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Die Vermessung europäischer Souveränität

Analyse und Agenda

SWP-Studie 2024/S 05, 09.02.2024, 39 Pages

doi:10.18449/2024S05

Research Areas

Botschafter a. D. Dr. Eckhard Lübkemeier ist Gastwissenschaftler der Institutsleitung

  • Außenpolitische Souveränität ist ein Mittel zum Zweck, sein Umfeld so mitzugestalten, dass es den eigenen Werten und dem eigenen Interesse an Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation auf internationaler Ebene zuträglich ist.

  • Maßstab dafür, wie souverän ein Akteur agieren kann, ist die Souveränitätstriade: die Ausstattung mit Machtressourcen, die Wirksamkeit ihres Einsatzes und der Grad der eigenen Verwundbarkeit durch Abhängigkeit von anderen. Am wichtigsten ist Macht: Wer mehr Macht hat, hat mehr Chancen, ein günstiges Umfeld zu erwirken.

  • Darin liegt der Wert der Kollektivmacht der EU: Sie bietet ihren Mitgliedstaaten ein Maß an Souveränität, das ihnen als Einzelmacht verwehrt ist.

  • Wie souverän die EU sein kann, hängt von den Mitgliedstaaten ab. Der nationalstaatliche Primat beschränkt europäische Souveränität, aber wo die Grenze liegt, ist nicht vorherbestimmt.

  • Die Inventur des Ist-Zustands weist erhebliche Souveränitätsdefizite bei Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation aus. Am schwersten wiegt Europas Unfähigkeit zur Selbstverteidigung. Voll souverän kann nur sein, wer sich selbst verteidigen kann.

  • Die Wirksamkeit, mit der Europa seine Machtressourcen einsetzt, bleibt hinter dem Möglichen zurück, befördert durch die Erosion der Rechtsstaatlichkeit und die Vetomacht einzelner oder kleiner Gruppen.

  • Aus dem defizitären Ist-Zustand lässt sich eine Agenda für ein souveränes Europa ableiten. Sie braucht Fürsprecher und Führung. Deutschland und Frankreich können es nicht allein, aber europäische Souveränität kann nur gelingen, wenn sie durch Vorbild führen.

Problemstellung und Schlussfolgerungen

Europäische Souveränität ist zu einem Leitmotiv politischen Handelns geworden. Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen, so haben sie im März 2022 in Versailles erklärt, den »Aufbau unserer europäischen Souveränität« voranbringen, und im Koalitionsvertrag bekräftigen die Parteien der Bundesregierung wieder­holt, die »strategische Souveränität der Europäischen Union erhöhen« zu wollen.

Souveränität kennzeichnet innerstaatlich die In­stanz mit der obersten Autorität. Völkerrechtlich meint Souveränität »die Rechtsmacht unabhängiger und gleichberechtigter Staaten«. Solche De-jure-Status­parität manifestiert sich in der Realität indes in Form ungleicher Machtverhältnisse, die zu Souveränitätsdisparitäten führen: Wer mächtiger ist, kann souve­räner sein.

Das ist der Grundgedanke der in dieser Studie vor­genommenen Vermessung europäischer Souveränität. Ihr erster und zentraler Teil ist analytischer Art. Ob und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, bleibt politischen Entscheidungsträgern vor­behalten. Der anschließende zweite Teil ist ein Plä­doyer dafür, deutsche Mitführungsmacht für ein souveränes Europa (hier verstanden als politischer Akteur in Form der EU) einzusetzen.

In dieser Studie wird Souveränität zweckrational als ein Mittel definiert, selbstgesteckte Ziele zu er­reichen. Der Kontext dafür ist die zwischenstaatliche Sphäre. Auf diesem Schauplatz ist Außenpolitik das Bestreben eines Akteurs, seine Ziele zusammen mit oder notfalls gegen andere zu erreichen. Für Deutsch­land sind es vier Kerninteressen: Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation; Letztere verstanden als Mitwirkung an der Gestaltung des internationalen Umfelds.

Souveränität ist relational: Wie souverän ein Akteur ist, bemisst sich daran, wie erfolgreich er darin ist, sein Umfeld zugunsten eigener Interessen und Werte mitzugestalten und sich vor unerwünschter Beeinflus­sung zu schützen.

Maßstab dafür ist die Souveränitätstriade, also seine Ausstattung mit Machtressourcen, die Wirksamkeit ihrer Anwendung und seine Verwundbarkeit durch Abhängigkeit von anderen. Am wichtigsten ist Macht: Wer mehr Macht hat, hat mehr Chancen, ein güns­tiges Umfeld zu erwirken und ungünstige Beeinflussung abzuwehren.

Das macht die Kollektivmacht der EU aus: Sie bietet ihren Mitgliedstaaten ein Maß an Souveränität, das ihnen als Einzelmacht verwehrt ist. Wie souverän Europa sein kann, hängt von den Mitgliedstaaten ab. Im zweiten analytischen Schritt der Studie wird deshalb nach deren Motivation und den inhärenten Grenzen europäischer Kollektivmacht gesucht.

Für »Souveränität durch Integration« sprechen wesentliche Interessen der Mitgliedstaaten und situa­tive Faktoren einer Poly-Zeitenwende. Das hat jedoch seinen Preis: Europäische Souveränität schmä­lert nationale Handlungsautonomie. Deshalb beschränkt der nationalstaatliche Primat europäische Souverä­nität. Doch wie sehr, ist nicht vorherbestimmt: Euro­päische Souveränität kann sich rück- oder fortbilden, abhängig von der Machtausstattung und Bereitschaft der Mitgliedstaaten.

Das analytische Instrumentarium für die Vermessung europäischer Souveränität besteht aus zwei Komponenten, die in einem Mittel-Zweck-Verhältnis stehen: einer Souveränitätstriade aus Macht, ihrem wirksamen Einsatz und eigener Verwundbarkeit, deren drei Elemente dazu dienen, Souveränität auf ihren vier Feldern Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation zu optimieren (siehe Schaubild: »Die Vermessung europäischer Souveränität: Mess­instrumente und Ergebnisse«, Seite 9).

Die Inventur des Ist-Zustands weist erhebliche Souveränitätsdefizite bei Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation aus. Dass die Selbstverteidigungs-Unfähigkeit Europas am schwersten wiegt, stand zu erwarten: Sich selbst schützen zu können, war bisher weder ein Ziel der EU-Integration noch eines, das Mit­gliedstaaten außerhalb des EU-Rahmens angestrebt hätten. »Wohlstand durch Integration« hingegen war ein fortwirkendes Gründungsmotiv: der Binnenmarkt und der Euro, Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität sind Säulen europäischer Souveränität. Sie zeigen jedoch Risse, verursacht durch kritische Verwund­barkeiten und das Klumpenrisiko »China«. Zudem bleibt die Wirksamkeit, mit der Europa seine Macht­ressourcen einsetzt, hinter dem Möglichen zurück.

Aus dem defizitären Ist-Zustand lässt sich eine Agenda für ein souveränes Europa ableiten, aus­gerichtet an den vier Souveränitätsfeldern. Die EU ist eine Friedensgemeinschaft, in der Mitgliedstaaten ihre Kon­flikte ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt austragen. Um diese historische Errungenschaft nicht zu gefährden, darf sie nicht als selbst­verständlich an­gesehen und muss die Erosion der Rechtsstaatlichkeit gestoppt werden.

Auf dem Feld der Sicherheit hat Europa sein größtes Souveränitätsdefizit, weil es abhängig von US-amerika­nischem Schutz ist. Europäische Selbstverteidigungs­souveränität impliziert keine Auflösung der Nato, sondern Statusparität mit den USA, die sich ohne Europa verteidigen können. Wie sie erreichbar sein könnte, hat der Autor an anderer Stelle versucht auf­zuzeigen (Europa schaffen mit eigenen Waffen?, SWP-Studie 17/2020).

Wohlfahrt ist nicht zu haben, ohne sich durch Aus­tausch auf Abhängigkeiten einzulassen, die verwund­bar machen. Das gilt selbst dann, wenn sie symme­trisch sind. Ändern sich politische Ziele oder Risiko­kalküle, wie exemplarisch im Falle des russischen Angriffs auf die Ukraine, können wechselseitige Ab­hän­gig­keiten zu einem untragbaren Risiko werden.

Weil Autarkie unmöglich oder nur unter Wohlstandsverlusten erreichbar ist, bleibt es politischer Einschätzung vorbehalten, welche Abhängigkeiten in Kauf genommen werden. Auch »De-Risking« durch partielle Entflechtung kann Wohlstand kosten. In einer Welt jedoch, in der Machtrivalitäten und kon­fliktträchtige Instabilität wuchern, haftet Verwundbarkeiten ein zunehmend hohes Risiko an und wird Eigenständigkeit wertvoller. Europa hat das Potential zu Eigenständigkeit. Es zu nutzen, ist ein Schlüssel für europäische Souveränität.

Partizipation: Europas Machtpotential ist umso wirk­samer, je ziel­gerichteter es eingesetzt wird. Dafür gibt es drei Ansatzpunkte. Der erste ist, Europas Mehrwert in den Bereichen »Sicherheit« und »Wohlfahrt« zu festigen. Der zweite ist institutioneller Art. Die EU braucht Reformen ihrer Architektur und ihrer Ver­fahren, auch um die perspektivische Erweiterung auf mehr als 30 Mitgliedstaaten aufzufangen. Dafür bie­ten sich vor allem zwei Optionen an: die Ausweitung des Mehrheitsprinzips und die differenzierte Integra­tion durch die Konstituierung von »Gruppierungen von Willigen«. Den dritten Ansatzpunkt bilden Hand­lungsprinzipien: mehr in die eigene Sicherheit inves­tieren und Interdependenzen so ausrichten, dass sie weniger verwundbar machen, sowie Ziel- und Priori­tätenkonflikte aushalten und deren Opportunitäts­kosten offen benennen.

Ein souveränes Europa braucht Fürsprecher und Führung. Deshalb schließt die Studie mit der Empfeh­lung, Deutschlands Macht und Ansehen zusammen mit Frankreich für ein souveränes Europa einzusetzen.

Definition: Was heißt Souveränität?

Ob in »wirtschaftlicher«, »technologischer«, »digitaler«, »energiepolitischer«, »sicherheitspolitischer« oder anderweitiger Ausprägung – Souveränität gilt als erstrebenswert. Doch was sie ausmacht und erfordert, bleibt häufig unscharf oder umstritten, weil politisches Handeln interessengebunden ist und es keine autoritative Instanz mit einem Definitionsmonopol gibt.

Zudem wird der Begriff ambivalent gebraucht: Souveränität gilt als ein Attribut sowohl der inner- wie auch der zwischenstaatlichen Sphäre. Innerstaatlich ist der Souverän die Instanz mit der höchsten Autorität.1 In demokratischen Staaten ist dies das Volk: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.«2 Hin­gegen ist die zwischenstaatliche Sphäre gerade da­durch gekennzeichnet, dass es eine höchste Autorität in Form einer Weltregierung und eines Weltgerichts nicht gibt. Gleichwohl wird der Begriff auch in diesem Kontext benutzt. So heißt es in der Charta der Vereinten Nationen: »Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.«3

Die Charta selbst schränkt jedoch diesen Grundsatz ein: Im Sicherheitsrat gibt es fünf Mitglieder, die nicht nur einen ständigen Sitz, sondern zusätzlich ein exklusives Vetorecht haben. Würde das Gremium heute neu etabliert, wären seine Zusammensetzung und die Befugnisse seiner Mitglieder anders als bei der Gründung der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch eine Zwei- oder gar Dreiklassen­gesellschaft würde es weiterhin geben. Denn der VN-Sicherheitsrat spiegelt nichts anderes wider als ein Kennzeichen der Staatenwelt: Manche sind gleicher als gleich, weil sie mächtiger und angesichts ihres Nutzen- oder Schadenpotentials gewichtiger sind.

Wer mächtiger ist, kann souveräner sein.

Macht ist deshalb ein Bestimmungsfaktor von äußerer Souveränität, die sich in der Interaktion von Staaten mit anderen Staaten oder nicht-staatlichen Akteuren manifestiert. In dieser Sphäre ist Souverä­nität eine Machtfrage: »Hier herrscht also nicht die Gleichheit, welche die Souveränität im Rechtssinn vermittelt, sondern die Ungleichheit der Kräfte­verhält­nisse. Politisch gesehen, können Staaten, aber auch Staatenverbindungen mehr oder weniger souve­rän sein.«4 Deshalb gilt: Wer mächtiger ist, kann souve­räner sein.

Außenpolitik ist das Bestreben eines Akteurs, durch Einwirken auf sein Umfeld günstige Bedingungen für die Verwirklichung eigener Ziele zu schaffen. Solche Ziele sind für Deutschland Frieden und Sicher­heit, Wohlfahrt und eine kooperative Weltordnung. Mit Macht ausgestattete Souveränität verhilft dazu, ein Umfeld mitzugestalten, das diesen Zielen förder­lich ist.

Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen. Erstens dient praktizierte Souveränität dazu, auf das eigene Umfeld einzuwirken, nicht jedoch, sich von ihm zu isolieren. Autarkie zur Abschottung von äußeren Einflüssen ist keine Option – weil sie wie im Falle der Auswirkungen von Klimaveränderungen oder Nuklearkriegen unmöglich ist oder weil die Nichtbeteiligung an internationalem Austausch von Gütern, Personen und Ideen mit enormen Wohlstands­verlusten erkauft werden müsste.

Zweitens ist Souveränität nie absolut. Dazu müsste eine Instanz mächtig genug sein, uneingeschränkte Autorität beanspruchen zu können. Doch weder gibt es eine Weltregierung noch eine einzige Weltmacht. Äußere Souveränität ist relational: Sie bemisst sich an der Fähigkeit eines Akteurs, mit oder gegen andere so auf sein Umfeld einzuwirken, dass es seinen Inter­essen und Werten zuträglich ist.

Ausschlaggebend für ihr Ausmaß sind drei Faktoren: Ressourcen, Wirksamkeit und Verwundbarkeit. Ressourcen sind die Grundlage von Macht, definiert als die Fähigkeit, selbstgesteckte Ziele zu erreichen.5 Geschieht das zusammen mit anderen, handelt es sich um kooperativen, geschieht es gegen andere, um konfrontativen Gebrauch von Macht.

Es gibt zwei Arten von Ressourcen. Materielle Macht verleihen demografische, wirtschaftliche, finanzielle, technologische und militärische Ressourcen. Im er­weiterten Sinne zählt zu den materiellen Faktoren auch institutionelle Macht: Europäische Souveränität ergibt sich aus dem Zusammenwirken von EU-Mit­gliedstaaten und EU-Instanzen (Kommission, Euro­päisches Parlament, Europäischer Gerichtshof, Euro­päische Zentralbank), deren Macht auf den zentralen Rollen beruht, die ihnen durch die Verträge über­tragen worden sind. Immaterielle Macht meint die kulturelle, ideelle oder zivilisatorische Attraktivität eines Akteurs und seine damit verbundene Aus­strahlung auf andere.

Der Faktor Wirksamkeit betrifft die prozedurale Dimension von Macht: Ob ein Akteur selbstgesteckte Ziele erreicht, hängt nicht nur von seinen materiellen und immateriellen Machtmitteln, sondern auch davon ab, wie zielgerichtet (effektiv) und dabei ressourcen­schonend (effizient) er sie einsetzt.

Verwundbarkeit ist der Gegenpol zu Autarkie, die weder möglich noch erstrebenswert ist. Wer nicht autark ist, ist verwundbar. Wie verwundbar jemand ist, bestimmt zum Ersten die Qualität einer Beziehung: Von einem Partner mit hoher Werte- und Interessenkongruenz abhängig zu sein, ist ungleich weniger riskant, als auf einen Akteur angewiesen zu sein, mit dem eine akute oder potentielle Divergenz besteht.

Zweitens geht es um die Frage, welcher Schaden eintreten könnte, wenn eine erwartete Kooperation ausbleibt oder eine Konfrontation eskaliert. Maßstab dafür sind nationale Kerninteressen wie Frieden und Sicherheit, Wohlfahrt und politische Stabilität. Wie verwundbar entgrenzte, von der Realwirtschaft ent­koppelte Finanzmärkte machen können, hat sich nach 2008 in einer schweren Wirtschaftsrezession gezeigt. Die Corona-Pandemie hat aufgedeckt, dass sich Deutschland und seine europäischen Partner für die Gesundheitsversorgung ihrer Bevölkerungen zu abhängig von asiatischen Lieferanten gemacht hatten. Russlands Angriff auf die Ukraine erfordert eine Neu­bewertung von Verwundbarkeiten: Die Bundeswehr wird aufgerüstet, weil sicherheitspolitische Vorsorge vernachlässigt wurde; der jahrzehntelange Bezug von russischem Gas und Öl wurde abrupt eingestellt, weil die Abhängigkeit zu riskant geworden war; da China inzwischen weniger als Partner und mehr als Wett­bewerber und Rivale gesehen wird, rücken die Gefah­ren einer Abhängigkeit von der Volksrepublik mehr und mehr in den Vordergrund.

Wie kritisch eine Verwundbarkeit ist oder werden kann, ergibt sich aus der Kombination der beiden Umstände. Sie ist umso weniger bedrohlich, je höher die Interessen- und Wertekongruenz in einer Abhän­gigkeitsbeziehung und je geringer die Auswirkungen auf die eigenen Kerninteressen sind. Umgekehrt ist das Risiko am größten, wenn beides zusammenfällt: ein potentiell hoher Schaden und eine hohe Inter­essen­divergenz.

Wie souverän ein Akteur agieren kann, ergibt sich erst, wenn alle ermächtigenden Faktoren berücksichtigt werden: Ressourcen, Wirksamkeit und Verwundbarkeit. Zusammen bilden sie eine »Souveränitäts­triade« mit einer Hierarchie: am gewichtigsten sind Ressourcen. Wirksamkeit bemisst, ob Machtmittel optimal dazu eingesetzt werden, das Umfeld zu be­einflussen (siehe Grafik, Seite 9). Doch kann geschicktes Handeln fehlende Machtmittel nur begrenzt kom­pensieren, wohingegen es sich Akteure mit üppiger Ressourcenausstattung leisten können, sie verschwen­derisch einzusetzen.6 Und auch wenn Macht nicht unverwundbar macht: Wer mehr von ihr hat, ist eher in der Lage, andere davon abzuhalten, Verwundbarkeiten auszunutzen.

Grafik

Grafik: Die Vermessung europäischer Souveränität

Für alle drei Komponenten gilt, dass sie relational und kontextgebunden sind. Erst im Vergleich mit anderen erweist sich, wie mächtig oder ohnmächtig jemand ist. Wie erfolgreich Macht kooperativ oder konfrontativ eingesetzt wird, zeigt sich daran, ob es gelingt, das Verhalten anderer zu beeinflussen. Jegliche Abhängigkeit, auch solche, die gegenseitig ist, birgt ein Risiko, vor allem dann, wenn es darum geht, dass andere Güter bereitstellen und sich an Regeln halten, die für das eigene Wohlergehen von Belang sind. Aus dieser latenten Schwachstelle kann eine akute Verwundbarkeit mit beträchtlichem Schadenspotential werden, wenn andere die Koope­ration auf­kündigen.

Souveränität ist relational. Wer mehr Ressourcen hat, sie wirksamer einsetzt und weniger verwundbar ist, kann mehr auf sein Umfeld einwirken.

Folglich ist auch Souveränität relational. Im normativen Völkerrecht haben Staaten Statusparität, in der realen Politik herrscht Macht- und damit Souve­ränitätsdisparität: Wer mehr Ressourcen hat, sie wirk­samer einsetzt und weniger verwundbar ist, kann mehr auf sein Umfeld einwirken und ist ihm weniger ausgesetzt.

Souveränität bricht sich an der Macht anderer, an der Abhängigkeit von ihnen und der Begrenztheit eigener Macht. Souveränes Handeln muss sich unter diesen Voraussetzungen auch darin bewähren, Ziel­konflikte offen zu benennen und unpopuläre Ab­wägungen und Entscheidungen zu treffen, deren Folgen ungewiss und die moralisch fragwürdig sein können.

