder Dänemark, Finnland und Schweden zum Schengen-System im Jahr 2001 aufrechterhalten zu können, folgten auch die Nicht-EU-Mitglieder Norwegen und Island diesem Schritt. Geschätzt wurde das Schengener Abkommen im Norden jedoch nie. Vor allem die Öffnung der EU-Binnengrenzen in Richtung Mitteleuropa war mit Ängsten vor wachsender Zuwanderung, Kriminalität und Schmuggel verbunden.
Um die Isolation eines einzelnen nordischen Landes zu vermeiden, brachte der dänische Ministerpräsident Rasmussen bereits Anfang 2016 ein nordisches »Mini-Schengen« ins Spiel. Diese Lösung hätte zur Folge, dass man gemeinsam an den Außengrenzen der nordischen Länder Passkontrollen gegen illegale Einwanderung durchführen und im Gegenzug auf die Fortsetzung von Kontrollen an den innernordischen Grenzen verzichten würde. De facto käme dies einer Rückkehr zur Nordischen Passunion und einer Abkehr von der Schengen-Mitgliedschaft gleich. Die schwedische Regierung signalisierte damals zwar ihre generelle Zustimmung zu einer Vertiefung der Sicherheitskooperation mit Dänemark, reagierte jedoch reserviert auf die Idee gemeinsamer Kontrollen. Die Innen- und Justizminister der fünf nordischen Länder einigten sich bei einem Treffen am 1. Juni 2018 lediglich auf eine Verstärkung der grenzüberschreitenden operativen Polizeizusammenarbeit, einschließlich gemeinsamer Streifen in Grenzregionen, jedoch primär ausgerichtet auf Kriminalitätsbekämpfung. Insofern ist derzeit offen, ob eine vertiefte nordische Kooperation als regionaler Rückhalt für das übergeordnete Schengen-Regime dient, ob sie im Falle wachsender europapolitischer Differenzen als eigenständige Alternative an Gewicht gewinnen könnte oder ob die nordische Zusammenarbeit selbst auseinanderbricht.
Der strategische Wert eines gemeinsamen Schengen-Rechts
Das Schengen-Regime hat in den vergangenen drei Jahrzehnten mehrere Krisen überwunden und als Ausgleich für die Gewährleistung der Personenfreizügigkeit zahlreiche Sicherheitsmechanismen entwickelt. Dies zeigt sich etwa beim Ausbau der Funktionalitäten und der Nutzungsverpflichtung des Schengener Informationssystems dort, wo es um die Bekämpfung schwerer Kriminalität und des Terrorismus und die verbesserte Durchsetzung von aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen geht. Zugleich gilt das Schengen-Regime als Paradebeispiel für flexible Integration, da es sowohl Nicht-EU-Mitglieder zulässt als auch Sonderassoziationen oder abgestufte Mitgliedschaften, wie etwa im Falle Irlands, erlaubt. Selbst wenn die Personenfreizügigkeit teilweise oder permanent eingeschränkt werden sollte, müsste dies die EU in keine existentielle Krise stürzen. Die politische Rhetorik, dass die EU scheitere, wenn Schengen scheitere, war lediglich zu Hochzeiten der Flüchtlingskrise nachvollziehbar.
Umgekehrt sollten sich die Staaten, die derzeit Grenzkontrollen durchführen, von ihren eingeschliffenen Argumentationsmustern lösen und die europapolitischen Folgen ihrer Entscheidung sorgfältig abwägen. Es bleibt nur wenig Zeit, um einen Kompromiss zwischen den Befürwortern eines Europas der offenen Binnengrenzen und den Verfechtern des Primats der Sicherheit auszuarbeiten. Schon ab Mitte November 2018 werden neue Spannungen zutage treten, wenn sich die sechs Staaten erneut für eine sechsmonatige Verlängerung ihrer Grenzüberwachungsmaßnahmen entschließen sollten, die Kommission aber weiter auf deren Aufhebung beharrt. Somit steigt das Risiko eines Vertragsverletzungsverfahrens noch vor Ende der aktuellen Legislaturperiode.
Der seit Sommer vorliegende Vorschlag zur Anpassung der Schengen-Verordnungen würde indessen dadurch, dass er eindeutige Fristen und Rechtfertigungspflichten definiert, dazu beitragen, das Vertrauen zwischen allen Schengen-Mitgliedstaaten wiederherzustellen. Eine Neubewertung der gültigen Schengen-Regeln würde auch dazu dienen, über den anstehenden Schengen-Beitritt Rumäniens, Bulgariens und Kroatiens sachgerecht entscheiden zu können. Dabei ist zu beachten, dass Rumänien 2019 und Kroatien 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehaben werden. Schließlich sollten die Kosten der derzeitigen Grenzkontrollen für regionale Wirtschaftsräume und kleinere Länder wie Slowenien nicht unterschätzt werden.
Eine besonders schädliche Entwicklung wäre hingegen ein gegenseitiges Blockieren der Vorschläge zur Reform von Schengen und der Dublin-Verordnung, die ebenfalls vor den Europawahlen 2019 zum Abschluss gebracht werden soll. Die nordwestlichen EU-Mitgliedstaaten haben ein legitimes Interesse daran, sekundäre Migrationsbewegungen einzudämmen und irreguläre Einwanderer gemäß der Dublin-Verordnung an Erstankunftsstaaten zu überstellen. Stationäre Grenzkontrollen sind dafür jedoch nur von eingeschränktem Nutzen, vor allem für Staaten mit langen Landgrenzen. Ungleich relevanter wäre die Reform des Dublin-Regimes oder auch nur die stringentere Umsetzung des aktuellen Rechts. Italien und zunehmend auch Spanien sehen die Erhaltung offener Grenzen als Voraussetzung für die Zusammenarbeit in diesen Dossiers.