»Der Ernstfall der Ethik ist die Abwägung.«7 Das kann so weit gehen, dass man sich vor Autokraten nicht nur symbolisch verneigt, wie es Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck getan hat, als er im März 2022 in Katar war, um Deutschland Flüssiggas als Ersatz für Gas aus Russland zu sichern. Ein anderes Beispiel ist China: Die Volksrepublik hat sich wegen ihres enormen Nutzen- und Schadens­potentials un­entbehrlich gemacht. Eine katastrophale Erderwärmung lässt sich nur mit China, dem weltgrößten Emittenten von Kohlendioxid, abwenden; Frieden und Sicherheit hängen nicht nur in Asien von Peking ab, das auch nuklear aufrüstet und sich in globaler Rivalität mit den USA sieht; China ist zentral für die Weltwirtschaft: durch seine Größe und wirtschaft­liche Dynamik, wegen seiner Bedeutung als Handels- und Investitionspartner, als Lieferant kritischer Roh­stoffe und Güter, als Absatzmarkt und Kapitalgeber und auch wegen seines globalen Gewichts beim Thema klimaneutrales Wirtschaften. Gegenüber Peking auf die Beachtung von Menschenrechten und internationalen Regeln zu pochen, ist notwendig und legitim, stößt aber an Grenzen. Chinas Weltmacht­status in Rechnung zu stellen, ist keine wertefreie, sondern gebotene Realpolitik. Souverän handeln heißt nicht, Ungleiches gleich zu behandeln, sondern Machtunterschiede durch risikobewusstes Abwägen von Kosten und Nutzen zu berücksichtigen und die Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme realistisch einzuschätzen.

Doch selbst wenn Akteure nicht Chinas Macht haben, kann ihr Schadenspotential zu groß sein, um es ignorieren oder neutralisieren zu können. Um den Zustrom von syrischen Flüchtlingen zu begrenzen, wurde ein Abkommen mit finanziellen Zusagen an die Türkei geschlossen, die sich unter Präsident Erdogan autokratisiert hatte. Um das Nuklearwaffenprogramm des Iran auf diplomatischem Wege ein­zuhegen, mussten die USA und die EU sich auf eine Abmachung mit einer repressiven Theokratie ein­lassen, die den syrischen Diktator Assad stützt. Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat Dilemmata der Migrationspolitik benannt, aus denen es »keinen moralisch sauberen Ausweg« gebe: »Dass wir auf die Zusammenarbeit auch mit zweifelhaften Kräften und Regimen in Transit- und Herkunftsregionen angewiesen sind. Dass wir unserer humanitären Verantwortung gerecht werden und doch auch zugleich die Kontrolle aufrechterhalten müssen.«8

Fazit: Souveränität im strikten Wortsinne ist eine Schimäre. Der Begriff leitet sich ab von suprema potes­tas (höchste Gewalt) »und bedeutet die höchste, un­umschränkte, direkte, unabhängige und freie Macht­ausübung in einem Gemeinwesen«.9 Schon für in­terne Souveränität gilt das nur eingeschränkt, jeden­falls in Staatswesen mit repräsentativer Demokratie sowie horizontaler und föderaler Gewaltenteilung. Für externe Souveränität gilt es a fortiori. Die Charta der Vereinten Nationen attestiert ihren Mitgliedstaaten »souveräne Gleichheit«. In der Vollversammlung be­deutet dies, »ein Mitglied, eine Stimme«. Doch in der internationalen Politik gibt es keine uneingeschränkte Souveränität. Da Autarkie unmöglich ist und eine suprema potestas fehlt, ist niemand souverän im Sinne von schrankenloser Handlungsfreiheit, lückenloser Unverwundbarkeit und unbeschränkter Selbstbestim­mung.

Machtdisparitäten in der Arena internationaler Politik ergeben Souveränitätsdisparitäten.

Wie gesehen gibt es jedoch ebenso wenig souveräne Gleichheit. Äußere Souveränität realisiert sich im Vergleich mit und im Verhältnis zu anderen. Maßstab dafür ist die Souveränitätstriade, also die Ausstattung eines Akteurs mit materiellen und immateriellen Machtressourcen, die Wirksamkeit ihrer Anwendung und seine Verwundbarkeit. Wer mehr Macht hat, hat mehr Chancen, ein günstiges Umfeld zu erwirken und ungünstige Beeinflussung abzuwehren. Machtdisparitäten in der Arena internationaler Politik er­geben Souveränitätsdisparitäten. Das führt zu zwei Schlussfolgerungen:

1.  Souveränität wächst oder schwindet mit zunehmender oder abnehmender Macht.

Dies gilt nicht nur für eigene, sondern auch für fremde Macht, da man immer nur so mächtig ist, wie es andere zulassen. Das muss kein Nullsummenspiel sein. Aus dem phänomenalen Aufstieg Chinas zur Weltmacht haben seine Handelspartner immensen Nutzen gezogen. Doch gibt es eine Kehrseite: Peking setzt seine enorme Macht zunehmend konfrontativ ein, um seine Herrschaftsansprüche gegen andere durchzusetzen. Abhängigkeiten von China sind pro­blematischer geworden, mehr Souveränität im Ver­hältnis zur Volksrepublik erfordert eine partielle Entkoppelung, die Stärkung der eigenen Ressourcen und die Bereitschaft, sie nötigenfalls auch gegen Peking einzusetzen.

Als Weltmacht ist China in einem Maße souverän, das für die allermeisten Staaten unerreichbar ist. Sie können mangels demografischer, wirtschaftlich-technologischer und militärischer Ressourcen niemals auf eine Souveränitätsparität mit dem Land kommen. Gleichwohl gilt auch für sie: Je mehr sie aus ihren Ressourcen machen und diese vermehren, umso mehr können sie ihr internationales Umfeld beeinflussen. Wenn sie zudem die Abhängigkeit von einem über­mächtigen Akteur vermeiden oder zumindest ver­mindern wollen, haben sie ein Interesse daran, dass dessen Macht ausbalanciert wird. Da sie das nicht selbst können, bleiben nur zwei Optionen: darauf zu hoffen, dass andere es für sie tun, oder zusammen mit anderen dafür zu sorgen. Die zweite dieser Optio­nen ist zentral für diese Studie:

2.  Kollektivmacht macht souverän(er)

Alleinbestimmung ist in der internationalen Politik unmöglich, weil niemand allmächtig und unverwund­bar ist. Somit stößt auch Selbstbestimmung an Gren­zen, weil sie sich an der auf Macht fußenden Souve­ränität anderer bricht. Es geht darum, sein Umfeld nach Maßgabe eigener Interessen und Werte mit­zugestalten, in Kooperation mit oder in Konkurrenz zu anderen Akteuren.

Der dafür entscheidende Parameter ist Macht, ge­bildet aus materiellen und immateriellen Ressourcen und ihrem zielgerichteten Einsatz. Mehr Macht birgt mehr Souveränität. Wer mächtiger wird, kann souve­räner werden. Wenn Akteure ihre Machtressourcen zusammenführen und einheitlich zur Geltung brin­gen, können sie zusammen stärker als die Summe ihrer Teile sein.

Die EU ist eine solche Kollektivmacht. Sie bietet ihren Mitgliedstaaten ein Maß an Souveränität, das ihnen als Einzelmacht verwehrt ist. Im nächsten Kapitel wird erläutert, was europäische Souveränität befördert und was sie begrenzt.

Motivation: Souveränität durch Integration

Das vereinte Europa ist aus Kriegen hervorgegangen. Nationalistische Rivalitäten hatten den Ersten Welt­krieg ausgelöst, doch erst der Zweite Weltkrieg er­brachte eine nachhaltige Umkehr in Gestalt eines europäischen Einigungsprozesses, dessen heutige Ausprägung die Europäische Union ist. Drei Hauptmotive haben diese Zeitenwende herbeigeführt und tragen sie weiterhin.

»Frieden durch Integration« ist das erste: Der Gedanke dahinter ist die Befriedung der Staaten­beziehungen durch eine Verflechtung der Interessen, die für alle zum Vorteil ist und von einem »Euro­päertum« begleitet und gestützt wird, das auf dem Empfin­den einer kulturell-zivilisatorischen Gemeinsamkeit gründet, welches durchaus mit nationalen Identitäten einhergeht. Das zweite Motiv, »Wohlfahrt durch Integration«, ist verwoben mit dem Friedens­impuls: Krieg zerstört, schon die Vorbereitung auf ihn verschlingt Ressourcen und die ihn auslösende Riva­lität beschränkt Handel und Arbeitsteilung. Frieden und Wohlstand, so die europäische Lehre aus der kriegerischen Hälfte des 20. Jahrhunderts, sind Güter, deren Erhaltung dauerhaft nur ein Mit­einander ge­währleistet.

Die europäische Integration wirkt als Souveränitätsmultiplikator.

»Souveränität durch Integration« ist die dritte Antriebskraft. Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg war die Ära europäischer Weltmächte vorbei. Zwar blieben Frankreich und Großbritannien sowie das wiedererstarkende (West-)Deutschland europäische Schwergewichte; gemessen an den USA und dem (sowjet-)russischen Imperium waren sie jedoch nur noch Mittelstaaten. Um diesen Macht- und den damit verbundenen Souveränitätsverlust im Verhältnis zu Partnern (USA) wie Gegnern (Sowjetunion) ab­zubauen, blieb nur der Weg, europäische Kollektivmacht zu bilden.10

Das macht die europäische Integration zu einem Souveränitätsmultiplikator: Treten ihre Mitglied­staaten als Kollektivmacht auf, können sie ihr inter­nationales Umfeld stärker beeinflussen und sich gegen unerwünschte Einflüsse aus ihm besser schüt­zen als es jeder für sich oder in losen Ad-hoc-Ver­bünden könnte. Kennzeichnend für dieses Umfeld sind die folgenden Hauptmerkmale:

Europas Gewichtsschwund

Im 20. Jahrhundert ist der Aufstieg der USA zur wirtschaftlich-technologischen, militärischen und (pop-)kulturellen Supermacht mit dem relativen Niedergang europäischer Staaten einhergegangen. Im 21. Jahrhundert hat sich China in eine vergleichbare Position mit Weltmachtstatus katapultiert. Selbst wenn Indien oder auch Indonesien und Brasilien das Potential, über das sie demografisch verfügen, nicht voll ausschöpfen, werden sie die Machtverhältnisse weltwirtschaftlich und weltpolitisch zu ihren Guns­ten verschieben. Für Europa heißt das: Sein im Welt­maßstab bereits geschwundenes Gewicht wird weiter abnehmen.11

Chinas duale Herausforderung

Beflügelt vom Rückenwind eines phänomenalen Aufstiegs strebt Chinas Führung die Rückkehr in eine Vormachtstellung an, die das »Reich der Mitte« lange Zeit innehatte. Neben dieser machtpolitischen hat sein Projektionsbestreben aber noch eine zweite, systemische Komponente: Peking will demonstrieren, dass sein System aus Partei-Autokratie und dirigiertem Kapitalismus der westlichen Kombination aus Demokratie und Marktkapitalismus überlegen ist. Selbst wenn es dem Land nicht gelingt, mit den USA gleichzuziehen oder sie gar zu überholen – nach Nutzen- und Schadenspotential bleibt es eine Welt­macht.

Russlands Krieg gegen die Ukraine beweist, dass selbst (vermeintlich) symmetrische Interdependenz keine Schadensversicherung ist.

Brüchige Globalisierung

Die Implosion des Sowjetkommunismus und die Öffnung Chinas, sinkende Transaktionskosten und Innovationen wie das Internet hatten ab den 1990er Jahren eine in Geschwindigkeit und Ausmaß präze­denzlose Globalisierungswelle ausgelöst. Das massiv gewachsene Handelsvolumen und die gleichfalls stark gestiegenen Kapital- und Technologietransfers sind großen Teilen der Menschheit zugutegekommen.12 Doch gibt es Schattenseiten. Wird der globale Res­sourcenverbrauch und Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch reduziert, droht ein katastrophaler Klimawandel.13 Überdies hat es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer gegeben, was populistischen Kräften Auftrieb verschafft und der Stabilität der westlichen Demokratie geschadet hat. Die Annahme, dass privates Kapital und deregulierte Märkte für ein Wachstum sorgen würden, von dem alle profitieren, hat ebenso getrogen wie die Erwartung, dass welt­wirt­schaftliche Integration eine Aufweichung autoritärer Regime und globale Kooperation begünstigen würde.

Stattdessen hat sich eine Bruchstelle aufgetan: Wer abhängig ist, macht sich verwundbar. Als in der Corona-Pandemie Pharmaprodukte, Tests und Masken fehlten, die aus Asien bezogen wurden, offenbarte sich die Kehrseite von Arbeitsteilung und Liefer­ketten, die einem rein ökonomischen Nutzenkalkül unterliegen. Vor Putins Angriff auf die Ukraine wurde Kritikern von Nord Stream 2 entgegengehalten, mit der Pipeline wachse zwar Deutschlands Abhängigkeit von russischen Energielieferungen, doch sei das kein Hebel, den Putin nutzen könne, weil er auf die Ein­nahmen angewiesen sei. Auch was Chinas enorme Bedeutung als Absatzmarkt sowie Handels- und Inves­titionspartner betrifft, wurde auf die Wechselseitigkeit von Abhängigkeiten verwiesen. Russlands Krieg gegen die Ukraine unterstreicht, dass selbst (vermeintlich) symmetrische Interdependenz keine Schadensversicherung ist, wenn ein Akteur bereit ist, für poli­tische Ziele wirtschaftliche Nachteile zu riskieren.

Konfliktträchtige Instabilität

Bis zum Ende des Kalten Krieges, markiert durch den Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989, waren Welt­politik und Weltwirtschaft maßgeblich geprägt durch die Bipolarität: auf der einen Seite der demokratisch-kapitalistische Westen mit den USA als Zentrum, auf der Gegenseite die kommunistische Sowjetunion und ihre Vorherrschaftszone. Heute gibt es keinen Einzel­faktor mit vergleichbarer Prägekraft.

Der »Unipolar Moment«, die Phase zwischen der Implosion der Sowjetunion und dem rasanten Aufstieg Chinas, als die USA die alleinige Weltmacht waren, ist vorüber. Noch immer sind die USA der mächtigste Akteur, und ob China zu ihnen aufschließen oder sie gar überholen kann, ist nicht ausgemacht. Doch der Abstand zwischen ihnen ist stark geschrumpft14 und Peking hat gezeigt, dass technologische Innovationskraft mit politischer Repressivität einhergehen kann.15

Eine Bipolarität mit den Antagonisten USA und China zeichnet sich auch nicht ab, weder als ein Duopol (»G2«, »Shared Global Leadership«) noch als globale Rivalität, die den Dreh- und Angelpunkt des internationalen Systems bildet. Zwar sind die USA und China die bei weitem mächtigsten Staaten, die sich zugleich als Exponenten zweier Systeme (Demo­kratie und Privatkapitalismus vs. Autokratie und dirigierter Kapitalismus) verstehen. Doch anders als im Kalten Krieg die USA und die Sowjetunion sind sie wirtschaftlich stark verflochten, bleibt das wirtschaftlich-technologisch nur zweitklassige Russland eine Ressourcen- und nukleare Großmacht und sind Staaten wie Indien, Indonesien, Brasilien und Süd­afrika mächtig genug, um sich nicht auf eine Seite schlagen zu müssen.16

Schließlich ist auch nicht mit einer kooperativen Weltordnung zu rechnen: Der Anteil der Autokratien an der Weltbevölkerung und der Weltwirtschaft hat zugenommen, der Einfluss populistischer Kräfte in Demokratien ebenfalls.17 Die Konfrontation mit Russ­land wird andauern und die amerikanisch-chine­sische Rivalität virulent bleiben. Auch auf regionaler Ebene besteht in und zwischen Staaten ein hohes Konfliktpotential.

Politische Umsicht gebietet es, sich auf ein Umfeld einzustellen, das stark von konfliktträchtiger Instabilität geprägt sein wird.

Das heißt nicht, dass eine gewaltträchtige Welt­unordnung heraufzieht. Niemand ist immun gegen Nuklear- und Cyberwaffen oder einen verheerenden Klimawandel, während umgekehrt alle von Austausch und Arbeitsteilung profitieren können. Solche inter­essenbasierten Anreize, Schaden abzuwenden und Nutzen zu mehren, befördern Kooperation, Deeskalation und regelgebundenes Verhalten. Doch dass sie die konfrontativ wirkenden Gegenkräfte überlagern, steht nicht zu erwarten. Politische Umsicht gebietet es, sich auf ein Umfeld einzustellen, das stark von konfliktträchtiger Instabilität geprägt sein wird.18

Nuklearer Umbruch

Die Einführung von Nuklearwaffen war eine Zeiten­wende mit ambivalenten Folgen: Ihre exorbitante Zerstörungskraft wirkt kriegsverhindernd und kriegs­begrenzend, aber weil bewaffnete Konflikte und Motive, Interessen gewaltsam durchzusetzen, fort­bestehen, ist eine verhängnisvolle Eskalation mög­lich. Im Umgang mit diesem nuklearen Paradoxon sind formelle Rechtsordnungen und informelle Regeln entstanden, die das Risiko einer katastrophalen Zu­spitzung eindämmen. Die Stabilität dieser über Jahr­zehnte gewachsenen »nuklearen Ordnung« ist ge­fährdet: Mit dem Auslaufen des Vertrags über die Begrenzung strategischer Atomwaffen zwischen den USA und Russland droht der letzte rüstungskontrollpolitische Pfeiler wegzubrechen; China ist einstweilen nicht bereit, seine nukleare Aufrüstung rüstungs­kontrollpolitisch einzuschränken; mit einer Atomgroßmacht China kommt es zur Ablösung der Bi­polarität, die das Nuklearzeitalter bisher geprägt hat, durch eine tripolare USA-Russland-China-Kon­stella­tion, deren Statik ungewiss ist: Die USA sehen sich dann erstmalig zwei »strategischen Konkurrenten und potentiellen Gegnern« gegenüber, mit unklaren Fol­gen nicht nur im Dreieck USA-Russland-China, son­dern auch für die Fähigkeit und Bereitschaft der USA, als nukleare Schutzmacht für europäische und asia­tische Verbündete zu fungieren (erweiterte Abschreckung);19 nordkoreanische Kernwaffen könnten bald auch das amerikanische Festland erreichen; die strate­gische Aufrüstung Pekings könnte destabilisierende Folgen im Dreieck der nuklearbewaffneten Mächte China, Indien und Pakistan haben,20 Iran steht an der Schwelle zur Nuklearmacht.21

Amerikanische Unwägbarkeiten

Das Ende der US-amerikanischen Unipolarität durch den Aufstieg Chinas, der Umbruch der nuklearen Ordnung und die durch den Angriff auf die Ukraine massiv gestiegene Bedrohung durch Russland haben Folgen für Deutschland und seine europäischen Part­ner. Putins Aggression hat aufgedeckt, wie ab­hängig Europa vom amerikanischen Schutz weiterhin ist.

Doch bleibt die innere Verfassung der USA gekennzeichnet durch eine ex­treme gesellschaftliche und politische Polarisierung, Anfälligkeit für populis­tische Narrative und die Notwendigkeit, massiv in die eigene Wirtschaft und Gesellschaft zu investieren. Letzteres steht im Einklang mit der von beiden poli­tischen Lagern geteilten Priorität, China einzuhegen. Für Europa birgt das zwei Risiken: eine erodierende Verlässlichkeit der USA im Hinblick auf die Erwartung, dass sie der »alten Welt« zu Bedingungen, die für beide Seiten akzeptabel sind, beistehen, und die Gefahr, dass Washington versucht sein könnte, ein von seinem Schutz abhängiges Europa für seine China-Politik einzuspannen.

In der Summe ergibt sich aus diesen Umständen eine Poly-Zeitenwende. Zwar wirken gewisse Imperative, wie beim Klimaschutz oder der Verhinderung von Nuklearkriegen, ebenso fort wie Anreize zur Wohl­standsmehrung durch wirtschaftlichen Austausch. Doch jenseits dessen zeigt sich eine Welt mit viel­fältigen Abbrüchen: Eine unausgewogene Globalisierung hat nationalistisch-populis­tische Kräfte erstar­ken lassen; der Angriff auf die Ukraine hat eine unterschätzte Aggressivität Russlands freigelegt, die das Land auf absehbare Zeit zur größten Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum macht; die weltwirtschaftliche Einbettung eines autoritären Chinas hat weder eine innere Liberalisierung bewirkt noch seinen außenpolitischen Vormachtanspruch gedämpft; die Fähigkeit und Bereit­schaft der USA, eine verlässliche Schutzmacht zu sein, haben nachgelassen.

Deutschlands Umfeld ist damit bedrohlicher ge­worden. Manche Annahmen und Maximen, die Orientierung lieferten und Leitplanken des Handelns boten, sind zu revidieren. Das gilt in Sonderheit für den Stellenwert von Sicherheit. In einer risiko- und konfliktträchtigen Welt wird sicherheitspolitische Vorsorge vordringlich. Das impliziert eine größere Rolle des Staates, denn Sicherheit zu gewährleisten ist seine exklusive und erste Pflicht. Wenn das geopolitische Setting unruhiger, ja gefährlich wird, steigt die Bedeutung dieser Aufgabe und mit ihr die des Staates.

In einer Poly-Zeitenwende sollte man sich nicht darauf verlassen, dass andere die eigenen Interessen befördern.

Einfluss auf dieses Umfeld nehmen können die Mitgliedstaaten der EU am wirkungsvollsten, wenn sie als Kollektivmacht auftreten. Vollständige Ab­schirmung vor widrigen Einwirkungen ist unmöglich, und darauf zu setzen, dass andere für Rahmenbedingungen und eine Lage sorgen, welche die eigenen Interessen und Werten begünstigen, wäre fahrlässig.

So weit, so einleuchtend. Aber nicht so zwingend. Die EU ist ein hybrides Gebilde aus supra- und inter­gouvernementalen Pfeilern. Kommission und Euro­päisches Parlament, der Europäische Gerichtshof und die Europäische Zentralbank – sie sind mächtige supranationale Instanzen ohne Parallelen in der Staatenwelt. Dennoch bleibt Europa eine Union von Nationalstaaten. Für deren Gesellschaften sind sie der primäre Bezugspunkt von Loyalität. Eine gemeinsame Identität, die einen europäischen Bundestaat begrün­den könnte, ist nicht in Sicht.

Der Primat der Nation bedeutet, dass »Souveränität durch Integration« an Grenzen stößt. In seiner Be­sprechung eines Sammelbands über die Konstituenten der europäischen Identität kommt Sönke Neitzel zu dem Schluss: »Nach der Lektüre [...] drängt sich der Eindruck auf, dass die Verschiedenheit der Kulturen und historischen Erfahrungen eine sicherheitspolitisch handlungsstarke Europäische Union nicht zu­lassen.«22 Eine nachvollziehbare Mutmaßung, zumal der Ukraine-Krieg offengelegt hat, wie sehr Europa nach mehr als siebzig Jahren immer noch am Tropf seiner US-Schutzmacht hängt.

Doch sprechen drei Überlegungen dafür, Neitzels Eindruck nicht für ein abschließendes Urteil zu halten. Erstens ist die EU ein »Gebilde sui generis«, »kein Staat, sondern eine politische Einheit irgendwo zwischen einer supranationalen Organisation und einem Bundesstaat, für die es noch immer an einem überzeugenden Begriff fehlt«.23 Wie souverän eine historisch präzedenzlose Union von Nationalstaaten sein kann und wie souverän sie für die Interessen ihrer Mitgliedstaaten überhaupt sein muss, ist nicht bekannt und nicht vorbestimmt.

Die zweite Überlegung entspringt der Erfahrung. Zum Erfolg des europäischen Integrationsprozesses haben begünstigende Umstände maßgeblich bei­getragen. Doch dass er überhaupt begonnen und trotz Rückschlägen und wiederkehrender Krisen fort­entwickelt wurde, gibt Anlass, seine Tragfähigkeit und seine Tragweite nicht zu unterschätzen. Nach dem Ur-Sprung in die Integration durch die 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sticht mit der Währungsunion ein Vertiefungsprojekt hervor, das besonders in Deutschland auf verbreitete Kritik stieß. Der Euro, obwohl nicht eingebettet in einen »optimalen Währungsraum« und noch immer mit Schwachstellen in der Konstruktion behaftet, hat sich als krisenresistent erwiesen. Die gemeinsame Wäh­rung ist ein integrativer Quantensprung und zugleich ein Fingerzeig, die Grenzen einer Souveränität durch Integration nicht zu eng zu ziehen. In ähnlicher Weise gilt das für das Programm zur Bewältigung der Corona-Pandemie. Für seine Finanzierung wurde erstmalig eine gemeinsame Schuldenaufnahme in großem Umfang beschlossen.

Dieser Präzedenzfall führt zur dritten Überlegung. Die Pandemie war ein exogener Schock. Anfänglich reagierten die Mitgliedstaaten mit nationalen Re­flexen, indem sie auf eigene Faust Impfstoffe oder Hilfsmittel wie medizinische Masken zu beschaffen suchten. Binnen kurzem jedoch überwogen die Vor­teile konzertierten Handelns, um sich mit derartigen Gütern zu versorgen. Ein exogener Schock hatte als integrativer Katalysator gewirkt.

Putins Angriff auf die Ukraine hat Europa seine Abhängigkeit von amerikanischem Schutz vor Augen geführt. Solange dieser Schutz zu akzeptablen Be­dingungen verfügbar ist, steht nicht zu erwarten, dass die EU zu einer Selbstverteidigungsunion zusammen­wächst. Das könnte sich ändern, sollte die Verlässlichkeit Amerikas bedrohlich erodieren, etwa nach einer Wiederwahl von Donald Trump oder mit einem Biden-Nachfolger, der zwar nicht erratisch wie Trump auftreten, aber Europa mit einem nüchternen Kosten-Nutzen-Kalkül gegenübertreten würde. Doch selbst wenn Joe Biden wiedergewählt werden sollte, wird die Einhegung Chinas parteiübergreifend die strate­gische Priorität der USA darstellen. Damit verbunden sind auf Seiten Washingtons zwei Erwartungen an die europäischen Verbündeten: dass sie für ihre eigene Sicherheit einen höheren Anteil der Nato-Aufwendungen übernehmen24 und dass sie den USA bei ihrer Containment-Politik gegenüber China zur Seite stehen.25 Ersteres wird leichter, wenn die Euro­päer ihre Verteidigungsausgaben durch eine Koordi­nation und Zusammenlegung ihrer Fähigkeiten effi­zienter einsetzen. Mehr sicherheitspolitische Eigen­ständigkeit, ein starker Euro und der Binnenmarkt machen Europa weniger abhängig von den USA auch in der Frage des Umgangs mit China.

Wie souverän Europa sein wird, hängt davon ab, wie souverän es die Mitgliedstaaten sein lassen.

Diese Erwägungen – und das skizzierte Umfeld – sprechen für eine Festigung von Europas Zusammenhalt und sein Zusammenwachsen. Sie berechtigen zu der Erwartung, dass die EU kollektive Souveränität durch Integration erwerben kann, ohne jedoch, dass diese Entwicklung gewährleistet wäre. Der ungebrochene Vorrang der nationalen Identität führt dazu, dass die europäische Integration ein Prozess mit un­berechenbarem Verlauf und offenem Ausgang ist: Stillstand und Rückschläge hat es wiederholt ge­geben, selbst ein Scheitern ist möglich. Europäische Souveränität lebt von der Bereitschaft der Mitgliedstaaten, ihre nationalen Interessen unter dem Dach der europäischen Kollektivmacht zu vertreten.

Der nationalstaatliche Primat bildet eine Schranke für die Entfaltung europäischer Souveränität, die je­doch nicht unverrückbar ist. Ein Beleg für Letzteres ist, dass die europäische Integration sich als krisen­resistent erwiesen und fort­entwickelt hat: horizontal durch die Ausdehnung auf weitere Politikbereiche, vertikal durch Supranationalisierung in Form von mehr Macht für die Kommission und das Europäische Parlament und die Ausweitung des Mehrheitsprinzips.

Wie souverän Europa sein wird, hängt davon ab, wie souverän es die Mitgliedstaaten sein lassen. Ist der politische Wille da, würde sich ein Weg finden. Wie dieser beschaffen sein müsste, wird nachfolgend in zwei Schritten untersucht. Zunächst steht eine Inventur an: Wie souverän ist Europa heute? Diese Bestandsaufnahme dient vor allem dazu, Souverä­nitätsdefizite offenzulegen. Und welche externen Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten, aber auch welche internen Hemmnisse beeinträchtigen euro­päische Souveränität? Auf der Grundlage dieses Lage­bilds wird im zweiten Schritt eine Agenda entwickelt: Was müsste erfolgen, um Europa so souverän wie möglich zu machen?

Inventur: Wie souverän ist Europa?

»Im Kern bedeutet europäische Souveränität doch, dass wir auf allen Feldern eigenständiger werden, dass wir mehr Verantwortung übernehmen für unsere eigene Sicherheit, dass wir noch enger zu­sammenarbeiten und zusammenstehen, um unsere Werte und Interessen weltweit durchzusetzen.«26

In diesem Statement von Bundeskanzler Olaf Scholz scheint die im ersten Kapitel entwickelte Souverä­nitätstriade auf: Souveränität soll dazu verhelfen, ein Umfeld zu schaffen, das den eigenen Interessen und Werten zuträglich ist. Dafür braucht es Macht (»durch­zusetzen«), ihren wirksamen Einsatz (»zusammenarbeiten«) und die Einhegung der eigenen Verwundbarkeit (»eigenständiger werden«). Zugleich beurteilt der Bundeskanzler den Ist-Zustand als durchweg unvollkommen: Um souverän zu sein, müsse Europa auf allen Feldern eigenständiger werden. Woran es fehlt, soll im Folgenden untersucht werden. Den Kompass für diese Analyse bilden die vier Kern­interessen Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Parti­zipation.

Frieden

»Frieden durch Integration« war womöglich der stärkste Impuls für das Zusammenrücken der Euro­päer. Im Bruch mit der europäischen Geschichte sollte Krieg nie mehr ein Instrument der Politik sein. Das sollte erreicht werden über einen Zusammenschluss, der den beteiligten Staaten im Gegenzug für Souveränitätsverzicht ein Miteinander in Frieden, Demokratie und wirtschaftlichem Fortschritt bot. Eine Reihe von Umständen haben diese Zeitenwende begünstigt: Die USA als Förderer und Beschützer, anfänglich auch vor einem wiedererstarkenden (West-)Deutschland; die kommunistische Bedrohung und der Kalte Krieg; Frankreichs und Großbritanniens Neuorientierung nach dem Verlust ihres Weltmacht­status und ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung.

Das vereinte Europa hat die Probe aufs Exempel bestanden: Den Wegfall oder das Nachlassen dieser Bindekräfte hat es ebenso überlebt wie Krisen und Rückschläge. Eine Friedensgemeinschaft ist entstanden, in der alle darauf ver­trauen, dass Konflikte ohne Gewalt ausgetragen werden. Gäbe es nur die EU, ihre Mitgliedstaaten kämen ohne Militär und Rüstung aus: »Krieg zwischen unseren Völkern«, so Bundeskanzler Scholz vor dem Europäischen Parlament, »ist un­vorstellbar geworden, der Europäischen Union zum Dank und zu unser aller Glück.«27

Die europäische Friedensunion ist keine unumkehrbare Errungenschaft.

Die europäische Friedensunion ist keine unumkehr­bare Errungenschaft. Ihr Band ist nicht so stark wie die Integrationskraft nationaler Identitäten, und selbst die kann brüchig werden, wenn populistische Polarisierung überhandnimmt. Deshalb darf das ein­mal Erreichte nicht für selbstverständlich gehalten werden. Die europäische Integration, die die beste Gewähr für einen stabilen Frieden bietet, muss von den Bürgerinnen und Bürgern gewollt werden. Dafür muss sie einen Mehrwert auf der Höhe der aktuellen Herausforderungen liefern.

Neben Frieden sind die Fixpunkte dieses Mehrwerts die drei übrigen Kerninteressen Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation. Sie bilden die vier Felder, auf denen im Folgenden anhand der Souveränitätstriade (Macht, Wirksamkeit und Verwundbarkeit) zunächst eine Inventur des Ist-Zustands vorgenommen und an­schließend eine Agenda für ein souveränes Europa entwickelt wird.

Das geschieht unter dem Vorzeichen, dass sich Sicherheit und Wohlstand nicht exakt abgrenzen lassen. Ist eine Versorgung mit Medikamenten, den für ihre Herstellung notwendigen Wirkstoffen oder mit Infektionsschutzmasken eine sicherheitspolitische Aufgabe? Wann werden wirtschaftliche Abhän­gigkeiten zu sicherheitsgefährdenden Verwundbarkeiten? Etwa bei der Belieferung mit Energie und Rohstoffen, Halbleitern und Batterien? Welche Sicher­heitsrisiken wirft der Klimawandel auf ?

Sicherheit ist laut Duden ein »Zustand des Sicher­seins, Geschützseins vor Gefahr oder Schaden«. Gehen die Bedrohungen nicht von der Natur, sondern von Akteuren aus, sollte das Geschütztsein nur wo nötig gegen andere und wo möglich mit ihnen gesucht werden. Doch ein Sicherheitsbedürfnis entsteht erst dann und besteht nur so lange, wie eine Gefahr oder ein Schaden drohen. Ob sie real sind, ist nicht ent­scheidend. Solange ein Akteur oder ein Zustand als akute oder potentielle Bedrohung wahrgenommen wird, braucht es Schutz vor ihr. Dazu gibt es zwei Wege. Der offen­sive ist Abschreckung: die Androhung von Sanktionen, um jemanden von unerwünschtem Verhalten abzuhalten oder abzubringen. Der defen­sive Weg ist Abstand: Schutz vor anderen durch Un­abhängigkeit von ihnen oder, wo das nicht oder nur zu unvertretbaren Kosten möglich ist, durch weniger Abhängigkeit von ihnen.

Demgegenüber ist Wohlstand ein Gut, das auf Kooperation angelegt ist, sofern diese nicht erzwungen und ausbeuterisch ist. Von Handel und Arbeitsteilung müssen nicht alle Beteiligten gleichermaßen profitieren, weil Machtgefälle und ungleiche Abhän­gigkeiten die Verteilung ihrer Ergebnisse beeinflussen. Doch während es bei Sicherheit um Schutz vor anderen geht, wird Wohlstand im Wettbewerb und Austausch mit anderen erzeugt.28

Sicherheit

In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie erklärt die Bundesregierung: »Wir verstehen Sicherheit umfassend: als Schutz vor Krieg und Gewalt; als Freiheit, unser Leben im Rahmen unserer freiheitlichen demo­kratischen Grundordnung zu gestalten; als Sicherung unserer Lebensgrundlagen.«29 Ein so weitgreifendes Verständnis hat seine Berechtigung: Überleben und nachhaltiges Wohlergehen in Freiheit sind essentielle Güter. Sie zu schützen ist Bundeskanzlern und Bundes­ministern im Amtseid aufgegeben.

Der dargelegten Abgrenzung zwischen Sicherheit und Wohlfahrt folgend, wird Sicherheit in dieser Studie jedoch enger gefasst. Das beugt einer Überdehnung von Sicherheitspolitik vor: »Schutz vor Krieg und Gewalt« impliziert Sicherheit durch Abschreckung oder Abstand von anderen; die »Sicherung unserer Lebensgrundlagen« lässt sich hingegen nur mit anderen und der Sicherung auch ihrer Lebensgrundlagen erreichen. Ersteres ist eine originär sicher­heitspolitische Aufgabe, das Zweite nicht.

Deshalb lautet das hier angelegte Verständnis von Sicherheit: Schutz vor akuten oder potentiellen Risiken für das Überleben und Wohlergehen sowie die Selbst­bestimmung eines Gemeinwesens.

Wer für das eigene Überleben auf andere angewiesen ist, hat eine neuralgische Souveränitätslücke.

Für seine Sicherheit sorgen zu können ist konsti­tutiv für Souveränität. Dass Europa dazu allein nicht in der Lage ist, räumen die EU-Mitgliedstaaten ein: »Trotz erheblicher Fortschritte in den letzten Jahren ist die EU insgesamt nicht ausreichend gerüstet, um die gesamte Bandbreite der Bedrohungen und Heraus­forderungen, denen sie gegenübersteht, zu bewältigen.«30 Zu dieser Bandbreite zählen Verteidigung, Grenzsicherung, Terrorismus, Organisierte Kriminalität und kritische Infrastruktur. Von diesen Risiken, denen sich die EU stellen muss, werden nur Verteidigung und Grenzsicherung im Folgenden eingehend betrachtet, denn die schwerwiegendsten Souveränitätsdefizite liegen in diesen Bereichen.

Sicherheit: Verteidigung

In der Sicherheitsstrategie der Bundesregierung ist mehrfach von technologischer oder digitaler, aber nie von verteidigungspolitischer Souveränität die Rede. Nur ein einziges Mal taucht der Begriff in diesem Kontext auf: »Wir sind im Bündnis aber jederzeit bereit und fähig, unsere Souveränität und Freiheit und die unserer Verbündeten zu verteidigen.«31 Das spiegelt den Ist-Zustand wider: Schutz vor Krieg und Gewalt suchen Deutschland und Europa nur im Nato-Bündnis mit den USA. Das bedeutet aber auch: »Wir« sind nicht souverän. Wer für das eigene Überleben auf andere angewiesen ist, kann seine Sicherheit nicht selbst garantieren. Wer das nicht kann, hat eine neuralgische Souveränitätslücke.

Diese Lücke besteht seit Gründung der Nato. Zwar hat die Allianz für die USA auch nach Ende des Kalten Krieges einen beachtlichen Mehrwert, der durch Russlands Angriff auf die Ukraine vergrößert wurde. Russland einzudämmen stärkt Washington auch gegenüber dem weltpolitischen Rivalen China, weil es seine Beistandsbereitschaft für asiatische Verbündete und Partner unterstreicht und es leichter macht, europäische Unterstützung gegen China ein­zufordern. Hinzu kommt, dass die USA in Europa stationierte Streitkräfte auch für Terrorbekämpfung und andere Nicht-Nato-Einsätze nutzen können. Doch ändern diese Vorteile, die Washington aus dem Nato-Bündnis zieht, nichts an einer transatlantischen Asymmetrie: Die USA können sich nötigenfalls allein, Deutschland und Europa können sich nicht ohne die USA schützen.

Zu seiner US-amerikanischen Schutzmacht hat Europa wechselseitige Bindungen aufgrund von Geschichte, Wertekongruenz und florierenden Wirt­schaftsbeziehungen. Doch Abhängig­keit hat selbst unter Freun­den ihren Preis. Das zeigt sich auch im Fall von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Von Kiews Unterstützern hat Washington den größten Einfluss darauf, wie der Krieg geführt und beendet wird: weil es Hauptwaffenlieferant, für Moskau der wichtigste und eigentliche Gegenspieler und der­jenige ist, der als Nuklearmacht die größte Ver­antwortung für den Umgang mit dem atomaren Eskalationsrisiko hat. Wie die US-Regierung ihren Einfluss nutzt und ihre Verantwortung wahrnimmt, wird, nicht anders als in Europa, von innenpolitischen Machtverhältnissen und parteipolitischen Kal­külen mitbestimmt. Ein zweiter Faktor, den die USA immer im Blick behalten, ist die Signalwirkung ihres Verhaltens auf den weltpolitischen Rivalen jenseits des Pazifiks. Auf die amerikanische Innenpolitik hat Europa so gut wie keinen Einfluss. Was China angeht, erwarten die USA europäische Solidarität bei der Ein­hegung Pekings.