Aber auch im Fall einer zeitnahen Einigung auf ein angepasstes Schengen-Recht könnte zumindest Dänemark eine noch stärkere Sonderrolle einnehmen. Verfolgt man den rechtsnationalistisch beeinflussten innenpolitischen Diskurs, so ist damit zu rechnen, dass die Fortführung nationaler Grenzkontrollen im Zweifel für wichtiger erachtet wird als die vollständige Übernahme einer novellierten Schengen-Verordnung. Auch in Schweden könnte nach der Regierungsbildung eine Richtungsentscheidung anstehen – zwischen einer eher EU‑zentrierten, einer nationalen und einer nordischen Herangehensweise an die Fragen von Grenzkontrollen und innerer Sicherheit. Diese Szenarien zeigen, wie bedeutsam ein vorausschauendes und strategisches Vorgehen bei der Bearbeitung der schwelenden Schengen-Krise ist. Ohne einen solchen Ansatz könnten Visionen regionaler Abschottung, wie sie etwa in der Idee eines nordischen oder westeuropäischen Mini-Schengen zum Ausdruck kommen und die Fragmentierung der EU verschärfen würden, an Attraktivität gewinnen.
Ausgleichsmaßnahmen für die Personenfreizügigkeit
Deshalb sollten sich die politischen Anstrengungen aller sechs betroffenen Schengen-Mitglieder darauf richten, den übergeordneten Wert und die handhabbaren Risiken offener Binnengrenzen herauszustellen und zugleich ein umfassendes Paket an sicherheitspolitischen Unterstützungsmaßnahmen auszugestalten. Dies gilt insbesondere für den Ausbau von Polizeikontrollen im grenznahen Raum bzw. der »Schleierfahndung«, wie sie in Deutschland und der Schweiz praktiziert wird. Ein solches Vorgehen hat die EU-Kommission bereits im März 2016 ausdrücklich empfohlen, sofern derartige Polizeikontrollen nicht systematischer, sondern verdachtsbasierter Natur sind. Die entsprechende Beachtung des Grundsatzes der Nicht-Diskriminierung ist in der polizeilichen Praxis allerdings nicht leicht zu gewährleisten. Dies ist 2010 vor dem Europäischen Gerichtshof und seither auch in mehreren nationalen Verfahren zur Sprache gebracht worden. Unter anderem auch deshalb haben die dänische und die schwedische Regierung die Intensivierung von grenznahen Polizeikontrollen als unzureichend bzw. als unvereinbar mit der nationalen Gesetzgebung zurückgewiesen. Norwegen dagegen folgte der Kommissionsempfehlung und lässt seine Polizei vermehrt im südlichen Grenzhinterland Personenüberprüfungen vornehmen.
Solche Differenzen sollten jedoch durch eine weitere Ausgestaltung der nationalen Polizeigesetzgebung und -einsatzpraxis, einschließlich der folgenden Kooperation mit Asylbehörden, abgearbeitet werden können. Ein verstärkter Einsatz technischer Systeme zur automatischen Erfassung von Nummernschildern kann einen zusätzlichen Beitrag zur Grenzsicherung ohne stationäre Kontrollen leisten. In jedem Fall müsste die Politik alle kompensatorischen Sicherheitsmaßnahmen kommunikativ begleiten und deren operativen Nutzen gegenüber nur punktuell durchführbaren stationären Grenzkontrollen hervorheben.
Derweil sollten auf europapolitischer Ebene die angekündigte Kompetenzerweiterung und massive Aufstockung von Frontex auf 10 000 Grenzschützer und der bereits laufende Ausbau von EU-Datenbanken zum Anlass genommen werden, die bestehenden Binnengrenzkontrollen aufzuheben. Umgekehrt könnte das Interesse osteuropäischer Staaten und Italiens an offenen Binnengrenzen argumentativ dazu genutzt werden, die bereits vorgebrachten Einwände gegen eine Stärkung von Frontex zurückzuweisen. In jedem Fall muss jedoch klar kommuniziert werden, dass die erwünschte Stärkung des EU-Außengrenzschutzes mehrere Jahre in Anspruch nehmen und die irreguläre Migration niemals ganz zum Erliegen bringen wird. Ohnehin darf diese längerfristige Zielsetzung kein Vorwand für eine Aushebelung der aktuell gültigen Fristen der Schengen-Verordnung sein.
Einem Europa der offenen Binnengrenzen einen Vertrauensvorschuss zu gewähren ist auch aus operativer Sicht damit zu rechtfertigen, dass Handlungsoptionen für einen stets wieder möglichen Krisenfall aufgespart werden sollten. Wenn es also bei den derzeit relativ niedrigen Ankunftszahlen irregulärer Migranten nicht möglich sein sollte, zu einer gemeinschaftlich anerkannten Schengen-Praxis zurückzukehren, bliebe im Fall eines erneuten Massenzustroms vermutlich nur noch der Weg über einseitige nationale Ermächtigungen zu Grenzkontrollen. Somit würden schwierige, aber keineswegs aussichtslose Verhandlungen über einen Ausgleich zwischen dem Gebot der Personenfreizügigkeit und dem Interesse an der Migrationskontrolle in einen Prozess der vollständigen Auflösung des gemeinsamen Rechtsrahmens münden. Gerade Deutschland als Staat mit den meisten europäischen Binnengrenzen sollte dieser Gefahr entschlossen entgegenwirken.
Dr. Raphael Bossong und Dr. Tobias Etzold sind Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Die vorliegende Publikation entstand im Rahmen des »Research Centre Norden« (RENOR), das finanziell vom Nordischen Ministerrat gefördert wird. Die im Text geäußerte Meinung ist die der Autoren.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2018
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autoren wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364