Europas Abhängigkeit von den USA tritt in verschärfter Form hervor, wenn die nukleare Dimension ins Spiel kommt. Seitdem die USA durch sowjetische bzw. russische Kernwaffen existentiell verwundbar geworden sind, muss ein amerikanischer Präsident im Konfliktfall das Überleben des eigenen Landes über das seiner europäischen Verbündeten stellen. Ob die Eskalationsdynamik eines Krieges, der für Europa bereits vernichtend wäre, das US-Territorium jedoch noch verschonte, gestoppt werden könnte, ist eine hypothetische Frage geblieben. Kein militärisches Arrangement (etwa die Stationierung von US‑Truppen in Europa) und keine US-Treueerklärung vermögen jedoch den fundamentalen Unterschied zwischen originärer und erweiterter Abschreckung aufzuheben. Originäre Abschreckung ist der eigenen Existenz­sicherung vorbehalten und nur dann ist sie vorbehaltlos. Hat man nichts mehr zu verlieren, weil das eigene Überleben unmittelbar auf dem Spiel steht, muss ein Angreifer mit einer auch für ihn vernichtenden Re­aktion rechnen. Wenn sich sein Angriff aber »nur« gegen einen Verbündeten richtet, hat ein nuklearer Beschützer immer noch die eigene Existenz zu ver­lieren.

Der Verbündeten gewährte Nuklearschutz ist des­halb eine »erweiterte Abschreckung« – ein Beistands­versprechen und keine Beistandsgarantie. Ob und wie die Zusage ein­gelöst wird, hat der Beistandsnehmer nicht in der Hand, und er muss davon aus­gehen, dass für den Beistandsgeber dessen eigenes Überleben Vor­rang hat.32 Deshalb hat, wer wie Europa auf erweiterte Abschreckung angewiesen ist, eine im Extremfall existentielle Souveränitätslücke.

Sie zu schließen ist die anspruchsvollste, aber nicht die alleinige Herausforderung auf dem Weg zu euro­päischer Souveränität. Denn Europa ist nicht nur auf den nuklearen, sondern auch auf den konven­tionellen Beistand der USA angewiesen – zur Ab­schreckung und Verteidigung gegen Russland oder wie im Falle der Ukraine zur Ertüchtigung eines von Russland angegriffenen Nachbarn. Europa profitiert zudem von der globalen Militärpräsenz der USA, im Nahen Osten, in Asien als Gegengewicht zu China, zum Schutz westlicher Partner wie Japan und Süd­korea und von maritimen Handelswegen.

Das Ausmaß der Abhängigkeit Europas im kon­ventionellen Bereich ist selbstverschuldet. Europa mangelt es nicht an finanziellen, industriellen und technologischen Mitteln für eine konventionelle Aufrüstung. Nato-Europa und Kanada kommen im Jahr 2023 nur auf die Hälfte dessen, was die USA für Verteidigung ausgeben.33 Die EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks haben 2021 sogar nur 1,5 Pro­zent ihres Bruttoinlandsprodukts aufgewandt, in einem Zeitraum von zwanzig Jahren schwankte dieser Anteil zwischen 1,3 und 1,6 Prozent. In den USA waren es zwischen 3,4 und 5,2 Prozent.34

Europa hat nicht nur zu wenig in seine Verteidigung investiert, es hat aus den dennoch beträchtlichen Mitteln (im Jahr 2021 entsprach der 1,5%-Anteil am EU-26er-BIP nominalen Ausgaben von 214 Mrd. Euro) zu wenig gemacht. Gründe dafür sind un­abgestimmte Verteidigungs- und Streitkräfteplanungen, eine unkoordinierte Beschaffung von Waffen und Ausrüstungen, fragmentierte Rüstungsmärkte und ein Mangel an Rollenspezialisierung, multinationalen Verbänden und transnationalen Fähigkeiten. Im Ergebnis ist das Ganze weniger als die Summe seiner Teile: Ein Neben- statt Miteinander verschwendet Mittel, führt zu Fähigkeitslücken,35 beeinträchtigt die Interoperabilität von Streitkräften und somit die Handlungsfähigkeit Europas.36

Sicherheit: Grenzen

Die Bundesregierung hält in ihrer Nationalen Sicher­heitsstrategie fest: »Der wirksame Schutz der gemein­samen EU-Außengrenzen ermöglicht den Erhalt des gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.«37 Grenzschutz heißt Kontrolle darüber, wer Zugang zu einem Gemeinwesen hat. Diese Kon­trolle ist ein Attribut von Souveränität. Sie nicht zu haben zeugt von eingeschränkter Souveränität.

Keine Grenzkontrolle schmälert Souveränität.

Zur Feststellung der Bundesregierung passt allerdings nicht diese, an anderer Stelle getroffene Aus­sage: »Irreguläre, instrumentalisierte und unfreiwil­lige Migration gefährdet vielfach das Leben von Migran­tinnen und Migranten. Darüber hinaus kön­nen durch größere Flucht- und Migrationsbewegungen staatliche Stabilität und gesellschaftlicher Zusam­menhalt in Transit- und Aufnahmegesellschaften ge­fährdet werden. Eine geregelte Zuwanderung dagegen bereichert Deutschland; nicht zuletzt aufgrund der demografischen Entwicklung ist unser Land darauf auch angewiesen.«38 Hier weicht die Bundesregierung aus, weil Flucht- und Migrationsbewegungen, die in ungeregelte Zuwanderung münden, »staatliche Stabi­lität und gesellschaftlichen Zusammenhalt« auch in Aufnahmegesellschaften gefährden können.

Das belegt der Aufschwung des Rechtspopulismus in einer Reihe von EU-Ländern. Eine maßgebliche Triebkraft für dessen Erfolg ist eine als unkontrolliert wahrgenommene Zuwanderung, die den Zusammenhalt in den EU-Staaten und zwischen ihnen strapaziert. Durch Überstimmen von Polen und Ungarn konnte sich der Rat in 2023 auf ein Gemeinsames Europäisches Asylverfahren verständigen, das noch mit dem Europäischen Parlament verhandelt werden muss. Selbst wenn das gelingt, steht der Praxistest noch aus.

Zumal der Migrationsdruck aus Europas konflikt- und krisenhaltigem Umfeld anhalten dürfte. Das gilt vor allem für die südliche Nachbarschaft der EU. Afrikas Bevölkerung könnte von derzeit 1,5 Mil­liar­den bis 2100 auf fast vier Milliarden anwachsen.39 Ein demografisch schrumpfendes Europa braucht Zu­wanderung, und Schutzbedürftige müssen weiterhin Aufnahme finden. Zu ihnen zählen in weiterem Sinne auch Migranten, deren Herkunftsländer von den Auswirkungen eines Klimawandels betroffen sind, an dem sie einen geringfügen, Europa hingegen einen hohen Verursacheranteil hat.40

Die Europäische Union hat bisher zu keiner Migrationsstrategie gefunden, die der dreifachen Herausforderung gerecht wird: die Grenzen effektiv zu schützen, offen für Schutzbedürftige zu bleiben und attraktiv für benötigte Zuwanderer zu sein. Nach fehlender Selbstverteidigungsfähigkeit ist dies sicher­heitspolitisch das gravierendste Souveränitätsdefizit.

Wohlfahrt

Dass es Europa an sicherheitspolitischer Souveränität mangelt, kommt nicht von ungefähr. »Sicherheit durch Integration« gehörte nicht zu den Gründungsimpulsen des europäischen Einigungsprozesses. Es gab ein Bedürfnis nach Sicherheit vor Deutschland, aber es zu befriedigen war eine Aufgabe, die den zur Weltmacht aufgestiegenen USA zukam. Denn nur sie konnten beides bieten: Schutz vor Deutschland durch seine Einbindung in die Nato und Schutz vor der sowjetisch-kommunistischen Bedrohung. Europa kann sich nach wie vor ohne die USA nicht verteidigen, aber Schutz vor Deutschland müssen diese nicht mehr liefern, weil aus Europa eine Friedensgemeinschaft geworden ist, an der das demokratische und wiedervereinigte Deutschland teilhat.

Europas Kollektivmacht beruht maßgeblich auf seinem wirtschaft­lichen Potential und seinem Binnenmarkt.

»Frieden durch Integration« wurde möglich, weil auch das Ziel, »Wohlstand durch Integration« zu schaffen, verwirklicht worden ist. Innerhalb der EU gibt es ein beträchtliches Wohl­standsgefälle, aber im Weltmaßstab gehört die EU als Ganzes zu den prospe­rierendsten Regionen. Europas Kollektivmacht beruht maßgeblich auf seinem wirtschaftlichen Potential und seinem Binnenmarkt. Das macht diese Aktiva zum stärksten Pfeiler europäischer Souveränität. Den­noch ist der Status quo unbefriedigend: Europa macht zu wenig aus seiner ökonomischen Bedeutung und es hat sich zu verwundbar in einem Umfeld gemacht, das durch endemische Konflikte, zunehmende In­stabi­lität und eine Globalisierung auf dem Rückzug geprägt wird.

Katalysatoren dieser Erkenntnis waren die Corona-Pandemie, Russlands Krieg gegen die Ukraine und eine zunehmende Desillusionierung über Chinas weltpolitische Rolle. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs, »mehr Verantwortung für unsere Sicherheit zu übernehmen und weitere Schritte zum Aufbau unserer europäischen Souveränität, zur Verringerung unserer Ab­hängigkeiten und zur Gestaltung eines neuen Wachs­tums- und Investitionsmodells zu unternehmen«.41 In der Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundes­regierung finden sich im Abschnitt »Wirtschaftliche und finanzielle Resilienz und Rohstoffsicherheit erhöhen« zahlreiche Verweise auf »kritische Abhängigkeiten«, »kritische Infrastruktur«, »kritische Lieferketten« und »kritische Technologien«.42

In der Benennung all dieser Agendapunkte zeigt sich eine veränderte Sicht auf die Globalisierung. Lange Zeit galten Handels- und Kapitalströme, Infor­mations- und Ideentransfers nicht nur als Wohlstands­motor, sondern auch als begünstigende Faktoren für politische Kooperation und Verständigung. Das war kein Trugbild, aber es war nicht das ganze Bild. Denn selbst symmetrische Interdependenzen können schäd­liche Kehrseiten haben.43 In der Pandemie kam es wegen logistischer Probleme und plötzlich gestiegener Nachfrage zu Engpässen bei essentiellen Importprodukten. Bedrohlich können Abhängigkeiten werden, wenn sie in erpresserischer Weise als Macht­mittel eingesetzt werden (»weaponizing interdependence«). In ihrer »Erklärung von Versailles« bekunden die EU-Mitgliedstaaten ihre Absicht, »unsere Abhängigkeit von der Einfuhr von Gas, Öl und Kohle aus Russland so bald wie möglich zu beenden«,44 um Russland ungehemmter entgegentreten zu können. Abhängigkeit kann jedoch auch in weniger antagonistischen Situationen nachteilig werden. Als US-Präsident Trump das Nuklearabkommen mit dem Iran aufkündigte, konnte Europa das Scheitern der Vereinbarung nicht verhindern.

Um vor diesem Hintergrund eine Bestands­aufnahme des Ist-Zustands europäischer Souveränität vorzunehmen, sind einige Klarstellungen voraus­zuschicken:

  • Autarkie ist keine Option. Es geht um das Manage­ment von Interdependenzen.

  • Wohlstand muss klima- und umweltschonend sowie inklusiv im Sinne sozialer Teilhabe angelegt sein. Das bringt der Begriff »Wohlfahrt« zum Aus­druck.

  • Wohlstand zu erzeugen ist in einem privatkapitalistischen System in erster Linie eine Aufgabe nicht-staatlicher Akteure. Aber:

  • Der Staat war seit jeher unerlässlich für das Setzen und Durchsetzen von Regeln, für den Schutz vor äußeren Bedrohungen, die Bereitstellung von Infra­struktur, die Förderung von Innovation und intellektuellem Kapital durch Bildung, für Forschung und Subventionen sowie für die Festigung demokratischer Stabilität durch soziale Teilhabe.

  • Diese Funktionen und damit die Rolle des Staates werden aufgewertet durch ein instabiles Umfeld, in dem die Kehrseiten der Globalisierung stärker hervortreten und die Klimakrise sich Kipppunkten nähert. Die Staats- und Regierungschefs der EU be­kennen sich deshalb zur »Gestaltung eines neuen Wachstums- und Investitionsmodells«.45

  • Dafür müssen Staat und Privatwirtschaft zu einem neuen Zusammenwirken finden.

Unter diesen Maßgaben steht die Auflistung der nachfolgend skizzierten Souveränitätsdefizite. An­knüpfend an die Souveränitätstriade ist sie unterteilt in die Dimensionen »Macht« und »Verwundbarkeit«. Je nach Kontext und Perzeption können sich Ver­wund­barkeiten mehr oder weniger machtbeschränkend auswirken, während umgekehrt das Ausmaß seiner Macht beeinflusst, wie verwundbar ein Akteur ist. Obgleich das Überschneidungen bedingt, ist die hier vorgenommene Zweiteilung sinnvoll. Für die Zuord­nung der einzelnen Faktoren zu entweder Macht oder Verwundbarkeit gab den Ausschlag, für welche Sou­ve­ränitätskomponente sie relevanter erscheinen.

Wohlfahrt: Macht

Die größten Machtressourcen der EU sind ihr Binnen­markt,46 eine wettbewerbsfähige Wirtschaft und eine gemeinsame Währung, eingebettet in einen norma­tiven und regulativen Rahmen aus Marktwirtschaft, Solidarität und demokratischer Stabilität. Als Ensemble bilden diese Elemente einen Eckpfeiler europäischer Souveränität. Doch gibt es etliche Schwachstellen und unausgeschöpfte Potentiale:

a)

Binnenmarkt: Damit er »sein volles Potential […] entfalten« kann, wollen die EU-Mitgliedstaaten ihn »vollenden«, »vor allem in den Bereichen Digitales und Dienstleistungen«. Es soll einen »vollständig vernetzten Elektrizitätsbinnenmarkt und einen gut funktionierenden CO2-Markt« geben, die Euro-Mit­glieder wollen die Bankenunion vollenden und die Kapitalmarktunion vertiefen.47

b)

Gemeinsame Währung: Die Eurokrise der Jahre 2010–2013 erschütterte die Zone der Gemeinschaftswährung und die gesamte EU. Es war eine Krise mit Ansage, weil die Währungsunion, in den Worten des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi, ein »halbfertiges Haus« war. Anders als in den USA ist sie kein optimaler Währungsraum mit einem großen Zentralhaushalt, hoher Arbeits­kräftemobilität und integrierten Kredit- und Kapitalmärkten. Noch immer fehlt eine überwölbende politische Union, die wirtschaftlichen »Kulturen« sind heterogen und die Konvergenz bei Wett­bewerbs­fähigkeit, Einkommen und Schulden­ständen ist nach wie vor unzureichend. Dass der Euro dennoch krisenresistent war, sollte nicht zur Selbstzufriedenheit verleiten. Die nächste tiefe Krise könnte eine zu viel sein, und selbst wenn sie es nicht wäre: Das Souveränitätspotential,48 welches der gemeinsame Markt und eine gemeinsame Währung bieten, werden die Mitgliedstaaten nur ausschöpfen können, wenn sie den Binnenmarkt vertiefen und die Währungsunion konsolidieren.

Wohlfahrt: Verwundbarkeit

Im März 2022 haben die EU-Mitgliedstaaten beschlossen, »unseren strategischen Abhängigkeiten, vor allem in den sensibelsten Bereichen, entgegenzuwirken«.49 Solche Abhängigkeiten beschränken Souveränität, weil sie verwundbar machen. Sie zeigen sich auf folgenden Feldern:

Energie

»Wir müssen vermeiden, dass Europa in einem derart hohen Maße auf Erdöl- und Erdgasimporte angewiesen ist«, […] »insbesondere von einer einzigen Quelle oder einem einzigen Lieferanten.« Diesen Vorsatz hatten die EU-Staats- und Regierungschefs im Juni 2014 nach der Annexion der Krim durch Russland gefasst.50 Dass sie sich im März 2022 zu einer »gründ­liche(n) Neubewertung der Frage« gezwungen sahen, »wie wir die Sicherheit unserer Energieversorgung ge­währleisten«, und sich darauf verständigten, »unsere Abhängigkeit von der Einfuhr von Gas, Öl und Kohle aus Russland so bald wie möglich zu beenden«, kam deshalb einem Offenbarungseid gleich. Fast acht Jahre hatten die EU-Mitgliedstaaten ihren Vorsatz von 2014 weitgehend ignoriert: 2021 bezogen sie noch 40 Prozent ihrer Gasimporte aus Russland, im Fall Deutschlands, wo Gas mit einem Anteil von 27 Pro­zent am Energiemix den zweitwichtigsten Energie­träger darstellte, war es sogar mehr als die Hälfte.51 Durch Nord Stream 2 wäre diese Abhängigkeit ver­festigt worden. Deutschland hatte es sogar zugelassen, dass Gasspeicher an Gazprom veräußert und keine Pflichtfüllstände vorgeschrieben wurden.

Rohstoffe

Die Europäische Kommission hat den Entwurf für ein »Gesetz über kritische Rohstoffe« (Critical Raw Mate­rials Act) vorgelegt. Zur Begründung führt sie an: »Die EU ist stark von Importen kritischer Rohstoffe aus Nicht-EU-Län­dern abhängig. Diese Abhängigkeit führt in Verbindung mit der steigenden weltweiten Nach­frage zu anfälligen Lieferketten – nicht zu­letzt wegen des grünen und digitalen Wandels.« In Konkretisierung dieser Verwundbarkeit heißt es: »Lithium, Kobalt und Nickel werden in der Batterieherstellung eingesetzt. Gallium benötigen wir für Solarpaneele. Rohbor wird für Windtechnologien verwendet – Titan und Wolf­ram sind in der Raum­fahrt- und Verteidigungs­industrie essenziell.«52

Technologie und Industrie

In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie kündigt die Bundesregierung an zu »überprüfen, bei welchen Schlüsseltechnologien nationale und europäische Fähigkeiten zum Schutz unserer technologischen und digitalen Souveränität nötig sind.«53 Dass sie diese Technologien nicht zumindest exemplarisch benennt, verwundert, denn die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich durchaus bereits darauf verständigt, »stra­tegischen Abhängigkeiten« in folgenden Bereichen entgegenzuwirken: Halbleiter, künstliche Intelligenz, Cloud-Computing und 5G.54 Zudem hat die Kommission »Eingehende Überprüfungen von Bereichen mit strategischer Bedeutung für die Interessen Europas« durchgeführt.55 Kriterium waren »nur solche Abhän­gigkeiten, die in erheblicher Weise Kerninteressen der EU berühren und ihre Freiheit beschränken, nach Maßgabe eigener Prioritäten zu analysieren, Entschei­dungen zu treffen und zu handeln«.56 Als kritische Bereiche werden in diesem und einem zweiten Be­richt57 neben Rohstoffen und pharmazeutischen Wirk­stoffen bestimmt: Lithium-Ionen-Batterien, Wasserstoff, Halbleiter, Cloud- und Edge-Computing, Photovoltaik, Cybersicherheit, IT-Software. Ein Grund für Europas eingeschränkte Souveränität ist ferner, dass es mit 2,31 Prozent erheblich weniger als die USA (3,45 %) und Japan (3,26 %) in Forschung und Entwicklung investiert (Daten für 2020).58

Inzwischen ist aus der einträglichen Abhängigkeit von China eine in Teilen kritische Verwundbarkeit geworden.

Klumpenrisiko China

Chinas Handelspartner haben von dessen Aufstieg profitiert: durch kostengünstige Produktion, Importe und Exporte.59 Das ist vor allem Deutschland zugute­gekommen. Umgekehrt hat die Volksrepublik ihren Höhenflug auch ihrer Öffnung und Verflechtung vor allem mit Europa und den USA zu verdanken. In­zwischen ist aus der einträglichen Abhängigkeit von China eine in Teilen kritische Verwundbarkeit gewor­den. In ihrer China-Strategie stellt die Bundesregierung fest: »China hat sich verändert – dies und die politischen Entscheidungen Chinas machen eine Ver­änderung unseres Umgangs mit China erforderlich.« Außenpolitisch trete das Land »deutlich offensiver auf«, versuche die »regelbasierte internationale Ord­nung umzugestalten« und setze seine Wirtschaftskraft ein, »um seine politischen Ziele zu verwirk­lichen«. Das habe dazu geführt, »dass die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in unserer Bezie­hung in den vergangenen Jahren zugenommen haben«. Deshalb sei zwar keine Entkoppelung, aber »eine Minderung von Risiken (De-Risking) dringend geboten«. Solche Risiken gingen von Abhängigkeiten aus, »z.B. bei verschiedenen Metallen und Seltenen Erden, bei Lithiumbatterien und Photovoltaik sowie (veterinär-)pharmazeutischen Wirkstoffen (inkl. Antibiotika)«.60

Partizipation

Da sich Souveränität an der Macht anderer bricht, geht es darum, sein Umfeld so weit wie möglich nach Maßgabe eigener Interessen und Werte mitzugestalten. Wer mehr Macht hat, kann stärker mitgestalten, sei es kooperativ mit anderen oder konfrontativ gegen andere. Wie mächtig ein Akteur ist, bestimmen jedoch nicht allein seine Ressourcen, sondern auch, wie effek­tiv und effizient er sie anwendet. Ressourcen erzeugen und wirksam davon Gebrauch machen – wie kraftvoll sich diese Grundpfeiler europäischer Souveränität darstellen, hängt von der Bereitschaft und Fähigkeit der Mitgliedstaaten ab, gemeinsam mit den supranationalen EU-Organen europäische Kollek­tivmacht zu erbringen und einzusetzen.

Diese Bereitschaft hat drei Quellen. Die erste ist ein Kosten-Nutzen-Kalkül: Die europäische Integration dient dem Interesse der Mitgliedstaaten an Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation. Die zweite ist gemeinsame Identität: ein Europäertum, »schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas« (Präambel EUV) und geronnen zu gemeinsamen Werten: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschen­würde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ein­schließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören« (Art. 2 EUV). Die dritte Quelle ist kollek­tive Solidarität im Gegenzug für nationale Eigen­verantwortung. Da die EU kein Bundesstaat ist, ver­bleiben den Mitgliedstaaten beträchtliche Kompetenzen, die integrationsfreundlich zu nutzen sie sich verpflichtet haben: »Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unter­lassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten« (Art. 4 (3) EUV).

Dass mangelnde Bereitschaft, zur Kollektivmacht beizutragen, europäische Souveränität beeinträchtigt, wird an folgenden drei Beispielen deutlich. Europäische Handlungsfähigkeit gibt es nur auf Gegenseitigkeit. Zu ihr gehört Regeltreue, was im Falle der EU auch bedeutet, sich wertekonform zu verhalten und der Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit nach­zukommen. Dass die Europäische Kommission seit 2020 einen jährlichen Bericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten vorlegt, weist auf ein problematisches Ausmaß an Vernachlässigung dieser Verpflichtung hin.

Interessenunterschiede zwischen Mitgliedstaaten sind unvermeidbar. Entscheidend ist, wie sie aus­getragen werden und ob sie den EU-Zusammenhalt beeinflussen. Das stellt besondere Anforderungen an große Mitgliedstaaten: Wer mehr Macht hat, trägt auch mehr Verantwortung für das Ganze. Ein EU-Schwergewicht wie Deutschland ist in der Eurokrise zu Unrecht als »Zuchtmeister« kritisiert worden, weil es seine Bereitschaft zur Solidarität an Reform­auflagen knüpfte und dafür auch auf vertraglich vereinbarte Schuldengrenzen verwies. Zugleich hatte Deutschland jedoch seine Nato-Verpflichtung, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des Brutto­inlandsprodukts zu erhöhen, ignoriert, Warnungen östlicher Nachbarn vor einer Abhängigkeit von Russ­land in den Wind geschlagen und an dem Bauprojekt der Gasleitung Nord Stream 2 festgehalten.

Das Spannungsverhältnis, das zwischen Einheit und Vielfalt besteht, ist mit der vertikalen Vertiefung und hori­zontalen Erweiterung angewachsen.

»In Vielfalt geeint« ist das Motto der Europäischen Union. Das Spannungsverhältnis, das zwischen Ein­heit und Vielfalt besteht, ist mit der vertikalen Ver­tiefung und horizontalen Erweiterung angewachsen. Weitere nationale Kompetenzen sind auf die euro­päische Ebene übertragen worden und zugleich ist die Zahl der Mitglieder von anfänglich sechs auf heute 27 Staaten gestiegen. Um dem gewachsenen Konfliktpotential zu begegnen, sind vor allem zwei Wege beschritten worden: Zum einen eine Beschränkung der Vetomacht einzelner oder kleiner Gruppen von Mitgliedstaaten, indem die Möglichkeit ausgeweitet wurde, per Mehrheit abzustimmen. Die Mitgliedstaaten sind zwar weiterhin bemüht, im Konsens zu entscheiden, aber die dafür notwendige Kompromissbereitschaft wird gefördert, wenn alle wissen, dass sie überstimmt werden könnten. Der zweite Weg ist die differenzierte Integration. Manche Mitgliedstaaten sind gar nicht oder nicht vollständig (Opt-outs) an Integrationsprojekten beteiligt, seien es institutionelle wie die Währungsunion und der Schengen-Raum oder Einzelvorhaben, die im Rahmen der »Verstärkten Zusammenarbeit« (Art. 20 EUV) oder der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik« (Art. 42 und 46 EUV) vorangetrieben werden. Beide Wege haben die Handlungsfähigkeit der EU gefördert. Doch die Aufrufe, weiter als bisher zu gehen, zeugen davon, dass das Spannungsverhältnis zwischen Vielfalt und Einheit, das europäische Souveränität schmälert, nach wie vor akut ist.

Fazit: Dass Europas Selbstverteidigungsunfähigkeit das schwerwiegendste Souveränitätsdefizit ist, stand zu erwarten: Sich vor existentieller Bedrohung selbst schützen zu können, war bisher weder ein Ziel der EU-Integration noch eines, das außerhalb der EU an­gestrebt wurde. »Wohlstand durch Integration« hin­gegen ist ein fortwirkendes Gründungsmotiv: Der Binnenmarkt und der Euro, Wettbewerbsfähigkeit, ge­koppelt mit inner- und zwischenstaatlicher Soli­darität, sind Säulen europäischer Souveränität. Sie zeigen jedoch Risse, verursacht durch verwundbar machende Abhängigkeiten und das Klumpenrisiko China.

Zudem bleibt die Wirksamkeit, mit der Europa seine Machtressourcen einsetzt, hinter dem Möglichen zurück. Ein Grund dafür ist die Erosion der Rechtsstaatlichkeit. Nur wenn Anspruch und Wirklichkeit in Europa übereinstimmen, kann es glaubwürdig Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte von anderen einfordern und im systemischen Wett­streit mit autoritären Regimen bestehen.

Der Befund der Inventur ist eindeutig: Europa ist nicht so souverän, wie es sein könnte, würde es sein Kollektivmachtpotential ausschöpfen. Im nächsten Kapitel wird untersucht, ob und wie Europa souveräner werden könnte.

Agenda: Für ein souveränes Europa

Aus der Bestimmung der Souveränitätslücken ergibt sich, was nötig ist, sie zu schließen. Ob das Nötige möglich ist, ergibt ein Abgleich mit den vorhandenen Ressourcen. Fällt er positiv aus, kann das Nötige zum politischen Programm werden. Zwangsläufig ist das jedoch nicht. Finanzielle, materielle und personelle Ressourcen sind endlich und ihre Verwendung ist mit Opportunitätskosten verbunden. Wo und in welchem Umfang Ressourcen investiert werden, bestimmen Interessen, Präferenzen und Machtverhältnisse. Das gilt national in den EU-Mitgliedstaaten und unter ihnen auf europäischer Ebene.

Für europäische Kollektivmacht müs­sen alle bereit sein, ihre nationalen Präferenzen zugunsten gemeinsamer Handlungsfähigkeit einzuschränken.

Zu den Opportunitätskosten auf dieser Ebene zählt, dass mehr europäische Souveränität mit weniger nationaler Eigenständigkeit einhergeht. In der EU kann es keine Hegemonialmacht geben, weil sie teil-supranationalisiert ist und kein Mitgliedstaat über­mächtig ist. Machtunterschiede fallen zwar ins Ge­wicht, doch für europäische Kollektivmacht müssen alle bereit sein, ihre nationalen Präferenzen zugunsten gemeinsamer Handlungsfähigkeit einzuschränken.

Vor diesem Hintergrund wird in diesem Kapitel keine detaillierte Agenda entworfen. Die folgende Darlegung beschränkt sich auf zentrale Bausteine. Sie erfolgt wie bei der Inventur entlang der Souve­ränitätsfelder Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Parti­zipation.

Frieden

Die EU ist eine Friedensgemeinschaft, wie es sie unter Nationalstaaten kein zweites Mal gibt. Ihr Merkmal ist das Vertrauen eines jeden Mitglieds, dass Konflikte zwischen ihnen ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt ausgetragen werden. Ermöglicht hat diesen stabilen Frieden nicht allein die europäische Integration, aber »Frieden durch Integration« war und ist einer ihrer Antriebskräfte. Dass eine europäische Friedensgemeinschaft auch ohne institutionelle Vergemeinschaftung entstanden wäre und bis heute gehalten hätte, lässt sich nicht widerlegen, weil kontrafaktische Beweisführung unmöglich ist. Die Tatsache jedoch, dass eine für Europa historisch prä­zedenzlose Befriedung mit der Integration einherging, bietet Grund genug, sie als mitursächlich für Europas stabilen Frieden zu betrachten.

Für die Friedensgemeinschaft gibt es drei latente Gefahrenquellen. Die erste ist, sie für selbstverständlich zu halten. Gehen alle davon aus, dass sich ein Scheitern Europas für alle verbietet, kann dies die Haltung verstärken, dass andere schon für die Bewah­rung der Errungenschaften sorgen werden, und die Bereitschaft beeinträchtigen, nationale Interessen am europäischen Gemeinwohl auszurichten. Europa ist zwar weitaus krisenresistenter als häufig prognostiziert und Notlagen haben immer wieder Integrationsschübe bewirkt. Daraus sollte jedoch keine Tugend gemacht werden: Krisen könnten den Zusammenhalt überstrapazieren.

Die zweite Gefahrenquelle ist die Erosion der Rechts­staatlichkeit. Frieden durch Integration ist möglich geworden, weil Europa eine Union von demo­kratischen Nationalstaaten ist. Auch das dürfte mehr als eine Koinzidenz sein. Dabei ist es unerheblich, ob es stabilen Frieden nur unter demokratisch verfassten Staaten geben kann – in Europa ist es bis­lang so gewesen. Das ist Grund genug, an der Über­zeugung und dem Leitsatz festzuhalten, dass Frieden und Demokratie zwei Seiten einer Medaille sind und die Rechtsstaatlichkeit nicht ausgehöhlt werden darf.61

Neben der geteilten Identität (»Europäertum«) ist die zweite Bindekraft der EU das Kosten-Nutzen-Kal­kül auf Seiten der Mitgliedstaaten: Europäische Inte­gration dient ihren Kerninteressen Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation. Geht dieses Kalkül nicht mehr auf, können Zusammenhalt und Zusam­menwirken schwächer werden oder ganz bedroht sein. Dies ist die dritte Gefahr für den Bestand der Friedensgemeinschaft. Eine Souveränitätsagenda für Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation hat deshalb auch einen mittelbar friedenspolitischen Zweck.

Sicherheit

Europa hat mit der Abhängigkeit vom US-amerika­nischen Beistandsversprechen, verbrieft im Artikel 5 des Nato-Vertrags, seit über 70 Jahren nicht nur über­lebt, sondern gut gelebt. Jemand, der sich mit diesem Zustand nie abfinden wollte, hat es so formuliert: »Es gibt Schlimmeres als das luxuriöse Protektorat mit so großzügiger Mitbestimmung, in dem Europa existiert und in dem die amerikanischen Stützpunkte doch wirklich nicht wehtun.«62 Gleichwohl ändert das nicht die Grundkonstellation: Wer sich vor existen­tieller Bedrohung nicht selbst schützen kann, hat ein neuralgisches Souveränitätsdefizit.

Selbstverteidigung ist der anspruchsvollste Schlüssel zu europäischer Souveränität.

Sicherheit: Verteidigung

Selbstverteidigung ist der anspruchsvollste Schlüssel zu europäischer Souveränität. Europa hätte die wirtschaftlichen, technologischen und finanziellen Mittel dafür. Zwar müssten sie aufgestockt werden, doch wenn die USA mehr als 3 Prozent in ihre Ver­teidigung investieren, können ihre europäischen Verbündeten schwerlich argumentieren, sie seien dazu nicht in der Lage. Zumal sie es müssten, zögen die USA ihre Beistandszusage zurück.63

Es gibt drei Hürden auf dem Weg zu europäischer Selbstverteidigung. Die erste ist, den politischen Willen aufzubringen, die zweite, den Prozess hin zu verteidigungspolitischer Eigenständigkeit kontrolliert und konsistent zu voll­ziehen. Dasselbe gilt, drittens, auch und vor allem für den heikelsten Teil: die Ent­wicklung einer von den USA unabhängigen nuklearen Abschreckungsfähigkeit. Die drei Herausforderungen hängen, wie im Folgenden zu erkennen sein wird, zusammen.

Ob die erste Hürde überhaupt genommen werden sollte, stellt sich im vorliegenden Kontext ebenso wenig wie die Frage, welche Umstände den nötigen politischen Willen hervorbringen könnten. Unter der Annahme, dass nur souverän ist, wer sich selbst ver­teidigen kann, geht es darum zu bestimmen, welche Anforderungen dafür erfüllt sein müssten und wie das geschehen könnte.

Dazu gibt es keine Blaupausen. Offizielle kann es nicht geben, weil verteidigungspolitische Eigenständig­keit weder auf der europäischen noch der deut­schen Agenda steht. Bundeskanzlerin Merkel hatte zwar mehrfach vorgegeben, Europa müsse sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, eine entsprechende Politik aber nicht programmatisch verfolgt. In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie verschreibt sich die Bundesregierung dem Ziel digitaler und technologischer, aber an keiner Stelle einer verteidigungspolitischen Souveränität Europas.

Dieser Autor hat die Vorgabe der damaligen Bundeskanzlerin zum Anlass genommen, einen Weg zu skizzieren, auf dem Europa die Fähigkeit zur Selbst­verteidigung erlangen kann.64 Er wird hier thesen­artig dargelegt:

  • Verteidigungspolitische Autonomie impliziert weder Autarkie noch Auflösung der Nato. Es geht um Statusparität in der Nato: Europa sollte wie die USA in der Lage sein, sich auch ohne den Beistand des anderen schützen zu können.

  • Das zu erreichen erfordert erhebliche Investitionen und ein Europa, das weiter zusammenwächst. Europäische Identität und Solidarität auf der Basis nationaler Interessenkonvergenz sind der Schlüssel zu einer Integrationsgemeinschaft, die konstitutionell bleiben kann, was sie ist: ein einzigartiges Ge­bilde, in dem die Nationalstaaten nicht aufgehen, aber zu einer weitreichenden Kollektivierung von Kompetenzen bereit sind.

  • In einer solchermaßen verdichteten Gemeinschaft würde sich die Frage nach nuklearer Abschreckung in einem anderen Licht stellen, weil es sich dann nicht mehr um erwei­terte Abschreckung handelte, wie sie von den USA bereitgestellt wird. Die Nato ist eine zwischenstaatliche Organisation, die EU ein Staatenkollektiv mit einer Mischung aus Inter- und Supranationalität. Bei fortschreitender Inte­gration könnte sich eine neue Form des nuklearen Schutzes herausbilden, die sich als integrierte Ab­schreckung bezeichnen ließe: keine erweiterte Abschreckung mehr, aber auch nicht originäre Abschreckung, die nationalen Solidargemeinschaften vorbehalten ist.

  • Dieser Ansatz könnte ermöglichen, dass sich eine fran­zösische Nuklearabschreckung für Europa auch ohne eine Aufstockung erreichen ließe, die sich am Maßstab der erweiterten US-Abschreckung orientieren würde.65

  • Ein gängiger Einwand lautet, dass ein französischer Nuklearschutz für eine europäische Selbstverteidigung weder angeboten noch nachgefragt wird. Diese Beschreibung des Ist-Zustands führt argumentativ in die Falle. Denn sie suggeriert eine Un­abänderlichkeit des Status quo. Vielleicht wird Europa es nie schaffen, sich aus der Abhängigkeit von amerikanischem Schutz zu lösen. Aber erst ein nachhaltiger Versuch könnte es belegen oder widerlegen.

  • Die Initiative dazu müsste von Deutschland und Frankreich ausgehen. Die beiden Nachbarn müssten durch Vorbild führen, indem sie europäische Solidarität praktizieren und ihre bilaterale Verflechtung auf breiter Basis vorantreiben. Ihre Gemeinschaft könnte Nukleus und Katalysator einer europäischen Selbstverteidigungsunion sein.

Sicherheit: Grenzen

Der Migrationsdruck aus Europas Nachbarschaft dürfte hoch bleiben. Solange das der Fall ist, steht die EU vor einem Trilemma: Sie muss und will Grenzen schüt­zen, erwünschte Einwanderung fördern und zugäng­lich für Schutzbedürftige bleiben. Deshalb sind Ziel­konflikte unvermeidlich: Grenzen durch Zäune zu befestigen, erschwert den Zugang auch für Schutz­bedürftige; sie in »Schnellverfahren« auf Asylberech­tigung zu überprüfen, kann vorschnelle Zurück­weisung zur Folge haben. Um die eigenen Grenzen zu entlasten, damit weniger Migranten ankommen, kann es notwendig sein, mit autoritären Regimen zu ko­ope­rieren, die Migrationsrouten kontrollieren. Arbeits­kräfte anwerben kann in den Herkunfts­ländern zu einem Verlust von Qualifizierten und Talentierten führen, der ihre Entwicklung behindert und so das Ziel konterkariert, durch Fluchtursachenmilderung die Abwanderung nach Europa zu ver­ringern.

Offenheit für Schutzbedürftige erfordert demokratische Stabilität, die durch Ausmaß der Zuwanderung nicht gefährdet werden darf.

Das Aufkommen populistischer Kräfte, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltausbrüche in EU-Mitglied­staaten sowie Konflikte zwischen ihnen belegen, dass eine als übermäßig empfundene Zuwanderung den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die demokratische Stabilität und die europäische Solidarität überstrapazieren kann. Nach jahrelangem Zwist sind die EU-Instanzen (Kommission, Ministerrat, Europäisches Parlament) in ernsthafte Verhandlungen über eine wirksamere Asyl- und Migrationspolitik eingetreten. Anvisierte Regelungen wie eine zentrale Erfassung aller Migranten und das Festhalten von Asylbewerbern aus Ländern mit geringer Anerkennungsquote in Zentren an den Außengrenzen der Union zeugen davon, dass die EU-Mitgliedstaaten inzwischen zu robusteren Maßnahmen bereit sind.

Was auch immer die Ergebnisse der Verhandlungen sein werden und wie auch immer sich deren Umset­zung in der Praxis darstellen wird – die beschriebenen Zielkonflikte bleiben. Wie souverän Europa in der Grenzfrage sein wird, hängt deshalb davon ab, wie »souverän« es mit der Abwägung zwischen ihnen umgeht. Dafür müssen Wertekonflikte ausgehalten werden: Offenheit für Schutzbedürftige erfordert demokratische Stabilität und europäische Solidarität, die durch Ausmaß und Art der Zuwanderung nicht gefährdet werden dürfen. Darin liegt ein Dilemma, das Bundespräsident Joachim Gauck im September 2015, nachdem in wenigen Monaten Hundertausende Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren, benannt hat: »Dem humanen Wollen zur möglichst unbegrenzten Hilfe stehen am Ende doch immer be­grenzte Möglichkeiten gegenüber [...] Es muss Staaten geben, in die Menschen flüchten können, solange es Krieg und Verfolgung gibt. Und unser Deutschland muss einer dieser Staaten sein und bleiben. Damit das so bleibt, müssen Staaten, aber auch ein Staaten­verbund wie die Europäische Union, ihre äußeren Grenzen schützen. Denn nur so können wir die Kern­aufgaben eines staatlichen Gemeinwesens erfüllen: die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und letzt­lich des inneren Friedens. Sie sind die Voraus­setzungen dafür, überhaupt Flüchtlinge in großer Zahl aufnehmen zu können.«66

Wohlfahrt

Sicherheit erfordert Schutz vor Bedrohungen und Gefährdungen. Im wesentlichen Unterschied dazu ist Wohlfahrt ein auf Kooperation angewiesenes Gut. Es hat zwar auch ein kompetitives Element durch den Wettbewerb um Marktanteile, aber Wettbewerb setzt Arbeitsteilung und Austausch voraus, die es nur im Miteinander gibt. Abschottung und Autarkie müssten mit erheblichem Verzicht auf und Verlust an Wohl­stand erkauft werden.

Kooperation impliziert jedoch Abhängigkeit, die selbst dann verwundbar machen kann, wenn sie sym­metrisch ist. Das Ziel kann deshalb nur sein, Inter­dependenzen so weit wie möglich an den eigenen Interessen und Werten auszurichten. Wie sehr oder wenig das gelingt, hängt von Macht und Verwundbarkeit in einer konkreten Interaktionsbeziehung ab: Je mächtiger ein Akteur und je weniger verwundbar er ist, umso größer seine Souveränität.

Für die Bemessung dieser Souveränität gibt es objektive Maßstäbe: demografische, wirtschaftlich-technologische und militärische Ressourcen, die Macht verleihen. Verwundbarkeit bemisst sich an­hand von Indikatoren wie dem Anteil einzelner Handelspartner am Ex- und Import, ihrer Bedeutung als Absatz- und Investitionsstandort, der Relevanz von Importgütern für die heimische Produktion, dem Grad der Diversifizierung in Bezug auf Zulieferer und die Substituierbarkeit durch heimische Produktion.67 Eine Rolle spielt ferner, ob die Interessen und Werte der Beteiligten konvergieren oder divergieren. Mit zunehmender Divergenz steigt das Risiko von Ver­wundbarkeit.

Die Objektivität dieses Kriteriums ist jedoch begrenzt. Beziehungen sind nicht statisch und unter­liegen subjektiver Einschätzung. Unter Präsident Trump hatten sich die transatlantischen Beziehungen in einem Maße verschlechtert, dass Bundeskanzlerin Merkel äußerte: »Und es ist nicht mehr so, dass die Vereinigten Staaten von Amerika uns einfach schüt­zen werden, sondern Europa muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.«68 Jahrzehntelang galt die starke Abhängigkeit von russischem Öl und Gas als unproblematisch. »Wandel durch Annäherung« und »Sicherheit nur mit Russland« waren politikleitende Annahmen, die der Angriff auf die Ukraine als Fehl­einschätzungen entlarvt hat. Auch die Abhängigkeit von China wird in einem kritischeren Licht betrachtet, seit im Verhältnis zu Peking »die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren zugenommen haben«.69

Das Sicherheitsnetz der Globalisie­rung muss verstärkt werden.

Welche Folgen Abhängigkeiten und die mit ihnen einhergehenden Verwundbarkeiten für Wohlfahrt und Souveränität haben, hängt mithin vom Kontext und seiner politischen Einschätzung ab. Wirtschaft­licher Austausch und Arbeitsteilung bleiben ebenso unverzichtbar wie politische Kooperation zur Ver­hütung und Beendigung von Kriegen und Konflikten, zur Eindämmung des Klimawandels oder für das Erreichen der 17 Globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Das globale Umfeld ist jedoch abträglicher für Austausch und Kooperation geworden, weil es mehr und mehr von konflikt- und krisen­trächtiger Instabilität geprägt wird.70

Das hat Folgen für den Abbau der im Kapitel »In­ventur« aufgedeckten Souveränitätsdefizite. Die erste betrifft das Verhältnis von Sicherheit und Wohlfahrt: Sicherheit wird wichtiger. Das Sicherheitsnetz der Globalisierung muss verstärkt werden. Die Mobilität von Gütern, Kapital, Ideen und Personen bleibt ein Wohlstandsmotor, aber die durch sie hervorgerufene Verwundbarkeit muss stärker eingehegt werden.

Zweitens: Wenn Sicherheit wichtiger wird, wird es auch der Staat. Sicherheit zu gewährleisten ist seine exklusive Aufgabe, und Staaten sind zuständig für das Setzen und Durchsetzen von Regeln für natio­nales und internationales Wirtschaften. In der EU sind dies die Mitgliedstaaten zusammen mit den supranationalen Instanzen Kommission, Europäisches Parlament, Europäische Zentralbank und Europäischer Gerichtshof.

Drittens: In der Souveränitätstriade liegen zwei Ansatzpunkte, sich abzusichern. Der erste ist Macht und ihr wirksamer Einsatz, der zweite besteht darin, kritische Abhängigkeiten abzubauen oder zu ver­meiden. Die nachfolgende Agenda ist demgemäß zweigeteilt in »Macht« und »Verwundbarkeit«.

Wohlfahrt: Macht

Europas wirtschaftliches Potential ist seine größte Macht- und Souveränitätsressource. Seine beiden Bestandteile sind nationale Volkswirtschaften sowie der gemeinsame Markt mit dem Euro, der für die meisten Mitgliedstaaten gemeinsame Währung ist. Dabei besteht eine klare Hierarchie: Die macht­verleihende Stärke des Binnenmarkts und des Euros beruht auf leistungs- und wettbewerbsfähigen Volks­wirtschaften.

Den Binnenmarkt und den Euro zu kräftigen und besser zu nutzen macht souveräner.

Wie unerschlossene Potentiale des Binnenmarkts und der Gemeinschaftswährung gehoben werden könnten, haben die Mitgliedstaaten selbst identifiziert und wurde im Kapitel »Inventur« ausgeführt. Ergän­zend werden hier einige Aspekte hervorgehoben:

  • Ein großer Markt und eine eigene Währung machen Europa unempfindlicher gegenüber externen Ein­flüssen. Den Binnenmarkt und den Euro zu kräf­tigen und besser zu nutzen macht souveräner.

  • Bemühungen, die in diese Richtung wirken, sollten eingebettet sein in eine »Transformationsstrategie«, die multiplen Herausforderungen Rechnung trägt: einem riskanter gewordenen Umfeld; der Notwendigkeit, Produktion und Konsumption zu dekarbonisieren; den Chancen, die sich durch disruptive Technologien bieten, und den Risiken, die sie mit sich bringen. Und bei alledem muss die Solidarität in und zwischen Generationen sowie unter den EU-Mitgliedern gewahrt werden.

  • EU-interne Solidarität ist wechselseitig. Das Prinzip gilt selbst in Bundesstaaten wie dem deutschen mit seinem Länderfinanzausgleich, es gilt erst recht in Europa, das nach dem Willen seiner Mitglied­staa­ten kein Bundesstaat werden, sondern eine Union von Nationalstaaten bleiben soll. Binnenmarkt und Euro sind sekundäre Wohlstands­quellen, primär kommt es auf die nationalen Volkswirtschaften an, für deren Leistungsfähigkeit die Mitgliedstaaten die wirtschafts- und fiskalpolitischen Rahmenbedingungen setzen. Nationale Eigenverantwortung, zu der Vertrags- und Regeltreue zählen, und europäische Solidarität sind zwei Seiten einer Medaille.

  • Der Europäische Rat hat im Dezember 2022 auf langfristige Herausforderungen verwiesen, denen sich die EU stellen müsse, »insbesondere der zwischen Europa und seinen globalen Wettbewerbern bestehenden Wachstums- und Innovationslücke«.71 Die Technologien, um die es dabei vorrangig geht, sind von Mitgliedstaaten und Kommission iden­tifiziert worden. Sie zu entwickeln und marktreif zu machen ist zwar in erster Linie eine Aufgabe privatwirtschaftlicher Akteure; wie zentral jedoch die Rolle des Staates als Innovationstreiber ist, be­legt das US-amerikanische Beispiel, wo die Bundesebene nicht zuletzt über die »Defense Advanced Research Projects Agency« des US-Verteidigungs­ministeriums technologische Innovationssprünge angestoßen hat.72 In der EU kommt es dafür neben mehr Mitteln für Forschung und Entwicklung auf ein besseres Zusammenwirken wissenschaftlicher Institutionen, der Privatwirtschaft und öffentlicher Akteure auf nationaler und EU-Ebene an.

Wohlfahrt: Verwundbarkeit

Bei Technologieförderung geht es nicht allein um Wett­bewerbsfähigkeit, sondern auch um mehr Souveränität durch »Verringerung unserer strategischen Abhängigkeiten«.73 Bei der Erkenntnis, dass sie hier mehr tun müssen, haben die Mitgliedstaaten vor allem die USA und China im Blick. Hinsichtlich der USA sind es Konzerne wie Alphabet/Google, Amazon, Microsoft und Meta, aber auch der Staat, der Indus­triepolitik mit üppigen Subventionsprogrammen wie dem »Inflation Reduction Act« und dem »CHIPS and Science Act« betreibt.

Ungleich kritischer ist die Verwundbarkeit im Ver­hältnis zu China, das für Europa und Deutschland eine enorme Bedeutung erlangt hat: als Absatzmarkt und Investitionsstandort sowie als Zulieferer von Gütern und Rohstoffen für die digitale und grüne Transformation. Weltwirtschaftlich wie auch welt­politisch ist es neben den USA das einzige Land, das sich unentbehrlich gemacht hat. Dabei ist es innen­politisch repressiv und tritt nach außen offensiv auf. Von China abhängig zu sein, ist ökonomisch und politisch riskanter geworden.

In Reaktion darauf ist »De-Risking« zum Leitwort sowohl in Europa als auch in den USA geworden. Es bringt zum Ausdruck, dass Entkoppelung von China weder möglich noch wünschenswert ist. Ziel ist es, die Risiken einer unvermeidlichen Abhängigkeit von China zu minimieren. Welche das sind, wie sie redu­ziert oder gar vollständig abgewendet werden könn­ten, ist eine Frage politischer und unternehmerischer Abwägung. Der Abbau von Abhängigkeiten durch ein Zurückfahren des Handels mit China hat seinen Preis. In den USA wird De-Risking mehr als in Europa im Licht der globalstrategischen Rivalität mit China be­trachtet.74

»De-Risking« ist offiziell auf China gemünzt, aber angezeigt ist eine Neubewertung von Austausch- und Abhängigkeitsverhältnissen auch über die Volks­republik hinaus. Russlands Angriff auf die Ukraine, den Peking sich weigert zu verurteilen, hat dafür als zusätzlicher Katalysator gewirkt. Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen »strategische Abhängigkeiten« verringern und die Bundesregierung hat erklärt: »Kritische Abhängigkeiten in strategisch relevanten Bereichen müssen gezielt reduziert werden, um die eigene Handlungsfähigkeit im globalen Kontext zu erhalten und auszubauen, ohne die wirtschaftliche Offenheit und Innovationskraft Deutschlands zu beeinträchtigen. Unser Ziel ist, dass wirtschaftliche Verflechtungen keine nachteiligen Folgen für unsere Sicherheit haben.«75

Entscheidend ist, mit wem man welche Abhängigkeiten eingeht und wie viel Vertrauen man in seine Verlässlichkeit hat.

So richtig und wichtig dieses Ziel ist – die Aussage ist unvollständig. Selbst hohe Dependenzen sind nicht per se kritisch. So ist zum Beispiel der »EU-Binnen­markt für Deutschland sowohl für Vorprodukte als auch als Absatzmarkt von überragender Bedeutung«.76 Entscheidend ist, mit wem man welche Abhängig­keiten eingeht und wie viel Vertrauen man in seine Verlässlichkeit hat. Das ist ebenso eine Frage der poli­tischen Einschätzung wie eine Abwägung zwischen den beiden Seiten einer Verflechtung: ihrem wohl­standsfördernden Nutzen einerseits und ihrer Kehr­seite, den Risiken, die einer Abhängigkeit inne­wohnen, andererseits. Wenn man Abhängigkeiten reduzieren will, ohne die wirtschaftliche Offenheit und Innova­tionskraft zu beeinträchtigen, und Ver­flechtungen ohne nachteilige Folgen eingehen will – so kann das eine auf Kosten des anderen gehen. Dies sollte die Bundesregierung klarstellen.

Zumal »De-Risking« in den Kontext der »Trans­formationsstrategie« eingebettet ist. Mehr Lieferanten und eine größere Eigenständigkeit bei erneuerbaren Energien, Halbleitern, Batterien, Künstlicher Intel­ligenz, Cloud- und Quantencomputing sowie Roh­stoffen machen weniger verwundbar. Sie gewähr­leisten die Versorgung mit diesen für die Transformation unerlässlichen Inputs und Fähigkeiten, schaffen hoch­produktive Beschäftigung und stärken die soziale Stabilität. Dem »De-Risking« dienen auch die Kon­trolle und Begrenzung von ausländischen Inves­titionen in Europa (»inbound investment«) und von Investitionen europäischer Unternehmen im Ausland (»outbound investment«). Denn auf diese Weise kann verhindert werden, dass vor allem chinesische Unternehmen Zugriff auf kritische Daten und Technologie bekommen. Ähnliches gilt für den von der Bundesregierung angestrebten »schnellen Abschluss von weiteren ambitionierten Handels- und Investitionsabkommen mit globalen Partnern«.77 Solche Abkommen tragen zu »De-Risking« bei und steigern Wohlstand durch regelgebundenen Austausch.

Fazit: Wohlstand ist nicht zu haben, ohne dass man sich durch Austausch und Arbeitsteilung auf Abhängigkeiten einlassen muss, die verwundbar machen können. Das gilt selbst dann, wenn sie sym­metrisch sind. Ändern sich politische Ambitionen und Risikokalküle, wie exemplarisch im Falle des russischen Angriffs auf die Ukraine, können selbst wechselseitige Abhängigkeiten zu einem untragbaren Risiko werden.

Weil Autarkie unmöglich oder nur mit erheblichen Wohlstandsverlusten erreichbar ist, bleibt es poli­tischer Einschätzung vorbehalten, welche Abhängigkeiten nützlich oder schädlich sein können. »De-Risking« durch Entflechtung kann Wohlstand kosten. In einer Welt jedoch, in der Machtrivalitäten und konfliktträchtige Instabilität wuchern, werden Ver­wund­barkeit riskanter und Eigenständigkeit wert­voller.

Partizipation

Europas Kollektivmacht optimal zu nutzen gelingt umso besser, je zielgerichteter sie eingesetzt wird. Wirksamkeit ist Teil der Souveränitätstriade. Um sie und damit Europas Souveränität zu stärken, gibt es drei Ansatzpunkte.

Der erste und bedeutendste ist, Europas Mehrwert zu erhöhen. Europäische Souveränität erfordert den Verzicht auf nationale Handlungsfreiheit. Die Bereit­schaft dazu hängt von zwei Faktoren ab: nationalen Interessen und europäischer Identität. Europäische Integration und Kollektivmacht werden getragen von den Interessen der Mitgliedstaaten an Frieden, Sicher­heit, Wohlfahrt und Partizipation. Neben diesem Nutzenkalkül gibt es eine zweite elementare Binde­kraft: ein geteiltes »Europäertum«, wurzelnd in Geschichte, Kultur und Wissenschaft, das Ausdruck und Halt in einer Wertegemeinschaft findet, zu der sich die Mitgliedstaaten in Artikel 2 EUV bekennen.

Das Nutzenkalkül kann nur aufgehen, wenn es auf Gegenseitigkeit angelegt ist. Ob großer oder kleiner Mitgliedstaat – europäische Solidarität kann nur erwarten, wer sie selbst praktiziert. Dazu gehören Vertrags- und Regeltreue und dass große Mitglied­staaten ihre größere Macht bedachtsam einsetzen.78

Der zweite Ansatzpunkt ist institutioneller Art. Wie kann Europa durch Reformen seiner Architektur und seiner Verfahren seine Kollektivmacht wirksamer einsetzen? Königswege dazu gibt es nicht, aber einige Holzwege. Für ein »Grand Design«, gar mit einer Fest­legung auf die Finalität der Integration, ist unter den Mitgliedstaaten noch weniger ein Konsens absehbar als für eine große Vertragsreform. Der »Weiterentwick­lung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat«, wie sie die Parteien, die die Bundesregierung tragen, im Koalitionsvertrag avisieren, steht der Charakter der EU als einer Union von Nationalstaaten im Wege. Ein »Europäischer Sicherheitsrat« ist entweder sinnlos oder aussichtslos: Sind alle EU-Mitglieder mit gleichen Rechten vertreten, braucht es ihn nicht; rotiert die Mitgliedschaft und haben einige mehr Rechte als andere, wird es ihn nicht geben. Auch für ein »Kern­europa« zeichnet sich keine Trägergruppe ab.

Bleiben vor allem zwei bewährte Optionen.79 Ers­tens die Ausweitung des Mehrheitsprinzips in be­stehen­den Bereichen und auf neue Politikfelder. Dafür macht sich auch die Bundesregierung stark, explizit in der gemeinsamen Außenpolitik und »auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik«.80 Die zweite Option ist die seit langem praktizierte »diffe­renzierte Integration«: In ihr »nehmen die Mitgliedstaaten nicht gleichermaßen an allen integrierten Politiken teil«.81 Das gilt zum Beispiel für die gemein­same Währung (derzeit 20 von 27), den Schengen-Raum mit grenzfreiem Verkehr (derzeit 23 von 27) oder die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik (25 von 27).

Beide Optionen sind eine Reaktion auf das Fortschreiten vertikaler und horizontaler Integration. Eine Verdichtung der Integration in Form der gemein­samen Währung kam und kommt nicht für alle Mit­gliedstaaten in Frage. Durch die Erweiterung von ursprünglich sechs auf heute 27 Mitglieder wurde »Einheit in Vielfalt« schwieriger. Die prospektive Erweiterung um Balkan-Staaten, die Ukraine und Moldau wird die EU nochmals erheblich heterogener machen. Das wird nicht nur institutionelle Anpassungen bei der Kommission und dem Europäischen Parlament erfordern; auch die differenzierte Integra­tion durch Auflagen und Übergangsregelungen für Neumitglieder wird ebenso einen Schub bekommen wie die Ausweitung des Mehrheitsprinzips.

Letzteres wird notwendig, aber kaum hinreichend sein, um Heterogenität und Handlungsfähigkeit zu vereinbaren. Für Befürworter wie Deutschland wird die Nagelprobe kommen, wenn sie in wichtigen Fragen überstimmt werden können. Differenzierte Integration durch »Gruppen von Willigen« wird un­erlässlich sein, um »Einheit in Vielfalt« zu gewähr­leisten.

Den dritten Ansatzpunkt bilden Handlungs­prinzipien. Europäische Kollektivmacht bewirkt mehr, wenn sie den Gegebenheiten ihres Umfelds Rechnung trägt. Diese legen folgende Leitlinien nahe:

Mehr Sicherheit und weniger Verwundbarkeit

Ordnung ist ein im Deutschen positiv konnotierter Begriff. Deshalb ist eine »regelbasierte internationale Ordnung« sprachlich tautologisch, weil eine Ordnung ohne Regeln eine Unordnung ist. Wenn die Bundesregierung in der nationalen Sicherheitsstrategie gleich­wohl von einer solchen Ordnung spricht, dann sind damit Regeln gemeint, zu denen sich Staaten in der Charta der Vereinten Nationen, in weiteren völker­rechtlichen Abkommen, durch bi- und multilaterale Verträge und durch Bekundungen verpflichtet und bekannt haben. Zu den völkerrechtlichen Kern­normen zählen in Sonderheit Gewaltfreiheit und friedliche Streitbeilegung, souveräne Gleichheit der Staaten, Achtung vor Menschenrechten und internationale Zusammenarbeit (aus VN-Charta, Art. 1 und 2). Dass es eine solchermaßen »geordnete« Welt nie gegeben hat, entwertet nicht den Anspruch, sie anzustreben und einzufordern, dass Verpflichtungen eingehalten werden.

Die Lücke zwischen Anspruch und Realität erfordert jedoch Absicherung. Da Autarkie und Abschottung nicht möglich oder erstrebenswert sind, geht es um Interdependenzmanagement in Kooperation mit anderen. Für Europa und Deutschland heißt das: Mehr in die eigene Sicherheit investieren und wechsel­seitige Abhängigkeiten so ausrichten, dass sie weniger verwundbar machen.

Ziel- und Prioritätenkonflikte aushalten

Maßnahmen in Richtung von mehr Sicherheit und weniger Verwundbarkeit bringen Opportunitäts­kosten mit sich. Sie zu scheuen wäre verantwortungslos und teuer zugleich: Hätte Deutschland sicherheitspolitisch bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine umgesteuert, müsste es nicht ein »Sonder­vermögen« von 100 Milliarden Euro auflegen und seinen regulären Verteidigungshaushalt drastisch erhöhen. Den grünen und digitalen Umbau zu ver­schleppen kostet Wettbewerbsfähigkeit (siehe Elektro­mobilität) und macht abhängig von unsicheren Energie- und Rohstofflieferanten. Umsteuern und Umbauen werden nicht nur erhebliche Mittel, son­dern auch eine Umstellung von Lebensstilen erfor­dern. Politische Führung sollte die darin liegenden Chancen für nachhaltigen Wohlstand in Sicherheit und Freiheit herausstellen, ohne die Opportunitätskosten herunterzuspielen, weil das antidemokra­tischen Populismus begünstigen könnte.

Fazit: Aus der »Inventur« eine programmatische »Agenda für ein souveränes Europa« abzuleiten, ist kein anspruchsvolles Unterfangen. Die Herausforderung ist eine politische: Jeder weiß, was europäische Souveränität erfordert; ungewiss ist lediglich, ob die Mitgliedstaaten den politischen Willen zum Handeln aufbringen werden. Gewiss ist hingegen wiederum, dass es dafür auch und in Sonderheit auf große Mit­gliedstaaten wie Deutschland ankommt. Ein souve­ränes Europa braucht Fürsprecher und Führung. Des­halb schließt die im analytischen Teil dieser Studie vorgenommene »Vermessung europäischer Souveränität« mit der Empfehlung, Deutschlands Macht und Ansehen für ein souveränes Europa einzusetzen.

Auf Deutschland kommt es an

»Es ist eine deprimierende Aussicht, dass wir alle diese Kriege und Konflikte brauchen, um Erneuerung und Veränderung zu produzieren.«82 Die Europäische Union belegt dieses Diktum Christopher Clarks para­digmatisch. Es brauchte zwei Weltkriege und die De­gradierung europäischer Mächte zu Schutzbedürftigen der USA für eine Zeitenwende auf dem Kontinent: Nach Jahrhunderten kriegsträchtiger Rivalität ist in Gestalt der EU und ihrer Vorläufer eine Friedens­gemeinschaft entstanden, in der Konflikte ohne An­drohung oder Anwendung von Gewalt ausgetragen werden. Dafür hat die Gemeinschaft im Jahre 2012 den Friedensnobelpreis erhalten.

Im Clarkschen Sinne noch deprimierender wäre es, würde aus Kriegen nicht gelernt. Putins Überfall auf die Ukraine enthält einige Lehren, auch und in Sonderheit für Deutschland. Dass der Angriff Bundes­kanzler Olaf Scholz veranlasste, am 27. Februar 2022 in einer Regierungserklärung eine »Zeitenwende« aus­zurufen, beschreibt seine grundstürzenden Folgen für Sicherheit und Kooperation auch über Europa hinaus. Deutschland hatte sich auf eine riskante Abhängigkeit von russischer Energie eingelassen und eine grobe Vernachlässigung seiner Streitkräfte und Nato-Verpflichtungen zugelassen.

Deutschland hat sich diese strategischen Fehler nur leisten können, weil die USA bereitstanden, Putin-Russland Paroli zu bieten. Die sicherheitspolitische Abhängigkeit von anderen wird bleiben. Eine deut­sche Alleinverteidigung wäre nicht nur mit prohibi­tiven Rüstungskosten verbunden; sie würde allein daran scheitern, dass Deutschland eine nukleare Abschreckungsfähigkeit bräuchte, eine solche aber ein Sprengsatz wäre für Partnerschaften und Regime wie den Nichtverbreitungsvertrag, auf die das Land existentiell angewiesen ist.

Landesverteidigung ist Deutschland nur im Mit­einander möglich, zuvorderst im Rahmen der Nato mit den USA als Rückgrat. Es wäre jedoch fahrlässig, sich darauf zu verlassen, dass diese Abdeckung weiter­hin unbegrenzt zur Verfügung stehen wird. Doch selbst dann werden Amerikas Verbündete in Europa militärisch mehr einbringen müssen. Dazu muss Deutschland maßgeblich beitragen, zumal ihm nur seine europäischen Partner eine Rückversicherung für den Fall bieten können, dass der Schutz durch die USA schwindet.

Das ist ein entscheidender, aber bei weitem nicht der einzige Grund, warum Deutschland in ein souve­ränes Europa investieren sollte. Der Bundeskanzler hat in seiner ersten Regierungserklärung verkündet: »Das Gelingen Europas ist unser wichtiges nationales Anliegen.« Er hat daran erinnert, dass »die zentrale Mission der Europäischen Union, die Wahrung des inneren Friedens Europas, nichts an ihrer Aktualität verloren« habe. »Aber dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Worum geht es heute? Wollen wir in einer Welt von bald zehn Milliarden Menschen noch vor­kommen, wollen wir gehört werden, wollen wir nicht zum Spielball fremder Mächte werden und wollen wir unseren europäischen Way of Life selbstbewusst verteidigen, dann geht das nur gemeinsam als Euro­päische Union.«83

Aus diesen Aussagen lassen sich drei Schlussfolgerungen ableiten:

  1. Souverän ist, wer kein Spielball fremder Mächte, sondern gleichrangiger Mitspieler »in einer Welt von bald zehn Milliarden Menschen« ist.

  2. Solche Souveränität gibt es nur über europäische Kollektivmacht.

  3. Ergo ist das Gelingen europäischer Souveränität Deutschlands »wichtiges nationales Anliegen«.

Für die europäische Integration gilt: Zu haben ist sie nur bei Verzicht auf nationale Autonomie. Für Deutschland und seine Nachbarn ist jedoch unverändert kein anderer Weg in Sicht, der sie gleichermaßen auf zweifache Weise verbindet: durch ihre nationalen Interessen und eine europäische Einheit in nationaler Vielfalt, die getragen wird von geteilter Geschichte, Kultur und Werten.

»Einheit in Vielfalt« heißt aber auch, dass mit den »Vereinigten Staaten von Europa« nicht zu rechnen ist. In einer Union von Nationalstaaten hat die Bereit­schaft ihrer Mitglieder, auf nationale Handlungs­freiheit zugunsten kollektiver Souveränität zu ver­zichten, engere Grenzen als in einem Bundesstaat. Wo genau sie liegen, ist jedoch nicht vorherbestimmt. Die Geschichte der europäischen Integration belegt beides: Dass die Mitgliedstaaten nicht gewillt sind, in einem europäischen Bundesstaat aufzugehen, dass sie dies aber nicht daran hindert, sich auf einen Prozess der Integration einzulassen, der Rückschläge ver­kraftet hat und noch nicht an sein Ende gekommen ist. Aus dieser Erfahrung heraus gemahnt europäischer Realismus, das Wesen der EU als eine in ihren Nationalstaaten verankerte Union nicht zu verkennen, doch gleichermaßen auch, sich des Mehrwerts von »Souveränität durch Integration« bewusst zu sein und ihn zu vergrößern.

Dafür kommt es auf Deutschland an. Seinem »wich­tigsten nationalen Anliegen« folgend sollte es massiv in die in dieser Studie dargelegte Souverä­nitätsagenda investieren. Dabei sollte es sich an zwei Leitgedanken orientieren:

1.  Deutschland muss mitführen

Führung bedeutet, in der Lage und bereit zu sein, andere Akteure zu veranlassen, zum Erreichen kol­lektiver Ziele beizutragen. Führen kann nur, wer Macht hat. In der EU kann niemand allein führen. Dem steht bereits ihre Konstruktion entgegen, die Kommission, Parlament, Europäischer Zentralbank und dem Europäischen Gerichtshof erhebliche Macht verschafft. Dennoch fallen Machtunterschiede ins Gewicht. Deutschland kann kein Hegemon sein, aber nach Demografie und Wirtschaftskraft ist es der größte Mitgliedstaat. Der damit verbundenen Ver­antwortung kann nicht ausgewichen werden, die darin liegende Chance, ein souveränes Europa mit­zugestalten, sollte genutzt werden.

Diese Mit­führungsrolle kann nicht selektiv sein.84 Für Deutschland heißt das auch, sich maßgeblich an der verteidigungspolitischen Ertüchtigung Europas zu beteiligen. Die Achillesferse europäischer Souve­ränität ist die Abhängigkeit von US-amerikanischem Schutz. Voll souverän ist nur, wer sich selbst vertei­digen kann. Die Frage ist nicht, ob Europa das könnte, sondern ob es den kollektiven Willen aufbringen kann, diese Verteidigungsfähigkeit zu erlangen. Europa würde es müssen, sollte die Verlässlichkeit der USA schwinden oder an unerträgliche Bedingungen geknüpft werden. Doch selbst wenn es so weit nicht kommt: Die USA werden mehr europäische Eigenverantwortlichkeit fordern – unter einem wiedergewählten Präsident Biden und erst recht, wenn er seinem republikanischen Gegenkandidaten unterliegt oder beide Häuser des Kongresses an die Republikaner gehen.

Die sicherheitspolitische Zeitenwende erfordert deshalb nicht nur eine veränderte Einschätzung der Bedrohung durch Russland. Sie hat eine darüber hinausgehende transatlantische und globale Dimen­sion. Aus der Perspektive der USA hat China höhere Priorität als ein zweitrangiges Russland, und weil China aus US-Sicht ein ernsthafter Rivale ist, verlangt das neben militärischen auch massive Investitionen in die eigene wirtschaftlich-technologische Basis – verbunden mit außenwirtschaftlichen Maßnahmen, die Pekings Zugriff auf kritische Technologien be­schränken. Angesichts dessen dient Europas sicherheitspolitische Ertüchtigung einem doppelten Zweck: die USA in der Nato zu entlasten, um den Zusammen­halt der Allianz zu bewahren und um das Risiko zu mindern, von ihnen für ihre China-Politik ver­ein­nahmt zu werden.

Wer mitführend handelt, muss dies zuweilen robust tun. Umso mehr kommt es darauf an, nach Maßgabe des »Kategorischen Imperativs« zu führen und den Interessen und Befindlichkeiten anderer gegenüber sensibel zu bleiben. Das kann misslingen: Die abrupte Energiewende nach Fukushima 2011, die Nord-Stream-2-Gasleitung oder der von Bundeskanzler Olaf Scholz so genannte »Doppelwumms«, das 200-Milliarden-Euro-Programm zur Bewältigung der Energiekrise – drei Beispiele, in denen es deutschen Regierungen an Fingerspitzengefühl mangelte.

2.  Deutschland muss mit Frankreich führen

Ein »Gesetz« der europäischen Integration lautet: Das vereinte Europa hätte es ohne deutsch-französische Aussöhnung nicht gegeben und ohne ein deutsch-französisches Tandem kann es nicht gedeihen. Deutschland und Frankreich können nicht allein führen, doch zusammen haben sie ein Gewicht, das nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU noch sensibler eingesetzt werden muss. Nur wenn Berlin und Paris an einem Strang ziehen, kann eine Souveränitätsagenda mit Erfolg umgesetzt werden.

Dafür müssen Deutschland und Frankreich, so wie sie es sich im »Aachener Vertrag« vom 22. Januar 2019 vorgenommen haben, auch bilateral voran­gehen. Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz haben sich in einem gemeinsamen Artikel im Januar 2023 für eine »strategische Neubelebung« der EU ausgesprochen, »die das Ziel einer europäischen Souveränität umfasst«. Dafür gibt es einen Lackmustest: Führung durch Vorbild auf nationaler wie bi­lateraler Ebene und ein Zusammenwirken auf euro­päischer Ebene. In dieser Hinsicht springt der Artikel von Macron und Scholz zu kurz: Vom »Aachener Vertrag« ist ebenso wenig die Rede wie von bilateralen Vorhaben zur vertieften Kooperation und Inte­gration von Streitkräften oder der Konkretisierung eines »deutsch-französischen Wirtschaftsraum[s] mit gemeinsamen Regeln« (Aachener Vertrag, Art. 20) – Vorhaben, die belegen würden, dass Deutschland und Frankreich es ernst meinen, indem sie bilateral in­tegrative Meilensteine setzen. Europäische Souverä­nität kann nur entstehen und zur Geltung gebracht werden, wenn Deutschland und Frankreich souverän genug sind, es gemeinsam zu wollen.

Abkürzungen

DARPA Defense Advanced Research Projects Agency

EDA European Defence Agency

EUV Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag)

EZB Europäische Zentralbank

FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung

IMF International Monetary Fund

IWF Internationaler Währungsfonds

Nato North Atlantic Treaty Organization

SZ Süddeutsche Zeitung

Eine weitere SWP-Publikation des Autors zum Thema

Eckhard Lübkemeier

Europa schaffen mit eigenen Waffen? Chancen und Risiken europäischer Selbstverteidigung

SWP-Studie 17/2020, September 2020

Endnoten

1

 »Sovereignty, though its meanings have varied across history, also has a core meaning, supreme authority within a territory«, Stanford Encyclopedia of Philosophy (online), <https://plato.stanford.edu/entries/sovereignty/> (Zugriff am 13.10.2023).

2

 Artikel 20 (2) Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

3

 Artikel 2 (1) Charta der Vereinten Nationen.

4

 Dieter Grimm, »Welche Souveränität«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 12.9.2022, S. 12.

5

 Diese Definition folgt Joseph S. Nye, Jr., Bound to Lead: The Changing Nature of American Power, New York 1990, S. 25f.

6

 »Macht hat in gewissem Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen«, Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, 3. Aufl., Freiburg im Breisgau 1973, S. 171.

7

 Johannes Wallacher (Professor für Wirtschaftsethik), zitiert in: Julia Löhr / Christoph Ehrhardt, »Mission Gas­sicherheit«, in: FAZ, 19.3.2022, S. 19.

8

 Zitiert nach Robert Roßmann, »›Nicht länger hinnehmbar‹«, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 20.11.2020, S. 6.

9

 Hans Otto Seitschek, »Souveränität, II. Politik­wissen­schaft­lich«, Staatslexikon (online), Version 8.6.2022, <www.staatslexikon-online.de/Lexikon/ Souver%C3%A4nit%C3%A4t> (Zugriff am 4.9.2023).

10

 »Das Streben nach Selbstbehauptung und Selbstbestim­mung der (West-)Europäer unter den Strukturbedingungen der Bipolarität war eine wichtige Triebkraft der Gemeinschaftsgründungen«, Barbara Lippert / Nicolai von Ondarza / Volker Perthes (Hg.), Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Februar 2019 (SWP-Studie 2/2019), S. 6, <www.swp-berlin.org/publikation/strategische-autonomie-europas>.

11

 Vgl. International Monetary Fund (IMF), Geoeconomic Fragmentation and the Future of Multilateralism, Washington, D.C., Januar 2023, S. 9, Figure 4: »The Global Economic System: 1995 vs. 2019«, <www.imf.org/en/Publications/Staff-Discussion-Notes/Issues/2023/01/11/Geo-Economic-Fragmentation-and-the-Future-of-Multilateralism-527266>; Kiel Institute for the World Economy (IWF Kiel) / Bruegel / German Institute for Economic Research (DIW Berlin), Instruments of a Strategic Foreign Economic Policy, Kiel, November 2021, S. 94, Figure 15: »Share of World GDP Captured by China, the EU and the US: 2000, 2020, and 2040«, <www.ifw-kiel.de/de/publikationen/instruments-of-a-strategic-foreign-economic-policy-26439/> (Zugriff jeweils am 13.10.2023).

12

 IMF, Geoeconomic Fragmentation [wie Fn. 11], S. 6, 10 und 23.

13

 Alice Hill, »The Age of Climate Disaster Is Here«, in: Foreign Affairs, 25.8.2023.

14

 Im »Asia Power Index« des Lowy-Instituts kommen die USA auf einen aggregierten Wert von 80,7 und China auf 72,5, was beide über die »Supermacht«-Schwelle von 70 bringt, <https://power.lowyinstitute.org/> (Zugriff am 17.5.2023).

15

 Vgl. Graham Allison et al., The Great Tech Rivalry: China vs the U.S., Washington, D.C.: Belfer Center for Science and International Affairs, 7.12.2021, S. 1–2, <www.belfercenter.org/publication/great-tech-rivalry-china-vs-us> (Zugriff am 1.9.2023).

16

 So haben sich viele dieser Staaten geweigert, sich dem Sanktionsregime anzuschließen, das unter Führung der USA gegen Russland als Reaktion auf dessen Aggression gegen die Ukraine verhängt wurde.

17

 Im Democracy Report 2023 des Göteborger V-Dem Institute heißt es zusammenfassend: »The level of democracy for the average global citizen by 2022 is back to 1986. There are more closed autocracies than liberal democracies – for the first time in more than two decades. 72% of the world’s population – 5.7 billion people – live in autocracies by 2022«, V-Dem Institute, Democracy Report 2023. Defiance in the Face of Autocratization, Göteborg, März 2023, <https://www.v-dem.net/publications/democracy-reports/> (Zugriff am 1.7.2023). »We estimate that today the autocratic world (ie, closed and electoral autocracies) accounts for over 30% of global GDP, more than double its share at the end of the cold war«, «Globalisation and Autocracy Are Locked Together. For How Much Longer?«, The Economist, 19.3.2022, S. 62.

18

 »Heute ist die EU von Instabilität und Konflikten um­geben und erlebt einen Krieg an ihren Grenzen. Wir sind mit einer gefährlichen Mischung aus bewaffneter Aggression, illegaler Annexion, fragilen Staaten, revisionistischen Mächten und autoritären Regimen konfrontiert«, Rat der Europäischen Union, Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung, Brüssel, 21.3.2022, S. 8, <https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7371-2022-INIT/de/pdf> (Zugriff am 22.7.2023).

19

 »By the 2030s the United States will, for the first time in its history, face two major nuclear powers as strategic com­petitors and potential adversaries. This will create new stresses on stability and new challenges for deterrence, assurance, arms control, and risk reduction«, U.S. Department of Defense, 2022 Nuclear Posture Review, Washington, D.C., 27.10.2023, S. 4, <https://www.defense.gov/National-Defense-Strategy/> (Zugriff am 22.6.2023).

20

 Vgl. Andrew F. Krepinevich, Jr., »A Nuclear Collision Course in South Asia. The Budding Arms Race Among China, India, and Pakistan«, in: Foreign Affairs, 26.5.2023.

21

 »America and Iran’s Nukes: Too Hot to Handle?«, in: The Economist, 3.6.2023, S. 29–31.

22

 Sönke Neitzel, »Die Welt, wie sie nicht geworden ist«, in: FAZ, 23.5.2023, S. 6.

23

 Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München 2016, S. 55.

24

 »[W]e will count on our Allies to continue assuming greater responsibility by increasing their spending, capabilities, and contributions«, The White House, National Security Strategy, Washington, D.C., 12.10.2022, S. 39, <www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2022/10/Biden-Harris-Administrations-National-Security-Strategy-10.2022.pdf> (Zugriff am 13.10.2023).

25

 »U.S. interests are best served when our European allies and partners play an active role in the Indo-Pacific, including in supporting freedom of navigation and maintaining peace and stability across the Taiwan Street«, ebd., S. 17.

26

 Rede von Bundeskanzler Scholz an der Karls-Universität am 29. August 2022 in Prag, <www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-an-der-karls-universitaet-am-29-august-2022-in-prag-2079534> (Zugriff am 13.10.2023).

27

 Rede von Bundeskanzler Scholz im Rahmen der Diskussionsreihe »This is Europe« im Europäischen Parlament am 9. Mai 2023 in Straßburg, <www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-im-rahmen-der-diskussionsreihe-this-is-europe-im-europaeischen-parlament-am-9-mai-2023-in-strassburg-2189408> (Zugriff am 13.10.2023).

28

 Diese Formulierung akzentuiert den Kontrast. Auch Sicherheit sollte möglichst kooperativ angelegt sein (etwa durch Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen), denn wenn sich beide Seiten sicher oder zumindest weniger unsicher fühlen, erhöht das die Krisenstabilität und dämpft die Konfliktträchtigkeit ihrer Beziehung. Doch wäre eine solche Stabilisierung überflüssig, gäbe es keine Bedrohung, vor der man sich schützen müsste.

29

 Die Bundesregierung, Integrierte Sicherheit für Deutschland. Nationale Sicherheitsstrategie, Berlin, Juni 2023, S. 19, <www.bundesregierung.de/breg-de/service/publikationen/ nationale-sicherheitsstrategie-2197780> (Zugriff am 13.10.2023).

30

 Rat der Europäischen Union, Ein Strategischer Kompass [wie Fn. 18], S. 47.

31

 Die Bundesregierung, Integrierte Sicherheit für Deutschland [wie Fn. 29], S. 22.

32

 Henry A. Kissinger hat dies auf den Punkt gebracht: »And no sovereign government is going to be forced to go to war against its will – no matter what the arrangement of nuclear forces and regardless of the label under which they are grouped«, The Troubled Partnership. A Re-appraisal of the Atlantic Alliance, New York 1966, S. 172. Der damalige Kontext waren Vorschläge, eine der Nato unterstellte Multilateral Force (MLF) mit Nuklearwaffen (»they«) aufzustellen.

33

 Für die USA weist die Nato einen Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 3,49 % aus, für »NATO Europe and Canada« sind es 1,74 %, siehe »Defence Expenditures of NATO Countries (2014–2023)«, NATO Press Release, 7.7.2023, <www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/ pdf/2023/7/pdf/230707-def-exp-2023-en.pdf> (Zugriff am 19.7.2023). Der Einwand, die USA seien anders als Europa eine global agierende Militärmacht, verfängt nicht: Die globale Präsenz der USA liegt auch im Interesse Europas, und dass Europa weniger in seine eigene Sicherheit in­vestiert als die USA in ihre ist nur dank US-Beistandszusage möglich.

34

 European Defence Agency (EDA), Defence Data 2020–2021, Brüssel 2022, S. 4 und 5, <https://eda.europa.eu/publications-and-data/brochures/eda-defence-data-2020-2021> (Zugriff am 22.7.2023).

35

 Vor allem bei »strategic enablers« wie strategischen Luft­transportkapazitäten, Weltraumkommunikationsmitteln, Amphibienfähigkeiten, medizinischer Ausrüstung, Cyberabwehrfähigkeiten und Fähigkeiten zur Nachrichtengewinnung, Überwachung und Aufklärung, Rat der Europäischen Union, Ein Strategischer Kompass [wie Fn. 18], S. 37.

36

 Die European Defence Agency beklagt in ihrem 2022 Coordinated Annual Review on Defence Report: »Member States implement their plans to a large extent nationally, with only 18% of all investment in defence programmes conducted in cooperation«, EDA, 2022 Coordinated Annual Review on Defence Report, Brüssel, November 2022, S. 6, <https://eda.europa.eu/docs/default-source/eda-publications/2022-card-report.pdf> (Zugriff am 22.7.2023).

37

 Die Bundesregierung, Integrierte Sicherheit für Deutschland [wie Fn. 29], S. 39.

38

 Ebd., S. 27.

39

 Winand von Petersdorff, »Zu alt, um richtig reich zu werden«, FAZ, 26.4.2023, S. 17. Am stärksten wird die Bevöl­kerung südlich der Sahara (Sub-Saharan Africa) wachsen: »The region has the lowest average per capita income in the world, the fastest demographic growth, the largest number of fragile and conflict-affected countries, and the highest vulnerability to climate change. The population is expected to grow from 1.2 billion today to 2.5 billion in 2050«, World Bank, Migrants, Refugees, and Societies. World Development Report 2023, Washington, D.C., 2023, S. 79, <www.worldbank.org/ en/publication/wdr2023> (Zugriff am 27.7.2023).

40

 Hannah Ritchie, »Who Has Contributed Most to Global CO2 Emissions?«, Our World in Data, 1.10.2019, <https://ourworldindata.org/contributed-most-global-co2> (Zugriff am 14.10.2023).

41

 Europäischer Rat, Informelle Tagung der Staats- und Regie­rungschefs. Erklärung von Versailles 10. und 11. März 2022, Versailles, 11.3.2022, <www.consilium.europa.eu/de/ press/press-releases/2022/03/11/the-versailles-declaration-10-11-03-2022/> (Zugriff am 14.10.2023).

42

 Die Bundesregierung, Integrierte Sicherheit für Deutschland [wie Fn. 29].

43

 Dazu heißt es in einer Mitteilung der Europäischen Kommission und des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik: »Mehr denn je ist diese [europäische] Sicherheit von der Fähigkeit abhängig, widerstandsfähiger zu werden und die Risiken zu verringern, die sich aus wirtschaftlichen Verflechtungen ergeben, die in den vergangenen Jahrzehnten als gutartig betrachtet wurden«, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat – Über eine »Europäische Strategie für wirtschaftliche Sicherheit«, Brüssel, 20.6.2023, S. 1
<https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri= CELEX%3A52023JC0020> (Zugriff am 18.1.2024).

44

 Europäischer Rat, Erklärung von Versailles [wie Fn. 41].

45

 Ebd.

46

 Der Binnenmarkt ist »der größte gemeinsame Markt« und »nach den USA der global zweitgrößte Wirtschafts­raum«, Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), 30 Jahre Binnenmarkt: Europas unvollendete Erfolgsgeschichte, Berlin, 16.3.2023, <https://bdi.eu/media/publikationen/#/ publikation/news/30-jahre-eu-binnenmarkt-europas-unvollendete-erfolgsgeschichte> (Zugriff am 31.7.2023). In Kombination mit ihrer Autorität als Verteidigerin der Rechts­staatlichkeit profitiert die EU vom »Brüssel-Effekt«: Die Regeln und Standards, die sie für den kaufkräftigen Binnen­markt setzt, entfalten Wirkung über Europa hinaus, weil außereuropäische Staaten und Unternehmen sie über­nehmen, um in und mit Europa Geschäfte machen zu kön­nen. Die machtverleihende Attraktivität des Binnen­markts sorgt zudem dafür, dass Europa unternehmerische Giganten wie die US-Tech-Konzerne Alphabet (Google), Amazon, Apple und Microsoft zu mehr wettbewerbs­förderlichem Verhalten bewegen kann, als es ein einzelner Mitgliedstaat könnte.

47

 Europäischer Rat, Tagung vom 24. und 25. März 2022 – Schlussfolgerungen, Brüssel, 25.3.2023, <www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/03/25/european-council-conclusions-24-25-march-2022/>; ders., Erklärung von Versailles [wie Fn. 41], sowie ders./Rat der Europäischen Union, Euro-Gipfel, 24. Juni 2022 – Wichtigste Ergebnisse, <www.consilium.europa.eu/de/meetings/ euro-summit/2022/06/24/> (Zugriff jeweils am 14.10.2023).

48

 Zu diesem Potential gehört, die Rolle des Euro im Ver­hältnis zum US-Dollar aufzuwerten. US-Finanzminister John Connally hatte 1971 die Partner der USA wissen lassen: »The dollar is our currency but your problem«, zitiert von Mohamed El-Erian, »How the Dollar’s Weakness Is the Rest of the World’s Problem«, in: Financial Times, 13.9.2017, <https://www.ft.com/content/b075ae10-96c8-11e7-b83c-9588e51488a0> (Zugriff am 2.8.2023). Das war keine grund­lose Arroganz: Der Inhaber einer Weltwährung genießt zwar Privilegien wie die Möglichkeit, sich in der eigenen Wäh­rung zu verschulden und seinen Außenhandel in ihr ab­wickeln zu können, aber das können die USA nur, weil sie eine starke Wirtschaft und einen ergiebigen Kapitalmarkt haben, die Konvertibilität des Dollars garantieren und die Rolle einer unerlässlichen, auch militärisch abgestützten Weltmacht ausüben. Da Europa das nicht hat und kann, hat der Euro bisher nicht annähernd zum US-Dollar auf­schlie­ßen können. Aber immerhin ist es gelungen, ihn als »the second most important currency in the international monetary system« zu etablieren (European Central Bank, The Inter­national Role of the Euro, Washington, D.C., Juni 2023, <https://www.ecb.europa.eu/pub/ire/html/ecb.ire202306~d334007ede.en.html#toc2> (Zugriff am 2.8.2023). Zu den »Hürden auf dem Weg zur Internationalisierung der Euro-Währung« vgl. Paweł Tokarski, Der Euro angesichts der Dollar-Dominanz. Zwischen strategischer Autonomie und struktureller Schwäche, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Oktober 2023 (SWP-Studie 11/2023).

49

 Europäischer Rat, Erklärung von Versailles [wie Fn. 41], Ziffer 21.

50

 Europäischer Rat, Tagung vom 26./27. Juni 2014 – Schlussfolgerungen, Brüssel, 27.7.2014, Anlage 1, <https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST%2079%202014%20INIT/DE/pdf> (Zugriff am 19.12.2023).

51

 Zahlen aus Othmara Glas, »Russische Röhren in Deutschland«, in: FAZ, 29.1.2022, S. 20, und Bastian Benrath, »Europa steckt in diesem Konflikt langfristig drin«, in: FAZ, 7.3.2022, S. 26.

52

 »Europäisches Gesetz zu kritischen Rohstoffen«, Europäische Kommission (online), <https://commission.europa.eu/ strategy-and-policy/priorities-2019-2024/european-green-deal/green-deal-industrial-plan/european-critical-raw-materials-act_de>. Für Deutschland vgl. das im Auftrag der Wissenschaftsplattform Klimaschutz erarbeitete Gutachten von Olivier Godart et al., Resilienz der Langfriststrategie Deutschlands zum Klimaschutz, Kiel: Kiel Institut für Weltwirtschaft, Januar 2023, <www.ifw-kiel.de/de/publikationen/resilienz-der-langfriststrategie-deutschlands-zum-klimaschutz-31769/> (Zugriff jeweils am 19.12.2023).

53

 Die Bundesregierung, Integrierte Sicherheit für Deutschland [wie Fn. 29], S. 58.

54

 Europäischer Rat, Erklärung von Versailles [wie Fn. 41], Ziffer 21.

55

 »Eingehende Überprüfungen von Bereichen mit strategischer Bedeutung für die Interessen Europas«, Europäische Kommission (online), <https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/europe-fit-digital-age/european-industrial-strategy/depth-reviews-strategic-areas-europes-interests_de> (Zugriff am 4.8.2023).

56

 European Commission, Commission Staff Working Document – Strategic Dependencies and Capacities, Brüssel, 5.5.2021, SWD (2021) 352 final, S. 11 (eigene Übersetzung), <https://commission.europa.eu/document/0a5bdf82-400d-4c9c-ad54-51766e508969_de> (Zugriff am 4.8.2023).

57

 European Commission, Commission Staff Working Document – EU Strategic Dependencies and Capacities: Second Stage of In‑depth Reviews, 22.2.2022, <https://ec.europa.eu/docsroom/ documents/48878> (Zugriff am 4.8.2023).

58

 »Despite these increases, the EU’s R&D expenditure relative to GDP remained well below the corresponding ratios recorded in Japan (3.26 %) and the United States (3.45 %), as has been the case for a lengthy period of time. On the other hand, R&D intensity in China came closer to that of the EU in 2011–2018, and in 2019 Chinese R&D expenditure was equivalent to 2.23 % of GDP, equalling the R&D intensity of the EU in 2019. In 2020, the Chinese ex­penditure stood at 2.40%«, Eurostat, R&D Expenditure, <https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?oldid=551418> (Zugriff am 4.8.2023).

59

 China ist in kurzer Zeit zur größten Handelsmacht geworden: Im Jahr 2000 lag sein Anteil am globalen Güter­handel noch unter 4 %, zwei Dekaden später, 2020, mit 13,1 % höher als der amerikanische und fast doppelt so hoch wie der deutsche Anteil von 7,2 %, Andreas Baur / Lisandra Flach, »Deutsch-chinesische Handelsbeziehungen: Wie abhängig ist Deutschland vom Reich der Mitte?«, in: ifo-Schnelldienst, 75 (2022) 4, S. 56–65, <www.ifo.de/publikationen/2022/aufsatz-zeitschrift/deutsch-chinesische-handelsbeziehungen-wie-abhaengig-ist> (Zugriff am 5.8.2023).

60

 Die Bundesregierung, China-Strategie, Berlin 2023, <www.bundesregierung.de/breg-de/service/publikationen/ china-strategie-2203504> (Zugriff am 5.8.2023). In der Bestandsaufnahme im ifo-Schnelldienst [wie Fn. 59, S. 61] findet sich eine Aufstellung »Anteil der aus China importierten Rohstoffe für die Produktion von Schlüsseltechnologien in der EU«: Bei Elektromotoren, Windturbinen, Photovoltaik und Robotik beträgt er über 50 %, bei Digitaltechnologien 41 % und Lithium-Ionen-Batterien 32 %.

61

 Notfalls auch mit der Sanktionierung von fortwährenden und vom Europäischen Gerichtshof bestätigten Ver­stößen, indem Fördergelder zurückgehalten werden. Für eine umfassende Betrachtung der Optionen, vgl. Peter Becker, Konditionalität als Instrument europäischer Governance. Typen, Ziele, Implementierung, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Mai 2022 (SWP-Studie 6/2022), <https://www.swp-berlin.org/10.18449/2022S06/>.

62

 Egon Bahr, Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicher­heit und Außenpolitik, München 1998, S. 36–37.

63

Henry A. Kissinger hat dies bereits vor beinahe einem halben Jahrhundert konzis zum Ausdruck gebracht: »Were Europe thrown on itself, it would probably unite sufficiently to assure its security. It clearly has the potential to do so«, The Troubled Partnership [wie Fn. 32], S. 238.

64

 Eckhard Lübkemeier, Europa schaffen mit eigenen Waffen? Chancen und Risiken europäischer Selbstverteidigung, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2020 (SWP-Studie 17/2020), <www.swp-berlin.org/10.18449/2020S17/>.

65

 Eine wünschenswerte Beteiligung der Nuklearmacht Großbritannien würde nicht zwangsläufig einen EU-Wieder­eintritt des Landes, wohl aber ein bestimmtes Maß an Wiederannäherung an und Wiederverflechtung mit der EU erfordern, die derzeit nicht absehbar sind.

66

 Rede von Bundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck zum Auftakt der 40. Interkulturellen Woche am 27. September 2015 in Mainz, <www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundespraesident-dr-h-c-joachim-gauck-798318> (Zugriff am 23.8.2023).

67

 Vgl. Andreas Baur / Lisandra Flach, »Deutsch-chinesische Handelsbeziehungen: Wie abhängig ist Deutschland vom Reich der Mitte?«, in: ifo-Schnelldienst, 75 (2022) 4, S. 60, <www.ifo.de/publikationen/2022/zeitschrift-einzelheft/ifo-schnelldienst-042022-bilanz-ampel-koalition> (Zugriff am 24.8.2023).

68

 Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises an Staatspräsident Emmanuel Macron am 10. Mai 2018 in Aachen, <www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-1122402> (Zugriff am 24.08.2023).

69

 Die Bundesregierung, Integrierte Sicherheit für Deutschland [wie Fn. 29], S. 12.

70

 Vgl. das Kapitel »Motivation«.

71

 Europäischer Rat, Tagung vom 15. Dezember 2022 – Schlussfolgerungen, Brüssel, 15.12.2022, <https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/12/15/european-council-conclusions-15-december-2022/> (Zugriff am 26.8.2023).

72

 Für The Economist ist DARPA »the agency that shaped the modern world«: »Moderna’s COVID-19 vaccine sits alongside weather satellites, GPS, drones, stealth technology, voice interfaces, the personal computer and the internet on the list of innovations for which DARPA can claim at least partial credit«, »A Growing Number of Governments Hope to Clone America’s DARPA«, The Economist, 5.6.2021. In der National Security Strategy [wie Fn. 24] der USA heißt es: »Stra­te­gic public investment is the backbone of a strong industrial and innovation base in the 21st century global economy« (S. 14).

73

 Europäischer Rat, Erklärung von Versailles [wie Fn. 41].

74

 Vgl. Agathe Demarais, »What Does ›De-Risking‹ Actually Mean?«, Foreign Policy (online) 23.8.2023, <https://foreignpolicy.com/2023/08/23/derisking-us-china-biden-decoupling-technology-supply-chains-semiconductors-chips-ira-trade/> (Zugriff am 27.8.2023).

75

 Die Bundesregierung, Integrierte Sicherheit für Deutschland [wie Fn. 29], S. 54.

76

 Baur / Flach, »Deutsch-chinesische Handelsbeziehungen« [wie Fn. 59], S. 58.

77

 Die Bundesregierung, Integrierte Sicherheit für Deutschland [wie Fn. 29], S. 56.

78

 Anders als es zum Beispiel Deutschland im Falle von Nord Stream 2 gemacht hat.

79

 Für einen umfassenden Überblick vgl. Sailing on High Seas: Reforming and Enlarging the EU for the 21st Century. Report of the Franco-German Working Group on EU Institutional Reform, Paris/Berlin, 18.9.2023, <https://institutdelors.eu/en/publications/sailing-on-high-seas-reforming-and-enlarging-the-eu-for-the-21st-century/> (Zugriff am 14.10.2023).

80

 Rede von Bundeskanzler Scholz an der Karls-Universität am 29. August 2022 in Prag [wie Fn. 26].

81

 Frank Schimmelfennig / Funda Tekin, »Die differenzierte Integration und die Zukunft der Europäischen Union: Kon­solidierung, Krisen und Erweiterung«, in: Integration, (2023) 2, S. 94, <https://iep-berlin.de/de/projekte/zukunft-der-europaischen-integration/integration/integration-02-23/> (Zugriff am 29.8.2023).

82

 Andreas Kilb, »Alle diese Staaten waren Bösewichte. Gespräch mit dem Historiker Christopher Clark«, FAZ (online), 28.7.2014.

83

 Die Bundesregierung, Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag am 15. Dezember 2021 in Berlin, <https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-1992008> (Zugriff am 1.9.2023).

84

 Zum Konzept der Mit-Führung und Deutschlands Rolle vgl. Eckhard Lübkemeier, Führung ist wie Liebe. Warum Mit-Führung in Europa notwendig ist und wer sie leisten kann, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2007 (SWP-Studie 30/2007), <www.swp-berlin.org/publikation/mit-fuehrung-in-und-fuer-europa/>.

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